Wiesbaden, Kantine in der Dostoejwskistraße (Bild: Karin Berkemann)

Ausgelegt für große Mengen: die Soehnle-Waage in der Kantine des Wiesbadener Behördenzentrums (Bild: K. Berkemann)

Manchmal sagt ein Gegenstand aus der alltäglichen Nutzung mehr über einen Bau als eine lange kunsthistorische Beschreibung. Spiegelt er doch, mit welchem Leben die Menschen hier den hehren Architektenentwurf füllen. Ob sie das Angebot angenommen oder abgelehnt haben, ob sie sich regenerieren oder amüsieren wollen. In der Kantine des Wiesbadener Behördenzentrums, die das dortige Staatsbauamt (v. a. Hans-Peter Scholz) 1976 bis 1977 gestaltete, ist es eine Soehnle-Waage.

Das Präzisionsinstrument ist ausgelegt für Lebensmittelmengen bis zu einer halben Tonne. Es stellt keine komplexen kulinarischen Fragen, sondern reduziert das Leben auf zwei Alternativen: “Sperren” oder “Wägen”. Damit kommt sie der ehrgeizigen Planungsvorgabe an die Kantine entgegen, 2.000 Menschen in vier Schichten zu versorgen. Gemeint waren die Mitarbeiter des Behördenzentrums, in dessen Innenhof der kantige Kantinenbau gesetzt wurde. Beim Blick aus dem Bürofenster verhieß schon die farbenfrohe Außengestaltung, dass man hier mehr erwarten konnte als eine Sättigungsbeilage.

Mit System zum Solitär

Die vorkragende Attika, die kantigen Wasserspeier, das zurückspringende Obergeschoss, das geschlossene Dachgeschoss, vieles lässt an die traditionelle japanische Holz- und Tempelarchitektur denken. Umgeben wird der kantige Kantinenbau von den vielgeschossigen Amtsbauten des Wiesbadener Behördenzentrums Schiersteiner Berg an der Dostojewskistraße. Unterirdisch werden die Kellerräume für Küche und Lager über eine Rampe erschlossen. Das umlaufend verglaste Erdgeschoss umfasst die Speisebereiche, das zurückspringende Obergeschoss diente als Cafeteria mit Dachterrasse, das geschlossene Dachgeschoss nimmt die Haustechnik auf.

Diese Stahlbetonskelettkonstruktion mit Fertigelementen (Reckli-Strukturplatten mit dem poetischen Namen “1/10 Pellworm”) und bekiestem Umkehrdach erinnert an das ebenfalls von der Bauverwaltung entwickelte Darmstädter System (1967-74). Für die neue Hochschule auf der Darmstädter Lichtwiese hatte die Bauverwaltung das Marburger System (1964-77) weiterentwickelt: vielfach kombinierbare Betonfertigteile für eine gerasterte Architektur in Serie. In den Marburger und Darmstädter Unibauten wurden die Fachbereiche als Systembauten, die Gemeinschaftsräume jedoch als individuelle Identifikationsorte gestaltet. Ähnlich auch in Wiesbaden, wo man das Muster des Stützenrasters sogar nach außen – fast verspielt – durch verschiedenfarbige Waschbetonbodenplatten fortsetzte.

Bitte zu Tisch!

Um 1970 war der Bauaufgabe “Kantine” eine soziale, gar eine künstlerische Bedeutung zugewachsen, man denke nur an die Hamburger Spiegel-Kantine, die Verner Panton 1969 in futuristische Orangetöne tauchte. Auch in Wiesbaden griff man in den Farbtopf: (dunkle) Holzvertäfelung, gelb-/orange-, teils brauntonige “Kassettendecken”, grüntonige Akzente, Metallpaneeldecken, dunkle Fensterrahmen. In der unterirdischen Großküche ging es schlichter zu: Unsere Waage stammt von Soehnle, 1868 im baden-württembergischen Murrhardt begründet. Waagen gehören seitdem zur Kernkompetenz der Traditionsfirma. Doch während sie Küchen- und Personenwaagen durchaus dekorativ einhüllte, überzeugte sie im Gastronomiebedarf durch funktionale Formen. Sie stammen von Designern wie Rio Busse, der sich schon 1977 gegen japanische Plagiate seiner Entwürfe wehrte.

Wiesbaden, Kantinenbau (1977) im Behördenzentrum Schiersteiner Berg (Bild: Karin Berkemann)

Große Aufgaben erfordern große Schneebesen (Bild: K. Berkemann)

Damit bot die Wiesbadener Kantine beides: einen Systembau mit gut organisiertem Küchenbetrieb, aber auch farbenfrohe Erholungszonen vom Sportübungsraum im Unter- bis zur (ehemaligen) Cafeteria-Dachterrasse im Obergeschoss. Die verbeamteten Planer verstanden es bestens, aus den behördlichen Rahmenbedingungen so viel Design herauszuholen wie eben möglich: Die stylish wirkenden Deckenkassetten bestehen schlicht aus angemaltem Sperrholz, die künstlerisch daherkommende Farbgestaltung stammt wohl vom Zeichentisch des Bauamts selbst. Damit fügt sich der (bis heute kaum veränderte) Kantinenbau zu einem alltagstauglichen Gesamtkunstwerk – und ist damit der Söhnle-Waage in seinem Untergeschoss gar nicht so unähnlich. (kb, 24.10.16)

Mehr?

Beulwitz, D. v. u. a. (Bearb.), Kantine und Mensa. Planungsbeitrag zur Gemeinschaftsverpflegung, Stuttgart 1973

Kühn, G., Betriebssoziologische und psychologische Aspekte, in: Scherer, Klaus u. a. (Bearb.), Verköstigung der Mitarbeiter im Betrieb. Einführung und Kalkulation moderner Personalverpflegungssysteme (Haufe-Kundendienst 261), Freiburg/Br. 21977, S. 23-31

Dilger, T. u. a. (Bearb.), Architektur und Städtebau in Wiesbaden nach 1945. Ein Architekturführer, Heidelberg 1995

Thoms, U., Essen in der Arbeitswelt. Das betriebliche Kantinenessen seit seiner Entstehung um 1850, in: Teuteberg, Hans Jürgen, Die Revolution am Esstisch. Neue Studien zur Nahrungskultur im 19./20. Jahrhundert (Studien zur Geschichte des Alltags 23), Wiesbaden 2004, S. 203-218

Schulze, S./Grätz, I. (Hg.), Verner Panton. Die SPIEGEL-Kantine, Ostfildern 2012

Siggelkow, I., Die Kantine, in: Siebel, W. u. a. (Hg.), Esskulturen (Kulturwissenschaften 5), Frankfurt/Main 2013, S. 5-10

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