Klinker, Kultur und Kontroversen – der Münchner Gasteig öffnete 1984 seine Türen und wurde schnell zum Zentrum für Kunst, Musik und Bildung. Doch die Idee für diesen kulturellen Knotenpunkt reifte viel früher. Bereits in den späten 1960er Jahren wuchs der Wunsch der Stadt, Räume für die Münchner Philharmoniker, die Stadtbibliothek, die Volkshochschule und weitere Institutionen unter einem Dach zu vereinen.

München, Kulturzentrum Gasteig (Bild: Vera Emde, 2023)
Kontrovers
Ab 1969 entwickelte man ein Raum- und Funktionsprogramm und auf dieser Grundlage ging der Auftrag für das außergewöhnliche Großprojekt 1975 an die Architektengemeinschaft „Raue, Rollenhagen, Lindemann und Grossmann“. Verschiedene kulturelle und soziale Institutionen mussten auf einem relativ begrenzten Grundstück durch eine klar strukturierte, überzeugende, baukünstlerische und ästhetisch ansprechende Architektur zusammengeführt werden. Nicht zuletzt sollte der Entwurf dem Raum- und Funktionsprogramm ebenso gerecht werden wie der städtebaulichen Umgebung.
Nun, die Reaktionen auf den multifunktionalen Gebäudekomplex waren kontrovers. Der Spiegel beschrieb den Gasteig 1984 als einen Fremdkörper in Haidhausen, als einen „architektonischen Schrecken“, welcher die „Strahlkraft einer Anstalt“ habe. Laut der Abendzeitung vom selben Jahr war das „Klinker-Kultur-Monster“ ein „ungeliebtes Kind“ Münchens.

München, Kulturzentrum Gasteig, Glastreppenhaus am Gasteig (Bild: Vera Emde, 2023)
Nahtlos
Die Architektur des Kulturzentrums lässt sich als monumental, aber zugleich als in sich ruhend beschreiben. Trotz des scheinbar Unmaßstäblichen handelt es sich um eine zurückhaltende Großform. Sie bleibt für den Menschen erlebbar und ruht am Isarhochufer über der Stadt. Dies wird unterstützt durch ein klares Wege- und Passagensystem des Gasteigs.
Verschiedene Durchblicke und Lichthöfe spiegeln das Konzept des „offenen Kulturhauses“ architektonisch wider. 2,5 Millionen farblich abgestufte, handgeschlagene Ziegel umhüllen das gesamte Bauwerk – außen wie innen. Die Ziegelsteinfassade wechselt mit Glaselementen und einer spannungsreich gegliederten Aluminiumfassade. Und weil Außen- und Innenraum ähnlich gestaltet sind, ergibt sich ein nahtloser Übergang zwischen beiden Bereichen.

München, Kulturzentrum Gasteig, Foyerband aus Glas (Bild: Vera Emde, 2023)
Offen
Das Wege- und Passagensystem setzt sich ebenso im Inneren des Gasteigs fort und wirkt auch hier strukturiert. Differenzierte Foyerzonen und versetzte Ebenen haben etwas Verträumtes und Verspieltes, verpackt in strukturierte Klarheit. Das Konzept des „offenen Kulturhauses“ sollte durch ein Foyerband betont werden, welches die Philharmonie mit dem Bibliotheksbereich verknüpft und so eine Art Brücke innerhalb des Gebäudes herstellt.
Dieses Foyerband kann auch als Lichtband bezeichnet werden, da es wie ein Schaufenster konzipiert ist, das die Stadtgesellschaft einlädt. So haben die Besuchenden die Möglichkeit, viele Nutzungen in Anspruch zu nehmen. Dafür müssen sie lediglich das Foyerband entlang gehen, um zur nächsten Einrichtung zu gelangen. Die Architektur sollte so in Wechselwirkung mit dem Nutzungskonzept treten.

München, Kulturzentrum Gasteig, Glashalle am Haupteingang (Bild: Vera Emde, 2023)
Kristallin
Am Haupteingang erschließt sich einer der architektonischen Höhepunkte: die Glashalle, die Licht und Weite zwischen den Ebenen lässt. Aber als prägendes Merkmal des Gasteigs gilt das 32 Meter hohe Glastreppenhaus, das stadteinwärts an der Philharmonie angesiedelt ist. Hier fängt eine Prismafaltung das Licht ein und gibt es an die Stadt wie an das Hausinnere zurück. Die Architekten selbst beschreiben das Treppenhaus wie einen Bergkristall, der in der Sonne glitzert. Wenn es im Dunkeln hell beleuchtet ist, soll es Passant:innen anziehen. Zudem soll das gläserne Treppenhaus eine Verbindung zur Orgel in der Philharmonie herstellen, sodass die Funktion an der Gebäudefassade ablesbar wird.
Beim Gasteig gehört es zum Anspruch des Hauses, verschiedene Funktionen zu beherbergen, die durch die architektonische Gestaltung in Wechselbeziehung treten können. Die Bauidee und der inhaltliche Ausdruck verbinden sich durch eine größtmögliche Offenheit und Durchlässigkeit. Dem Gasteig stehen in den nächsten Jahren große Sanierungspläne bevor, sodass die Einrichtungen seit 2021 im Sendlinger Interim HP8 unterkommen. In welcher Form das Münchner Kulturzentrum letztlich neu eröffnen wird, bleibt abzuwarten.

München, Kulturzentrum Gasteig, Eingang der Philharmonie (Bild: Vera Emde, 2023)
Literatur und Quellen
Balmert, F.-J./Kneißl, Marc, Baureferat München. Gasteig-Kulturzentrum, München 1985.
Stadtarchiv München, Gasteig-Kulturzentrum, DE-1992-PIA-ZA-1146, DE-1992-BUR-3650, DE-1992-RAW-00188, DE-1992-RAW-00194.
Seehausen, Frank/Neubert, Sigrid, Architekturfotographie der Nachkriegsmoderne, München 2018.
Hermanski, Susanne/Effern, Heiner, München. So sind die Aussichten für den neuen Gasteig, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Dezember 2023.
Münchner Kulturzentrum. Das viereckige Ei, in: Der Spiegel, 3. April 1984.
Es ist was faul am Gasteig – vieles läuft da vermufft, in: Abendzeitung, März 1984.
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Bonusbeitrag
Inhalt

LEITARTIKEL: Kann man mögen, muss man nicht
Stephanie Herold und eine emotionale Annäherung an das Alexa in Berlin.

BEITRAG: Eine Pyramide in Franken
Matthias Ludwig und das Hotel Pyramide in Fürth.

BEGEGNUNGEN: Turm oder Nicht-Turm
Ralf Niebergall, Heinz Tellbach, Dieter Wendland, Louis Volkmann, Karin Berkemann und der Kirchenbau in Wendejahren.

BEITRAG: Kunst über Hellersdorf
Niklas Irmen und das Kunstkonzept der 1990er Jahre für Berlin-Hellersdorf.

BEITRAG: Kristalliner Kulturtempel
Vera Emde und der Werdegang des Münchener Kulturzentrums Gasteig.

BEGEGNUNGEN: Moderne unter Glas
Oliver Elser, Daniel Bartetzko und Felix Koberstein uber Wahrnehmungsverschiebungen und moderne Bauten im Miniaturformat.

BEITRAG: Wider den rechten Winkel
Alina Möhrer und zwei Räume der Christengemeinschaft der 1980er und 1990er Jahre.

BEITRAG: Die letzte Dekade
Verena Pfeiffer-Kloss und die West-Berliner U-Bahn zwischen 1985 und 1995.