von Till Schauen (24/4)
Cary Grant bezirzte Eva Marie Saint dort definitiv nicht, ebenso wenig James Bond seine Vesper, auch Hercule Poirot löste keinen einzigen Fall in der Bahnhofgaststätte. Wenn’s um subtile Spannung zwischen Kulinarik und Fortbewegung geht, wählt die Filmindustrie stets den Speisewagen – ähnlich wie wir Normalpersonen, die nur selten um Liebe, Tod und Toplevel-Spionage ringen. Zwischen Nahrungsaufnahme und Fortstreben ist das Bahnhofsrestaurant eine Notlösung, einst zähneknirschend erfunden, um einen schwunghaften Handel mit zweifelhaften Lebensmitteln auf dem Bahnsteig abzustellen: Die Leut’ haben halt Hunger, es hilft ja nix. Der Grundton des leicht Genervten unterfüttert die europäische Bahnhofsgastronomie bis heute. Wen wundert’s, Stammkundschaft entsteht nicht, kein Gast erwartet gutes Essen oder Wohlfühl-Ambiente: Du betrittst den Bahnhof, liest die heutige Verspätung von der Anzeigetafel und grummelst dich hungergetrieben zur Essbude.
Eindhoven, Centraal Station, 2006 (Bild: Experience040, CC BY 2.5)
Verspieltheiten in Eindhoven
Um diesen Aufsatz nicht völlig an schlechte Laune zu verlieren, beginnen wir unsere Reise in Eindhoven Centraal, wo wir beglückt entdecken, dass ein Bahnhofsgebäude nicht nur gut gelingen, sondern sich dezent den Jahrzehnten anpassen kann, ohne seinen Charakter zu verlieren. Eindhoven, Industriestadt in Noord-Brabant, entschied Mitte der 1950er, dass sein Bahnhof um 150 Meter verlegt werden müsse. Ein Glücksfall.
Koenraad van der Gaast (1923–1993) erhielt den Auftrag für den Neubau und lieferte 1956 ein lichtes, klares, bis heute plausibles Haus ab. Auf zeitgenössischen Ansichten wirkt der Bau beinahe einen Hauch unterkühlt, weshalb die wenigen Verspieltheiten umso stärker wirken. Empfang und Speisesaal teilen sich denselben Raum, die Trennung zwischen Durchgangs- und Verweilbereich entsteht durch Elevation. Die Gaststätte ist auf eine Tribüne über den Haupteingang gehoben, mit großer Glasfront zur Stadt, nach innen offen. Wir erklimmen die Treppe und stellen fest: So soll es sein, unser Restaurant am Ende des Fahrplans.
Eindhoven, Centraal Station, Gaststättenbereich, 1956 (Bild: Het Utrechts Archief, CC0)
Die subtile Ungemütlichkeit des Gastraums
Die wenigsten Bahnhöfe haben das Glück, von Koen van der Gaast entworfen zu sein. Deshalb stornieren wir alle Sitzplatz-Reservierungen, bestellen einen Americano, lassen den Blick über den Vorplatz schweifen und gehen auf Online-Reise. Als erster Zielpunkt empfiehlt sich Köln Hauptbahnhof, dessen Tiefebene prototypisch steht für die westeuropäische Durchreisegastronomie: eine langgestreckte Piste, gerahmt von Lamellen-Glaswänden, darin knirschende Corporate Happiness aus flotten Lifestyle-Claims und Emblemen hipper Privatröstereien, wie sie in, sagen wir, Dresden-Neustadt oder Wilhelmsburg blühen (oder wo auch immer derzeit gentrifiziert wird). Es sind Embleme versteht sich, konterkariert vom realen Leben der Personen hinterm Tresen und von einer subtilen Ungemütlichkeit im Gastraum: ein bisschen zu eng bestuhlt, akustisch ein bisschen zu aufdringlich, die Luft ein bisschen zu stickig.
So geht simulierte Willkommenskultur. Selbst in gehobenen Etablissements (die wir freilich suchen müssen) herrscht simulierte Gastlichkeit: „Sehr gern! Perfekt!“ strahlt das Personal und setzt das Gastro-Äquivalent zum Instaherzchen aus Daumen und Zeigefingern: noch mehr ausgebrannte Embleme. Zum Glück gibt*s jede Menge Alternativen, die keinen Zweifel an der bevorzugten Verzehrordnung lassen, indem sie zwei abwaschbare Tische neben den Tresen quetschen. Am liebsten aber nur Tresen, direkt hinter der Glastür: Bestell, bezahl, verzieh dich. Bahnhofsgastronomie ist wie der Bahnhof selbst auf Durchfluss optimiert: rein, raus, nächster!
Köln, Hauptbahnhof, Passage, 2008 (Bild: photobeppus, CC BY SA 2.0)
Sammelpunkte verlorener Seelen
Da geht’s dem Bahnhof wie der Tankstelle, deinem Instafeed, deiner Mietwohnung. Der Neolib-Ultrakapitalismus, seufz, seufz. Merke: Privilegiert bist du, wenn du so was noch beseufzen kannst, weil du zu denen gehörst, die zumindest durchrauschen können. Wenn wir jedoch unsere Laptop-Reise umarrangieren und „Nur Nahverkehr“ anklicken, zuckeln wir durch die Provinz und entdecken all jene Stationen, die zu unbedeutend sind für eine B-Ebene, weshalb der Kiosk vorherrscht oder gar die völlige Leere. Eventuell vorhandene Einkehrstätten sind meistens verbrettert gegen Randale und Vandalismus. Wo noch Leben ist, dienen sie als Sammelpunkt für verlorene Seelen aus der Nachbarschaft – niemand weiß warum. Womöglich verspricht die physische Nähe von Zügen ein „ich könnte auch woanders hin“? Oder es gibt in diesen abgehängten Städtchen schlicht nichts anderes, wenn man nicht auf der Parkbank hängen will … wollen wir aussteigen und nachsehen?
Lieber nicht, zu nah drängt sich mühsam gezügelte Verzweiflung an die Gleise. Im glücklichsten Fall haben die Gebäude von Provinzbahnhöfen eine tapfere Gastronomin gefunden und wurden zu lokalen Kultur-Ankern – aber als solche wenden sie sich explizit an die lokale Gemeinschaft, wollen ihre Gäste gern möglichst lange bewirten und gern erneut begrüßen, weshalb sie keine Bahnhofsrestaurants sind, sondern Restaurants in einem Haus nah am Gleis. Die Durchfluss-Logik ist ein so tief verankertes Lebensprinzip geworden, dass wir einen Bahnhof nur als Piste verstehen können. Schnell durch! Wer die Fallstricke am besten austrickst, ist Dschungelkönig. Eindhoven Centraal war anders gedacht, Postkarten aus den frühen Jahren zeigen üppige Blumenbankette, stattliche Taxis und modisch gekleidete Damen. Bahnreisen war zwar deutlich verbreiteter als später, trotzdem war das Betreten eines Bahnhofs ein Anlass, der Auftakt zu einem Aus-Flug über den Alltag.
Bahnhofs-B-Ebene, 1973, vermutlich München (Bild: Yoichi Robert Okamoto, U.S. National Archieves and Record Administration, CC0)
Ab in den Untergrund
Mit fortschreitenden 60ern mussten sich Bahnhöfe eingliedern in den allgemeinen Verkehrsfluss, weshalb alle Fußgängerei in B-Ebenen verbannt wurde. Das eröffnete Raum für den Einzelhandel nebst Speiseversorgung, weshalb das klassische Bahnhofsrestaurant eine Etage tiefer zog. Während seine Räumlichkeiten zum Schmuddelkino umgebaut wurden, passte sich das Restaurant an die Gepflogenheit einer B-Ebene an: möglichst kurz dableiben. Hier leisteten Gastroketten Pionierarbeit, verflossene Marken wie Wendy’s oder Wienerwald versprachen moderne Hungerstillung en passant.
So ist’s mehr oder weniger geblieben, wobei sich der B-Ebene (welche auch oberhalb der Gleise liegen kann, siehe Hamburg Hauptbahnhof) stets dasselbe Paradox stellt: Wie machen wir einen einladenden Eindruck und verhindern zugleich, dass die Kundschaft im Geschäft herumlungert? Die neuzeitliche Bahnhofsgaststätte tanzt auf genau diesem Grat. Derzeit übliche Lösungen sind mall-artige Gemeinschaftsräume mehrerer Anbieter mit aufgelöster Bestuhlung und aufdringlicher Akustik, gern „Markt“ genannt. Gern genommen wird auch der gute alte Kiosk, freilich im Stil der Zeit aufgepeppt in Alu-und-Nussholz-Optik und wortspieligen Namen. Dies ist der Nachfolger des B-Ebenen-Abfütterers, er hat den Vorteil der Skalierbarkeit und lässt sich auf zwei Meter Breite eindampfen. Das passt dann auf einen Bahnsteig; seine krasseste Form findet sich in Stuttgart Hauptbahnhof, diesem übelst geschundenen Knotenpunkt. Dort sind alle Masken einer Gastlichkeit gefallen; wer nicht blitzartig zahlt und geht, bekommt seine Trägheit zu spüren, gern als Knuff in die Rippen. Das ist die pure Maschine, Fritz Langs Moloch aus „Metropolis“. Dann doch lieber der einbruchssichere Automat von Gleis 7, Mannheim Hauptbahnhof.
Goch, Bahnhofsgaststätte, 2017 (Bilder. Hagen Stier)
Die Perspektiven? Mittel
Zum Glück sitzen wir im Empfangshaus von Eindhoven Centraal, das ein paar Anpassungen erfahren hat, aber keine strukturellen Eingriffe. Womöglich wird Centraal auch deshalb von der Einwohner:innenschaft noch als Ort wahrgenommen, als Haus eigener Kraft. Die Stadt ist rundum in die Höhe geschossen, aber die Rabatten sind ebenso auf dem Vorplatz geblieben wie die Gastlichkeit auf der Terrasse innen. So, der Kaffee ist getrunken, unsere Reise in Mannheim abgebrochen, der Anschlusszug entfällt. Was nehmen wir mit? Ein 1950er-Jahre-Bau im Geist der klassischen Moderne als einziger Hoffnungsanker? Tja.
Die Perspektiven sind insgesamt eher mittel – der Berliner Hauptbahnhof zeigt, dass auch Großbudgets und die Nähe zum Kanzleramt wenig Verweilenswertes hervorbringen. Sogar die Bahnhofskinos sind verschwunden, gefressen vom durchflussoptimierten Streaming. Die in diesem Heft behandelten Bahnhöfe Ludwigshafen, Köln, Braunschweig, sind stark frequentiert und voll ausgelastet. Aber sie sind nicht wirklich in der Blüte ihrer Jahre, sondern mehr denn je Durchgangsorte. Nur im Bahnhof Lindental floriert die Gastronomie in einem riesigen, vollverglasten Erker. Leider ist er aber nicht echt, sondern ein 87-fach verkleinertes Plastikmodell aus den 1960er Jahren. Ansonsten heißt es: Nimm’ dein Futter auf die Hand, das Getränk gibt’s sowieso nur in der Flasche, die trinkst du später im Zug (wenn er denn kommt). Und wo einst die Bahnhofsgaststätte war, ist heute ein Abstellraum. Oder ein Info-Counter. Der wegen chronischem Personalmangel nicht besetzt ist.
Regen, Bahnhofsrestaurant, 2019 (Bild: Ben Skála, CC BY-SA 4.0)
Schlettau/Erzgebirge, Museumsbahnhof (Bild: Kleeblatt187, CC BY SA 4.0)
Titelbild: Untermarxgrün, Gaststätte zur Haltestelle, 2018 (Bild: Aagnverglaser, CC BY SA 4.0)
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Inhalt
LEITARTIKEL: Ciao, Bahnhofsgaststätte
Jegliches hat seine Zeit – und die Ära der Bahnhofsgastronomie scheint vorbei. Till Schauen über eine bedrohte (Un-)Kultur.
FACHBEITRAG: Hauptbahnhof Ludwigshafen
Der neue Hauptbahnhof Ludwigshafen zählt zu den erstaunlichsten Knotenpunkten der alten Bundesrepublik, sagt Alexander Graf.
FACHBEITRAG: Baudenkmal in kritischer Lage
Ein Kind seiner Zeit – mit langer Vorgeschichte: Bettina Maria Brosowsky über den Hauptbahnhof Braunschweig.
FACHBEITRAG: Seit 1859 im Schatten des Doms
Historismus, Jugendstil, Moderne, Postmoderne: Ulrich Krings über die wechselvolle Geschichte des Kölner Hauptbahnhofs.
PORTRÄT: Auf nach Lindental!
Wo geht’s denn hier nach Lindental? Daniel Bartetzko über einen Bahnhof, den es gar nicht gibt. Aber eigentlich doch.
INTERVIEW: Auf Dampflok-Tour in der DDR
Der Hobby-Eisenbahnfotograf Burkhard Wollny spricht mit moderneREGIONAL über seine DDR-Touren in den 1970er/80er Jahren.
FOTOSTRECKE: Nächster Halt, Pomohausen
Als Bahn-Bauten noch etwas kosten durften: Die 1991 eingeweihte Hochgeschwindigkeitsstrecke Mannheim-Stuttgart ist von begnadeter Postmoderne gesäumt.