von Karin Berkemann (24/3)
Die Sache mit den Türmen ist kompliziert, zumindest, wenn es um Gemeinden der späten DDR-Zeit geht. Viele von ihnen bekamen gar keinen Kirchturm oder errichteten erst nachträglich einen Glockenträger oder begnügen sich bis heute mit einem der typischen Giebelkreuze. Ob es an Bescheidenheit lag, an Angst vor Repressalien oder am Verbot des SED-Staats, da scheiden sich die Erinnerungen. Für das Berliner moderneREGIONAL-Jubiläum traf Karin Berkemann Menschen, die es wissen müssen: Die Architekten Ralf Niebergall und Heinz Tellbach entwarfen um 1990 selbst Kirchen, der Designer Dieter Wendland gab dem Sonderbauprogramm in der späten DDR-Zeit ein Gesicht und mit dem Blick von heute bannte der Fotograf Louis Volkmann ein (spät-)modernes Gemeindezentrum auf Platte.
Heilig Kreuz in Halle an der Saale und St. Josef in Magdeburg-Olvenstedt – beide Kirchen wurden vor der Wende begonnen und erst danach, im Jahr 1991 geweiht (Bilder: Archiv Ralf Niebergall)
Wohin mit dem Kreuz?
Erste Kirchbauerfahrung sammelte Ralf Niebergall Ende der 1980er Jahre in Magdeburg-Olvenstedt, doch hier wartete kein unbeschriebenes Blatt auf ihn. Den Entwurf für St. Josef hatte sein Berufskollege Horst Freytag eigentlich schon 1985 erarbeitet. Als er verstarb, wurde Niebergall 1987 mit dem Makeover von Turm und Fassaden beauftragt. Wie viel Außenwirkung hier guttat, musste er damals noch ausloten, wie er im Podiumsgespräch der Berliner Jubiläumstagung berichtet: Um die richtige Größe des Turmkreuzes auszutesten, setzte er ein Modell in Originalgröße auf ein Dach, das seinem Wohnungsfenster gegenüberlag. Für die 1991 geweihte Kirche St. Josef wurden es dann gleich zwei Kreuze: eines auf dem Turm und eines auf dem Laubengang, der den Bau bis in den Stadtraum hinein verlängert.
Bei der zweiten seiner insgesamt drei Kirchen ging es für Niebergall nach Halle an der Saale. Hier sollte er den bisherigen Gottesdienstraum der Gemeinde, eigentlich eine 1966 umgenutzte Scheune, durch einen Neubau ersetzen. In den Jahren 1986/87 erstelle er einen Entwurf, den er bis 1991 mit dem VEB Baureparaturen Halle umsetzen konnte. Dieses Mal war kein markanter Turm vorgesehen, sondern ein geöffneter, fast gesprengter Giebel. Dahinter verbarg sich die Werktagskapelle, darin wurden Glocken eingebunden. Nicht zu vergessen das Bronzekreuz, dass daneben auf einer Stele aufgerichtet wurde. Das stammt von keinem Geringeren als dem Bildhauer Friedrich Press, der es 1966 für den Vorgängerbau geschaffen hatte.
Kirche Maria Regina in Bad Lauchstädt, geweiht 1994 – mit Fenstern des Glasmalers Johannes Beeck (Bilder: Archiv Ralf Niebergall)
Pomo auf dem Dorf
Der dritten und letzten Niebergall’schen Kirche, Maria Regina in Bad Lauchstädt, sieht man deutlich an: Hier konnte der Architekt mit größerer Freiheit ans Werk gehen. Zwar stand das Grundkonzept bereits 1987, aber mit der Fertigstellung sollte es bis 1994 dauern. An diesem Projekt arbeitete Ralf Niebergall zunächst noch als angestellter Architekt beim Bischöflichen Amt, in den letzten beiden Jahren bereits vom eigenen Büro aus. Der Neubau wirkt, als habe man Quader und Kuben, Zylinder und Prismen aufeinandergestapelt, die sich mit jeder neuen Perspektive zu anderen Formen zusammenfinden. In der Silhouette zeichnet sich deutlich ein Turm ab, der hier ganz ohne Kreuz auskommt.
Mit dem Turm wollte Niebergall ausdrücklich eine Brücke in die regionale Kirchbautradition schlagen und den Menschen vor Ort die Identifikation erleichtern. Damit ist eines der Merkmale gegeben, das in der aktuellen Forschung mit der Postmoderne verknüpft wird: der Rückbezug auf die Umgebung und ihre Geschichte. Mit der „Schublade“ Postmoderne hat Niebergall rückblickend kein Problem. Schon während seiner Ausbildung habe er sehr gut um die Diskussionen und Entwürfe dieser Stil- und Denkrichtung gewusst. Und so feiert der Kirchenraum auch im Inneren alles, was die Architektur der frühen 1990er Jahre ausmacht: Das geometrische Spiel mit dem Dreieck, die unbekümmerte Freude an farbintensiver Glasmalerei und aufstrebende Deckenkonstruktionen, als sei die Gotik nie zu Ende gegangen.
Aufkleber „Kirchen für neue Städte“ – Werbung für das DDR-Sonderbauprogramm (Bild: Karin Berkemann, 2024)
Aus der Stanze
Oft sind die schönsten Begegnungen die ungeplanten. Am Rand des Berliner Gesprächsabends meldete sich ein Mann mit einer Plakatrolle zu Wort. Es war Dieter Wendland, der Berliner Designer, der verantwortlich zeichnet für das Signet des Sonderbauprogramms. In diesem Abkommen erlaubte der SED-Staat eine begrenzte Anzahl von neuen Kirchenräumen – gegen Westgeld aus den BRD-Partnerkirchen. Nachdem man 1972/73 zunächst Renovierungen und „Rekonstruktionen“ in Angriff genommen hatte, konnten ab Ende der 1970er Jahre auch Neubauten in Angriff genommen werden.
Um für diese zweite Stufe des Programms zu werben, gab der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR in den 1980er Jahren verschiedene Broschüren, Plakate und Aufkleber heraus. Die Gestaltung übernahm eben jener Dieter Wendland. Neben Vorstudien und Originalplakaten hatte er auch eine Erklärung für die besondere ovale Form der wunderbar silbrigen Aufkleber im Gepäck: Sie wurden ganz pragmatisch mit einer Stanze produziert, die sonst für Lebensmitteletiketten vorgesehen war. Im Original werden diese Erinnerungen an das Sonderbauprogramm immer seltener, aber Dieter Wendland hat einige letzte Belege in seinem privaten Archiv bewahrt.
Berlin-Hellersdorf, Ev. Gemeindezentrum – der Fotograf Louis Volkmann zeigt die Fassaden einmal einladend vom Garten (links), einmal etwas hochgeknöpft von der Straße aus gesehen (Bilder: Louis Volkmann, 2024)
Am Rand der Platte
Für den evangelischen Kirchenbau der späten DDR-Zeit lohnt ein Sprung nach Ost-Berlin, an den Rand der damaligen Hauptstadt der DDR. Dort rückte das moderneREGIONAL-Jubiläum für einen Nachmittag das 1991 eingeweihte Gemeindezentrum Hellersdorf in den Mittelpunkt – in einem Workshop mit dem Papierkünstler Rokas Wille und dem Fotografen Lous Volkmann. Auch in dieser zur Wendezeit noch unvollendeten Plattenbausiedlung kam der Architekt Heinz Tellbach – damals angestellt bei der Landeskirche – ganz ohne Turm aus. Im Rückblick beschreibt er diesen Verzicht als Mischung aus protestantischer Bescheidenheit und pragmatischer Sparsamkeit. Aber auch hier gibt es einen „Ersatz“: Zur belebteren Straße hin präsentiert sich das Gemeindezentrum auf achteckigem Grundriss turmähnlich, fast abweisend, das Zeltdach wie eine Mütze tief ins Gesicht gezogen.
Zur privateren, geschützten Gartenseite hin öffnet sich der Grundriss zu einem halben Achtzehneck, das sich wie ein Kapellenkranz um den Gottesdienstraum legt. Hier wird das Dach zur Dachlandschaft mit drei großen und zwölf kleinen Gauben. Und obwohl die Gemeinde vieles am Bau mehrfach reparieren und sanieren musste, ist die Grundform bis heute erhalten geblieben. Selbst die nachträglich angebrachten Lampen wurden liebevoll entlang der sternförmig zulaufenden Decke des Kirchenraums angebracht. Die Ausstattung wurde von der Innenarchitektin Gabriele Baumann entworfen, mit den Jahren kamen etwas dezent gemusterte Glaskunst und ein expressiveres Gemälde hinzu. Nicht zu vergessen der aus Spenden finanzierte Glockenträger, der sich seit 1999 dezent an den Rand des vieleckigen Gemeindehauses schmiegt.
Berlin-Hellersdorf, Ev. Gemeindezentrum – mit dem Fotografen Louis Volkmann geht der Blick unter den zahlreich vorhandenen Gauben, über die Galerie hinweg, in den Gottesdienstraum auf achteckigem Grundriss (Bild Louis Volkmann, 2024)
Nach innen
Ob Ralf Niebergall oder Heinz Tellbach, viele Kirchen der späten DDR-Zeit haben eines gemeinsam: Sie wenden sich nach innen. Da treten markante Dach- und Giebelformen an die Stelle des traditionellen Turms. Da lag der Eingang oft an der straßenabgewandten Seite und das Leben spielte sich im Garten hinter schützenden Hecken ab. Die eigentliche Überraschung wartet oft im Kirchenraum, von verkröpften Deckenformen bis zu bedeutungsschweren Kunstwerken. Um auch bei der Beleuchtung eine besondere Wirkung erzielen zu können, werden in der DDR gekaufte oder aus der BRD geschenkte Lampen zu Gruppen gebündelt oder, wie in Halle an der Saale, vom Architekten selbst entworfen – als habe er die Turmspitze ins Trockene geholt.
Heilig Kreuz in Halle an der Saale, Blick zur Werktagskapelle – mit Nebenaltar und Bänken aus dem Vorgängerbau von 1966, die Leuchten entwarf der Architekt um 1990 eigens für diesen Raum (Bild: Archiv Ralf Niebergall)
Literatur
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Bonusbeitrag
Inhalt
LEITARTIKEL: Kann man mögen, muss man nicht
Stephanie Herold und eine emotionale Annäherung an das Alexa in Berlin.
BEITRAG: Eine Pyramide in Franken
Matthias Ludwig und das Hotel Pyramide in Fürth.
BEGEGNUNGEN: Turm oder Nicht-Turm
Ralf Niebergall, Heinz Tellbach, Dieter Wendland, Louis Volkmann, Karin Berkemann und der Kirchenbau in Wendejahren.
BEITRAG: Kunst über Hellersdorf
Niklas Irmen und das Kunstkonzept der 1990er Jahre für Berlin-Hellersdorf.
BEITRAG: Kristalliner Kulturtempel
Vera Emde und der Werdegang des Münchener Kulturzentrums Gasteig.
BEGEGNUNGEN: Moderne unter Glas
Oliver Elser, Daniel Bartetzko und Felix Koberstein uber Wahrnehmungsverschiebungen und moderne Bauten im Miniaturformat.
BEITRAG: Wider den rechten Winkel
Alina Möhrer und zwei Räume der Christengemeinschaft der 1980er und 1990er Jahre.
BEITRAG: Die letzte Dekade
Verena Pfeiffer-Kloss und die West-Berliner U-Bahn zwischen 1985 und 1995.