Ein Foto ist unbestechlich, so der immer wieder beschworene und nicht minder häufig verworfene Mythos. Seit ihrer Erfindung vor rund 180 Jahren rangieren Lichtbilder irgendwo zwischen Kunst und Quelle. Ein im Berliner Kadmos-Verlag erschienener Sammelband sucht nachzuzeichnen, “wie Bilder Dokumente wurden”. Dabei stützen sich die Beiträge auf einen Begriff, der zwar bereits in den 1890er Jahren vereinzelt verwendet und diskutiert, aber erst in den 1920er Jahren allgemein mit der Fotografie verbunden wurde. Trotzdem könne die Kategorie “dokumentarisch”, wie die Herausgeberin Renate Wöhrer in ihrer Einleitung zusammenfasst, rückwirkend auch auf ältere Lichtbilder angewendet werden. Denn die Definition werde “in einem Zusammenspiel von Darstellungspraktiken und Begriffen permanent neu ausgehandelt”.
Das Foto ist die bessere Zeichnung
Diesem Entwicklungsprozess folgt die Publikation in vier Teilen – und damit entlang einem Zeitstrahl von der Erfindung der Fotografie Mitte des 19. bis hin zu deren künstlerischer Aneignung Ende des 20. Jahrhunderts. Zu Beginn wird herausgearbeitet, wie die Fotografie im ausgehenden 19. Jahrhundert an die Stelle der Zeichnung trat, als deren quasi automatisierte und damit vermeintlich unbestechliche Schwester. Es folgen exemplarische Studien u. a. aus der Anthropologie, Ethnologie und der erkennungsdienstlichen Praxis, als das Foto die Rolle des Papiers einnahm und ihm um 1900 hohe Beweiskraft zugeschrieben wurde. Damit wies man auch dem fotografischen Engagement der Amateure eine dokumentarische Kraft zu, die bei der wissenschaftlichen Inventarisierung einer untergehenden Historie hilfreich sein sollte.
Von der Quelle zur Kunst
Weitere Beiträge umreißen den Weg eines Dokuments durch das zunehmend professionalisierte Archiv- und Registraturwesen, in das auch die Fotografie Schritt für Schritt eingebunden wurde. Nicht umsonst waren es die 1920er Jahre, die mit der Neuen Sachlichkeit auch die “Wahrhaftigkeit” der Fotografie als künstlerischen Wert erkannten und als Stilform etablierten. In der Zusammenschau fügen sich die Einzelbeiträge zu einer kleinen Kulturgeschichte der Fotografie, mit einem besonderen Blick auf deren Rollenzuweisungen. All dies ist erhellend – nur ein großzügigerer Einsatz fotografischer Abbildungen hätte in einer derart reflektierten Beschreibung des Mediums nicht nur den Leser erfreut, sondern sicher auch zur vertieften Erkenntnis beigetragen. (kb, 18.3.19)
Titelmotiv: Der Fotograf Robert Capa im Spanischen Bürgerkrieg, Mai 1937 (Foto: Gerta Taro, PD)