von Verena Pfeiffer-Kloss (24/3)
Dass man mit der Berliner U-Bahn 100 Jahre Architekturgeschichte erfahren kann, ist ein Gemeinplatz. Bekannt ist auch, dass eine Dekade aus dieser Zeitspanne, von 1985 bis 1995, noch wenig beleuchtet wurde. Führen wir beides zusammen, blickt man doch noch auf etwas recht Unbekanntes: die U-Bahnhöfe, die der damalige Baudirektor Rainer Gerhard Rümmler zwischen 1980 und 1996 für die U8 entwarf: Franz-Neumann-Platz am Schäfersee (1980–1987), Residenzstraße (1980–1987), Paracelsusbad (1982–1985), Lindauer Allee (1984–1994), Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (1978–1990), Rathaus Reinickendorf (1985–1990), Wittenau (1989–1991) und Hermannstraße (1992–1996).

Berlin, U-Bahnhof Lindauer Allee, 1984–1994, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)
Ausbau am Ende
Die zuvor genannten Bahnhöfe bilden den Abschluss von Rümmlers Werk, denn 1994 wurde er nach 45 Dienstjahren in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung pensioniert. Seine Position als Leiter der Hochbauabteilung wurde im wiedervereinigten Berlin in dieser Form nicht neu besetzt. Mit der Ära Rümmler endeten also die Zeit West-Berlins, die Entwurfstätigkeit der städtischen Verwaltung sowie – mit Ausnahme der sechs U-Bahnhöfe auf der Linie U5 (Bauzeit 1995–2020) – der Ausbau der dortigen U-Bahn.
Auch Rümmler blickte damals zurück auf „40 Jahre U-Bahnbau nach dem 2. Weltkrieg. U-Bahnbau, der sich trotz auf und ab, hervorgerufen durch Schwankungen dramatischer äußerer Einflüsse, im Westteil der Stadt verwirklichen ließ. […] Kulturelle Bewegungen, Strömungen des Zeitgeists in der Teilstadt, beeinflußten die Gestaltung“ – seine Gestaltung. Sachlich-reduziert in den 1960ern, Pop-Art in den 1970ern und erzählerisch-bildhaft in den frühen 1980ern. Und am Übergang zu den 1990ern? Wie so oft wird es an diesem Punkt schwierig und es hilft der Vergleich, der Blick auf die Brücke zwischen zwei Spielarten der Postmoderne.

Berlin, U-Bahnhof Franz-Neumann-Platz am Schäfersee, 1980–1987, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)
Der Ort über der Erde
Der „Zeitgeist“, der den 1987 eröffneten Bahnhöfen Franz-Neumann-Platz am Schäfersee (1980-87), Residenzstraße (1980–1987) und Paracelsusbad (1982–1985) zugrunde liegt, ist rasch erklärt: Rümmler entwarf seine Bahnhöfe seit Ende der 1970er Jahre entlang seines Credos vom U-Bahnhof als „unverwechselbarem Ort“: Jede Station sollte individuell, ortsbezogen, erzählerisch und mit hohem Wiedererkennungswert gestaltet sein. Bei der für 1987 geplanten Streckeneröffnung wurde diese Haltung verstärkt durch die Ansage der West-Berliner Kulturpolitik: Jeder, auch der U-Bahnbau, solle einen Beitrag zum 750. Jubiläum der Stadt im Jahr 1987 liefern.
Der Ort über der Erde und die lesbare Geschichte wurden damit zum roten Faden der drei Bahnhöfe. Für die Gestaltung des U-Bahnhofs Franz-Neumann-Platz am Schäfersee gab der dortige kleine Weiher die Inspiration. Ein großer bunter Vogel aus Keramikfliesen in der Optik früher Computerspiele fliegt die Treppenabgänge hinauf und hinunter, an den Stützen blühen Bäume, an der Hintergleiswand scheint die Sonne. Ein Tag am See in West-Berlin. Allerdings ist es ein so kleiner Teich, dass man darin nicht baden kann bzw. will.

Berlin, U-Bahnhof Residenzstraße, 1980–1987, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)
Der zeichnende Architekt
Eine Station weiter wird es nachdenklicher. Für die Hintergleiswände des U-Bahnhofs Residenzstraße hatte Rümmler die Entwicklung der historischen Mitte Berlins nachgezeichnet: im Zentrum das Stadtschloss, zwischen den Zeitschichten jeweils zwei Karyatiden, welche die Augen verdrehen – wohlwissend, dass sie den Aluminium-Architrav über ihren Köpfen nicht wirklich tragen, dass das Schloss bereits vor Jahrzehnten abgerissen worden war und dass die historische Mitte Berlins, deren Geburtstag gefeiert wurde, im anderen, im Ostteil der Stadt lag. Ironie und Ernst, ein Bahnhof, in dem Ort, Geschichte und Gegenwart der Stadt, Wünsche und Wirklichkeit, Imagination und Realität zusammentreffen.
Im U-Bahnhof Paracelsusbad, benannt nach dem darüber liegenden Schwimmbad, blickt der mittelalterliche Heilkundler Paracelsus von den weiß gefliesten Wänden. Neben ihm reihen sich Darstellungen historischer Badeszenen auf, die ebenfalls Rümmler gezeichnet hatte. Das klare Schwarz-Weiß des Bahnhofs, die tropfenförmigen Leuchten und die Wahl von Fliesen assoziieren die Reinheit von Wasser. Die Dekoration dieses Bahnhofs ist aufwändig und kleinteilig, lässt aber im Vergleich zu Residenzstraße an inhaltlicher Tiefe vermissen. Fast gewinnt man den Eindruck, das Prinzip des museal-narrativen Bahnhofs habe hier eine gewisse Beliebigkeit erreicht. Die Hintergleiswand als Leinwand des zeichnenden Architekten schien sich für Rümmler ausgereizt zu haben, Erneuerung musste her. Die Entwürfe für die weiteren U8-Bahnhöfe wurden architektonischer denn je.

Berlin, U-Bahnhof Rathaus Reinickendorf, 1985–1990, Rainer Gerhard Rümmler (Bilder: Verena Pfeiffer-Kloss)
Mehr Architektur wagen
Bei den ab 1985 entworfenen und 1994 eröffneten U-Bahnhöfen Rümmlers fällt überaus deutlich ins Auge, dass er sich an die Inkunabeln der Postmoderne anlehnte. Insbesondere am U-Bahnhof Rathaus Reinickendorf (1985–1990), wo er eine der seltenen Möglichkeiten hatte, wieder einen Eingangspavillon – und damit dreidimensionale Architektur über der Erde – zu entwerfen. Die Form des Pavillons ruft das Vanna Venturi House (Robert Venturi, 1963) in Erinnerung, der dunkelrote Ziegel die Bauten der IBA in der Südlichen Friedrichstadt. Die Mittelpassage, hier als eine leicht eingedrehte, die Symmetrie des Baus aufbrechende gläserne Röhre angelegt, wurde in den kommenden Jahren allgemein zum bestimmenden Element von Büro- und Einkaufsgebäuden. Türkis, hier in kräftiger Austonung im Kontrast zum Rot gesetzt, hatte Anfang der 1990er Jahre einen kleinen Siegeszug, von den Bauten der Architekten Baller in West-Berlin bis hin zum Interregio der DB.
Ganz als türkiser Farbraum erscheint der U-Bahnhof Lindauer Allee. Das künstlich-süße und zugleich eiskalte Türkis der Fliesen, der Wandfarbe und des Granits Andeer umhüllt die Passagier:innen. Es entsteht ein Raumeindruck, der in seiner Kühle, Ruhe und Klarheit eine beinahe sakrale Note hat. Eine architektonische Symbiose von der Erdoberfläche bis auf die Bahnsteigebene im zweiten Untergeschoss vollführt Rümmler mit dem U-Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Die offenen Pavillons gehen fließend über in die Umfriedungsmauer des Klinikgeländes (Hermann Blankenstein, erbaut 1877–1880). Rümmler übernahm dazu Blankensteins Streifenmuster aus gelben und roten Rathenower Ziegeln und akzentuierte es mit türkisfarbenen Streifen. Die Gestaltung der Zugänge und der achteckige Fahrstuhlbau weisen die damals typischen Schrägen, Pyramiden und Trapeze auf. Mit diesem U-Bahnhof zeigt Rümmler seine Wertschätzung gegenüber den regionalen historischen Bautraditionen.

Berlin, U-Bahnhof Wittenau/Wilhelmsruher Damm, 1989–1991, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)
Das historische Bild
Die Wände der Endstation Wittenau/Wilhelmsruher Damm sind mit einem abstrahierten, dunkelgrünen Blätterfries geschmückt, der Bezug nimmt zum U-Bahnhof Franz-Neumann-Platz und damit diesen Streckenabschnitt optisch abschließt. Ein Eingangsbau mit dreieckigem Fenster verbindet den U-Bahnhof mit der S-Bahn. Wärmer und spielerischer als in den drei davor liegenden Stationen, gleichzeitig in Helligkeit, Strahlkraft und Farbe gedämpft ist dieser U-Bahnhof, für dessen Gestaltung Rümmler das Wort Ruhe aus dem Stationsnamen aufgriff. Vielleicht ein Augenzwinkern auf seinen bevorstehenden Ruhestand, vielleicht eine Anspielung auf die Tatsache, dass dieser U-Bahnhof eigentlich nie der Endpunkt der U8 sein sollte. Eigentlich war immer die Verlängerung der Linie in die benachbarte Großwohnsiedlung „Märkisches Viertel“ geplant gewesen.
Zwei Jahre nach Rümmlers Pensionierung, 1996, vollendeten seine ehemaligen Mitarbeiter den U-Bahnhof Hermannstraße im Süden der U8. Als Rümmler 1993 mit dem Entwurf begann, stand er unter dem Eindruck der Ausstellung „Licht und Farbe im Berliner Untergrund“, welche die sachlichen, schlichten Bahnhöfe mit ihren intensiv leuchtenden, glasierten Keramikfliesen zeigte, die Alfred Grenander in den 1920er Jahren für die U8 entworfen hatte. Davon ausgehend, interpretierte Rümmler sein Motto vom „unverwechselbaren Ort“ neu. Er lehnte sich nicht an die Stadt über der Erde an, sondern an das historische Bild der U8. Mit resedagrüner, quadratischer Keramik für Wand und Stützen, dunkelgrauem Gussasphalt und großen, runden Leuchten entlang der Bahnsteigkante nahm er die sachlichen Vorbilder auf.

Berlin, U-Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, 1978–1990, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)
Von der zweiten in die dritte Dimension
Die letzte Dekade in Rümmlers U-Bahnarchitektur zeigt einen bemerkenswerten und zugleich subtilen Bruch. Mitte der 1980er Jahre wandte sich Rümmler einer anderen Spielart innerhalb der postmodernen Strömungen zu. Er blieb erzählerisch, ortsbezogen und geschichtsreferenziell, seine Ausdrucksformen aber wandelte er vom Bildhaften zum Abstrakten, von Malerei und Zeichnung zur Architektur. Die inhaltliche Tiefe und gestalterische Komplexität hob er von der Zwei- zur Dreidimensionalität.
Diese – noch nicht denkmalgeschützten – U-Bahnhöfe der U8 waren nicht nur die letzten U-Bahnhöfe Rainer Rümmlers, sie wurden auch die letzten U-Bahnhöfe West-Berlins. Ob sie diese Zäsur zeigen, ist eine eher spekulative Diskussion, schließlich wurden sie grundsätzlich bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entworfen. Ob sie auch die ersten der wiedervereinigten Stadt sind, müsste sich vielleicht in einer Betrachtung der 2020 eröffneten U-Bahnhöfe auf der U5 in Mitte zeigen … „All change please.“

Berlin, U-Bahnhof Paracelsusbad, 1982–1985, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)
Literatur
Rümmler, Rainer Gerhard, Gestaltung von Bahnhöfen der U-Bahnlinie 8, in: Berliner Bauwirtschaft 1994, 18, S. 386–388 (hier auch, S. 386, das Zitat im dritten Absatz dieses Beitrags).
Rundgang

Berlin, U-Bahnhof Paracelsusbad, 1982–1985, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Berlin, U-Bahnhof Franz-Neumann-Platz am Schäfersee, 1980–1987, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Berlin, U-Bahnhof Rathaus Reinickendorf, 1985–1990, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Berlin, U-Bahnhof Rathaus Reinickendorf, 1985–1990, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Berlin, U-Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, 1978–1990, Rainer Gerhard Rümmler (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)
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Bonusbeitrag
Inhalt

LEITARTIKEL: Kann man mögen, muss man nicht
Stephanie Herold und eine emotionale Annäherung an das Alexa in Berlin.

BEITRAG: Eine Pyramide in Franken
Matthias Ludwig und das Hotel Pyramide in Fürth.

BEGEGNUNGEN: Turm oder Nicht-Turm
Ralf Niebergall, Heinz Tellbach, Dieter Wendland, Louis Volkmann, Karin Berkemann und der Kirchenbau in Wendejahren.

BEITRAG: Kunst über Hellersdorf
Niklas Irmen und das Kunstkonzept der 1990er Jahre für Berlin-Hellersdorf.

BEITRAG: Kristalliner Kulturtempel
Vera Emde und der Werdegang des Münchener Kulturzentrums Gasteig.

BEGEGNUNGEN: Moderne unter Glas
Oliver Elser, Daniel Bartetzko und Felix Koberstein uber Wahrnehmungsverschiebungen und moderne Bauten im Miniaturformat.

BEITRAG: Wider den rechten Winkel
Alina Möhrer und zwei Räume der Christengemeinschaft der 1980er und 1990er Jahre.

BEITRAG: Die letzte Dekade
Verena Pfeiffer-Kloss und die West-Berliner U-Bahn zwischen 1985 und 1995.