von Alina Möhrer (24/3)
In Leipzig und Bremen errichtete die Christengemeinschaft in gut einem Jahrzehnt zwei Räume, die trotz ihrer zeitlichen und politischen Unterschiede faszinierende Einblicke in diese Baugattung liefern. Der Leipziger Gemeindesaal (1980–1982) wurde im mehrstufigen DDR-Sonderbauprogramm vom Architekten Wolfgang Friebe entworfen, während die Bremer Michael-Kirche (1990–1994) aus der Feder seines Ostberliner Berufskollegen Jens Ebert stammt. Im Folgenden werden zunächst Baugeschichte und architektonische Form untersucht und dann miteinander verglichen, um die Rolle der historischen, politischen und kulturellen Kontexte herauszuarbeiten.

Leipzig, Gemeindesaal der Christengemeinschaft, Haupteingang zur Straße (Bild: Alina Möhrer, 2023)
Leipzig: Eine lange Suche
Die 1922 gegründete Christengemeinschaft bildet eine religiöse Bewegung innerhalb des Christentums, die auf der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners beruht. Vor diesem Hintergrund pflegt sie eine eigenständige Liturgie, die sogenannte Menschenweihehandlung. In der DDR zählte die Christengemeinschaft etwa 3.000 Mitglieder, für die mit einem staatlich initiierten Sonderbauprogramm ab den 1980er Jahren mehrere Räume errichtet wurden.
In Leipzig begann die Planung für einen neuen Gemeindesaal 1978, als der Gemeinde nach langer Suche endlich ein Grundstück in der Schenkendorfstraße zugeteilt wurde. Darauf befand sich eine ruinöse Gründerzeitvilla, die saniert und zum Gemeinde- und Pfarrhaus umgenutzt werden konnte. Diese Leistung wurde 1980 mit einer Auszeichnung im Wettbewerb „Schöner unsere Städte und Gemeinden – Macht mit!“ honoriert. Zur gleichen Zeit begann auch die Planung für einen Gemeindesaal im vorderen Bereich des Grundstückes. Mit den Arbeiten wurde der Leipziger Architekt Wolfgang Friebe betraut, der die Christengemeinschaft seit seiner Studienzeit in Weimar kannte. Er erstellte alle Entwürfe in Feierabendarbeit, parallel zu seiner Beschäftigung beim Wohnungsbaukombinat Leipzig, und wurde bei der Ausführungsplanung durch seinen Berufskollegen Peter Ausprung unterstützt.

Leipzig, Gemeindesaal der Christengemeinschaft, Grundriss (links: 1) Foyer, 2) Hauptraum, 3) Altar, 4) Nebenkapelle, 5) Sakristei) und Innenraum mit Blick nach Osten (Bilder: links: Grundriss, Archiv der Gemeinde; rechts: Alina Möhrer, 2023)
Leipzig: Im Sonderbauprogramm
Der Bau sollte durch in Westdeutschland eingeworbene Spendengelder finanziert werden. Dank eines 1978 beschlossenen Valuta-Bauprogramms wurde nun auch der Neubau von Kirchen und religiösen Räumen – vorrangig in den Neubaugebieten – möglich. Der erste Entwurf Wolfgang Friebes war völlig frei und ohne Verbindung zum anthroposophischen Bauen, missfiel der Gemeinde jedoch. Um den Plan zu verbessern und an die liturgischen Anforderungen anzupassen, wurde der Göppinger Plastiker und Pfarrer Rudolf Tellmann damit beauftragt, Friebe zu beraten.
Als besondere Herausforderung stellten sich die räumlichen Gegebenheiten dar. Der Bau sollte in eine etwa 17 Meter breite Lücke zwischen zwei mehrstöckigen Gründerzeithäusern eingepasst werden. Zudem standen auf dem Grundstück zwei erhaltungswürdige Bäume. So entwickelte sich die Idee, den Grundriss am Achteck zu orientieren, um auf engem Raum verschiedene Funktionen unterzubringen. Die Anlage umfasst einen Gemeindesaal mit einem apsidialen Altarraum, einer kleinen Kapelle und einer Bühne. An den Saal auf achteckiger Grundfläche sind ein Foyer und eine Sakristei mit eigenem Eingang angegliedert. Mit einer Höhe von 6,5 Metern überragt der Gemeindesaal gut sichtbar die niedrigeren Anbauten. Der weiß verputzte Massivbau wird von einem Backsteinsockel und einem weit vorkragenden Kupferdach gerahmt. An den Nahtstellen finden sich Fensterbänder. Der Innenraum ist, wie bei Kirchen der Christengemeinschaft üblich, in einem Violett-Ton lasiert, der sich im Altarraum besonders kräftig zeigt. Am ersten Advent 1982 konnte das Gebäude der Gemeinde übergeben werden.

Berlin, Entwurf für eine Kirche in der Chausseestraße, Jens Ebert, 1988 (Bild: Bundesarchiv, BArch DL 226/1391 Bl. 105)
Berlin: Unverwirklichte Pläne
Einige Jahre später beschloss auch die Bremer Christengemeinschaft, eine Kirche zu bauen. Nach dem Kauf eines geeigneten Grundstücks am Rembertiring begann 1988 die Vorplanung. In einem geschlossenen Architekturwettbewerb überzeugte der Ostberliner Architekt Jens Ebert mit seinem Entwurf. Er war unter anderem als Mitarbeiter von Richard Paulick an der Planung für Halle-Neustadt beteiligt. Später war er im Büro für Muster- und Experimentalprojekte an der Berliner Bauakademie tätig, wo er sich in einer Gruppe um Hermann Korneli erstmals auch mit dem Kirchenbau auseinandersetzte.
Mitte der 1980er Jahre wurde Ebert mit Entwürfen für einer Kirche für die Christengemeinschaft in Berlin betraut. Dafür unternahm er eine Reise nach Westdeutschland, um sich mit der anthroposophischen Architektur vertraut zu machen. Der Bau in der Berliner Chausseestraße wurde jedoch nie realisiert, da mit der Wende 1989 die Baukosten stiegen und die Grundstücksfragen neu verhandelt werden mussten. Durch seine Anstellung bei der Bauakademie konnte Ebert 1988 zunächst nicht mit der Bremer Gemeinde zusammenarbeiten. Daher wurde das Stuttgarter Architekturbüro Witt + Schubert beauftragt, das in den 1980er Jahren bereits in Rostock einen Gemeindesaal entworfen hatte. Für Bremen konnte es jedoch keine zufriedenstellende Lösung für die Dachkonstruktion entwickeln und so übernahm 1990 wieder Ebert 1990 als freier Architekt.

Bremen, Michael-Kirche, Blick auf das Michael-Portal (Bild: Alina Möhrer, 2024)
Bremen: Vielfach gefaltet
In Bremen erreicht die eingeschossige, fast freistehende Kirche mit flachen Anbauten ihren höchsten Punkt bei etwa 17 Metern. Dennoch wirkt der weiße Putzbau mit schmalem Klinkersockel nicht übermäßig dominant, da die Trauflinie bis auf etwa 9 Meter heruntergezogen ist. Diese vielfach gefaltete Dachhaut aus Kupferblech erinnert an Eberts Entwürfe für Berlin.
Der Zugang erfolgt über einen flachen Anbau mit dem bronzenen Michael-Portal des Künstlers Peter Lampasiak. Auf das Foyer folgt der Gemeindesaal, der sich durch seine Höhe deutlich von den restlichen Baugliedern absetzt. Im Osten wird die Kirche durch eine Sakristei und eine Aufbahrungshalle ergänzt, im Kellergeschoss kommt ein Gruppenraum hinzu. Der Gemeindesaal beeindruckt vor allem durch die mehrfach geschwungene Deckenform, die ihren höchsten Punkt über dem Altar erreicht. Wie in Leipzig sind auch hier die Wände violett lasiert, wobei sich die Farbintensität zum apsidialen Altarraum hin steigert.

Bremen, Michael-Kirche, Innenraum mit Blick nach Osten (links) und Isometrie, Jens Ebert, 1990 (Bilder: links: Alina Möhrer, 2024; rechts: Gemeindearchiv)
Vergleich: Im Umbruch
Die Sakralräume der Christengemeinschaft in Leipzig und Bremen verkörpern nicht nur unterschiedliche architektonische Ansätze, sondern spiegeln auch die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche des ausgehenden 20. Jahrhunderts wider. Als frühes Ergebnis des DDR-Sonderbauprogramms ist der Leipziger Gemeindesaal vergleichsweise funktional gestaltet und am geometrischen Prinzip des Achtecks orientiert. Diese Zurückhaltung ist auch auf die politischen Rahmenbedingungen in den frühen 1980er Jahren zurückzuführen. Im Gegensatz dazu entfaltete Jens Ebert für die Michael-Kirche in Bremen eine ausgeprägt skulpturale und organische Architektur.
Bereits die Pläne für die Berliner Kirche zeugten von einer deutlich freieren Formsprache. Diese Steigerung lässt sich auf zwei Punkte zurückführen: auf ein Sonderbauprogramm, das zu diesem Zeitpunkt bereits weniger Vorschriften machte, und auf Eberts Möglichkeit, sich intensiv mit der anthroposophischen Architektur zu befassen. Ebert und Friebe agierten als Brückenbauer, die architektonische Praktiken und liturgische Bedürfnisse in verschiedenen politischen Kontexten kreativ zu verknüpfen wussten. So sind die zwei hier beschriebenen Bauten nicht nur Zeitzeugen, sondern belegen auch die fortwährende Identitätssuche der Christengemeinschaft.

Leipzig, Gemeindesaal der Christengemeinschaft, Außenansicht von Altarraum und Sakristei (Bild: Alina Möhrer, 2023)
Dank
Die Autorin dankt Kirsten Rennert aus Leipzig und Joachim Paulus aus Bremen, die ihr umfangreiches Archivmaterial zu den Kirchen zur Verfügung gestellt haben. Außerdem gilt ihr Dank Wolfgang Friebe und Walter Emmrich, die ihr darüber hinaus Fragen beantworten konnten.
Download
Bonusbeitrag
Inhalt

LEITARTIKEL: Kann man mögen, muss man nicht
Stephanie Herold und eine emotionale Annäherung an das Alexa in Berlin.

BEITRAG: Eine Pyramide in Franken
Matthias Ludwig und das Hotel Pyramide in Fürth.

BEGEGNUNGEN: Turm oder Nicht-Turm
Ralf Niebergall, Heinz Tellbach, Dieter Wendland, Louis Volkmann, Karin Berkemann und der Kirchenbau in Wendejahren.

BEITRAG: Kunst über Hellersdorf
Niklas Irmen und das Kunstkonzept der 1990er Jahre für Berlin-Hellersdorf.

BEITRAG: Kristalliner Kulturtempel
Vera Emde und der Werdegang des Münchener Kulturzentrums Gasteig.

BEGEGNUNGEN: Moderne unter Glas
Oliver Elser, Daniel Bartetzko und Felix Koberstein uber Wahrnehmungsverschiebungen und moderne Bauten im Miniaturformat.

BEITRAG: Wider den rechten Winkel
Alina Möhrer und zwei Räume der Christengemeinschaft der 1980er und 1990er Jahre.

BEITRAG: Die letzte Dekade
Verena Pfeiffer-Kloss und die West-Berliner U-Bahn zwischen 1985 und 1995.