von Monica Rüthers (16/2)

Nach Machtwechseln versuchen die neuen Herrscher jeweils, Raum und Zeit symbolisch neu zu besetzen: durch andere Gedenk- und Feiertage, durch den Sturz und die Errichtung von Denkmälern, durch die Umbenennung von Straßen, Plätzen und Einrichtungen, durch die Planung von repräsentativen Gebäuden, Ensembles und ganzen Städten. Gerade Moskau ist ein Beispiel dafür, wie wechselnde Leitbilder als Risse im Gewebe der Stadt sichtbar bleiben. Die zerklüftete Stadtlandschaft lässt sich als soziales Gedächtnis deuten, wenn man sie zu lesen vermag. Zugleich widerspricht sie der Vorstellung von einer “schönen” Stadt. Angesichts der Besonderheiten der “sozialistischen Stadt” stellt sich die Frage, wie Ikonen der Architekturgeschichte, größere Ensembles und einzelne Stadien der Stadtentwicklung zu gewichten sind. Sie stehen neben älteren “historischen” Baudenkmälern, die bereits zu Sowjetzeiten geschützt und erhalten wurden.

Moskau, Ausstellungsgebäude Garage (Bild: Vladimir Jarockij)

Das Café “Jahreszeiten” wurde von Rem Koolhaas 2008 zum Museum für Gegenwartskunst  umgestaltet. Die Leiterin Darija Žukova ist auch Ehefrau von Roman Abramovič (Bild: V. Jarockij)

Machtwechsel

Krim, Ferienlager, Artek, 1985 (Bild: RIA Novosti archive image #171678, Vladimir Fedorenko, CC BY SA 3.0)

Auf der Krim wird das Ferienlager Artek, hier im Jahr 1985, aktuell entrümpelt, restauriert, aber auch erweitert und verändert (Bild/Titelmotiv: RIA Novosti archive, image #171678, Vladimir Fedorenko, CC BY SA 3.0)

Bei der “Wahrung des historischen Erbes” prallen – auch und gerade in Moskau – viele Akteure, gewachsene Institutionen, Kompetenzen und Traditionen mit unterschiedlichen individuellen und öffentlichen, ideellen und finanziellen Interessen aufeinander. Aus der sowjetischen Tradition heraus identifiziert Efim Freidine zwei Haltungen, die auch die russischen Debatten prägen: die Bewahrung historischer Bauten und Ensembles als dynamische Prozesse, die sich mit ihren Kontexten verändern einerseits und die Restauration historischer Objekte in einen bestimmten “ursprünglichen” Zustand andererseits. Allerdings bestimmten seit den 1990er Jahren in Moskau weniger denkmalpflegerische Konzepte als vielmehr die Immobilienpreise und die Korruption über das Schicksal historischer Substanz. In letzter Zeit spielt die Politik wiederum die entscheidende Rolle.

Aktuelle Identitätsbedürfnisse zeigen sich an den Baudenkmälern, die saniert werden: der Gor’ki Park und die VDNCh (“vystavka dostiženii narodnogo chozjajstva SSSR”, Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR) in Moskau sowie neuerdings das berühmte Ferienlager Artek auf der Krim. Diese Areale sind klassische stalinistische Heterotopien, perfekte Orte, an denen bereits in der sowjetischen Gegenwart die lichte Zukunft genossen werden konnte. Heute erinnern sie an vergangene Macht und Größe in Verbindung mit Freizeit und Vergnügen. Die Anlagen werden unter der Fahne des Denkmalschutzes derzeit feinsäuberlich aktualisiert, entrümpelt, restauriert, aber auch um angrenzende Areale erweitert und verändert.

Neue Räume für neue Menschen

Nach der Oktoberrevolution sollte die Sowjetunion ins Industriezeitalter katapultiert werden. Die Utopie des Neuen Menschen und der Neuen Gesellschaft entsprach den Projekten der Neuen Stadt. Die Kreativen aller Länder vereinigten sich um die Hot Spots der Modernisierung wie die Motten um das Licht. Doch Planung war das eine, Umsetzung das andere. Der Schwerpunkt lag auf der Industrialisierung und den dafür nötigen Infrastrukturen, nicht auf dem Städtebau. So blieb die erste Phase von Signalbauten geprägt, die oft neue Funktionen verkörperten, wie Arbeiterclubs und Kommunehäuser. Die vereinzelten modernistischen Projekte blieben eine Randerscheinung. Die wenigen Kommunehäuser waren noch im Bau, als sich der politische Wechsel zum Stalinismus bereits vollzog.

Es gab zwar eine Kampagne gegen den so genannten Formalismus und eine Ächtung mancher KünstlerInnen und ihrer Werke, aber keinen Bildersturm gegen die konstruktivistischen Bauten. Das hätte man sich angesichts der Not gar nicht leisten können. Die Propaganda konzentrierte sich auf repräsentative neoklassizistische Bauten und Infrastruktur. Die konstruktivistischen Gebäude wurden weiterhin (um-)genutzt und weitergebaut.

Großprojekte der Stalinzeit

Moskau, Metrostation Majakovskaja (Bild: Andrey Kryuchenko, CC BY SA 3.0)

Die prunkvolle Moskauer Metro, hier die 1938 eingeweihte Station Majakovskaja, zählte zu den Vorzeigeprojekten der jungen Sowjetunion (Bild: Andrey Kryuchenko, CC BY SA 3.0)

Repräsentative Großprojekte prägten die 1930er Jahre: Ausstellungen, Stadtneu- oder Umbauten, die Metro, Regierungsgebäude, Ferienlager und Sanatorien. Diese teuren Prestigeobjekte wurden intensiv beworben und wirkten identitätsstiftend. Nach Stalins Tod 1953 wendete sich das Blatt. Schon 1954 verkündete Nikita Chruščëv beim Architektenkongress, dass nun einfach, günstig und schnell gebaut werden sollte. Neubauviertel prägten zunehmend das Bild sowjetischer Städte. Die Erneuerung des Sozialismus nach Stalin besann sich auf die Werte der Oktoberrevolution und rehabilitierte die Avantgarde der 1920er Jahre.

Doch die Bauten der Stalinzeit waren so monumental präsent und so sehr mit den Attributen des Guten, Schönen und Wahren belegt, dass auch der durch die Geheimrede 1956 eingeleitete Bildersturm nur Stalin und seine engsten Mitstreiter betraf. Die Prestigeobjekte wirkten zwar im Original, viel wichtiger war aber, wie man sie im Bild, auf Postkarten, Briefmarken, in Filmen und in der Presse verbreitete. Unliebsam gewordene Gebäude wurden aus dieser Öffentlichkeit so weit wie möglich ausgeblendet, sie verschwanden von Briefmarken und Postkarten.

Nach dem Ende

Die 1990er Jahre waren ein einziger Siegestaumel des spätkapitalistischen Triumphs über den Kommunismus, auf den die marktwirtschaftliche Unordnung folgte. Die Oktoberrevolution hatte die Privatparzelle abgeschafft und damit der Stadtplanung einmalige, wenn auch durch knappe Ressourcen eingeschränkte Möglichkeiten eröffnet. Nun schuf die Privatisierung nicht des Bodens, aber der Wohnungen und Betriebe ganz neue Verhältnisse. In Provinzstädten fiel diese Entwicklung zusammen mit Sanierungsbedarf, Kapitalmangel und nachholender Deindustrialisierung.

In Moskau hingegen, nach wie vor als repräsentative Hauptstadt abgekoppelt vom Hinterland, explodierten seit Mitte der 1990er Jahre die Immobilienpreise. Neue Formen der Kriminalität wie die berüchtigten “Wohnungsmorde” griffen um sich. Jeder Immobilienboom gefährdet die Bausubstanz – und in Moskau war Nina Baturina, die Frau des Bürgermeisters Jurij Lužkov, die größte Immobilien- und Bauunternehmerin. Die ausufernde Korruption schreckte jedoch zunehmend Investoren ab, weil die Renditen darunter litten.

“Retromania”

Byelyaevo forever!

“Byelyaevo forever!” – ein Buchtitel wurde zum Innbegriff einer neuen – auch denkmalpflegerischen – Wertschätzung für die sozialistische Moderne gefeiert

In Fachkreisen, an Hochschulen und auf Konferenzen herrscht in den letzten Jahren “retromania” (Simon Reynolds): Die sozialistische Moderne der 1960er bis 1980er Jahre ist beliebt. ArchitektInnen, KünstlerInnen und Studierende sind fasziniert vom Transzendentalen, das diese Bauten ausstrahlen, vom Raster und seinen Variationen, von der Kompromisslosigkeit der “Platte” und von außergewöhnlichen Architekturen der sozialistischen Hochmoderne. Die Platte ist hip, und wer sie zu schätzen weiß, verrät wahre Kennerschaft. Aber der Funke scheint nicht auf breitere Öffentlichkeiten überzuspringen. Die Bauten sind häufig in schlechtem Zustand, wirken schmuddelig und sind dabei nicht “alt” genug, um vom Denkmalschutz wahrgenommen zu werden. Hier sind es tatsächlich die immateriellen Qualitäten, die Bedeutungen und Zuschreibungen, die über das Schicksal der Bausubstanz entscheiden. Es geht nur darum, wer die Deutungsmacht besitzt.

Literatur

Kulić, Vladimir/Mrdulaš, Maroje/Thaler, Wolfgang (Hg.), Modernism In-Between: The Mediatory Architectures of Socialist Yugoslavia, Berlin 2012.

Chaubin, Frédéric, Cosmic Communist Constructions Photographed, Köln 2011.

Bezjak, Roman, Sozialistische Moderne – Archäologie einer Zeit, hg. von Inka Schube, Hannover 2011.

Ryklin, Michail, Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt am Main 2003.

Foucault, Michel, Andere Räume, in: Stadt-Räume, hg. von Martin Wentz, Frankfurt am Main u. a. 1991, S. 65–72.

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Inhalt

LEITARTIKEL: Gedächtnis der Städte

LEITARTIKEL: Gedächtnis der Städte

Monica Rüthers liest im “zerklüfteten Gewebe” der sowjetmodernen Metropolen: Wie sind sie entstanden – und wer hat heute die Deutungsmacht?

FACHBEITRAG: May in Magnitogorsk

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Elke Pistorius sucht Spuren von Ernst May und Co: Wie das Neue Bauen an den Ural-Fluss kam – und wie es ihm dort bis heute ergangen ist.

FACHBEITRAG: Kirche wird Kulturhaus

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Katharina Sebold porträtiert einen Umbau in Zeiten des Umbruchs: von der Neuromanik über den Konstruktivismus hin zum “Stalinbarock”.

FACHBEITRAG: Pionierlager Artek

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Arne Winkelmann macht Urlaub im Stil der 1960er Jahre: in einem Ferienlager, das mit standadisierten Bauten Leichtigkeit in die Sowjetmoderne brachte.

FACHBEITRAG: Politik der Platte

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Philipp Meuser berichtet, wie Chruščëv sich der Architektur bediente: Wie der Bruch mit dem “Stalinbarock” zur Nagelprobe eines politischen Umschwungs wurde.

INTERVIEW: "Das hat mit Macht zu tun"

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Der Historiker Karl Schlögel spricht über das sozialistische Bauen: Wo es seinen Anfang nahm – und wie wir heute fast wieder im Zarismus angekommen sind.

PORTRÄT: Papierarchitekten

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Kirsten Angermann entfaltet einen Baustil, der keiner sein wollte: Wie sowjetische Architekturstudenten auf internationalen Wettbewerben glänzten.

FOTOSTRECKE: 10 x Moskau entkernt

FOTOSTRECKE: 10 x Moskau entkernt

Vladimir Jarockij zeigt umgenutzte Zeitungshäuser, Fabrikhallen, Garagen und Messepavillons: Wie die Originalsubstand auf einmal “hip” wurde.

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