von Niklas Irmen (24/3)

Im Jahr 1990 trat die Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf mbH (WoGeHe) ein schweres Erbe an, denn sie übernahm die gefühlt größte Baustelle der DDR: Mehr als 4.000 der rund 42.000 Wohnungen standen noch im Rohbau, andere waren durch festgestellte Mängel nicht vermietbar – und die Außenanlagen präsentierten sich meist als öde Schlammlandschaft. Die Ost-Berliner Neubausiedlung war ein Hauptleidtragender des Untergangs der DDR. Kein Wunder also, dass die Wellen der Diskussionen hier besonders hochschlugen. Die Hinterlassenschaften des DDR-Wohnungsbauprogramms und deren allgegenwärtige Tristesse führten zu bilderstürmerischen Forderungen. Am lautesten waren sie im Westteil der Hauptstadt, wo man sogar den Rückbau der unvollendeten Wohngebiete plante.

Berlin-Hellersdorf, Skulpturengruppe Reconnaissance von Mindaugas Navakas auf dem Häuserdach an der Teupitzer Straße (Bild: Singlespeedfahrer, CC0 1.0, 2021)

Die Installation „Reconnaissance“ des litauischen Künstlers Mindaugas Navakas zieht sich entlang der Flachdächer an der Teupitzer Straße (Bild: Singlespeedfahrer, CC0 1.0, 2021)

Abriss oder Upgrade?

Sowohl dem Bundesbauministerium als auch der Senatsbauverwaltung dämmerte schon früh, dass die Ost-Berliner Großsiedlungen für die Wohnungsversorgung unverzichtbar werden sollten. Verschiedene Gutachten und Bestandsanalysen kamen zu dem Schluss, dass die Standfestigkeit des Plattenbautyps WBS 70 hier langfristig gegeben war. Daher seien die Instandsetzung, Sanierung und Modernisierung nicht nur technisch möglich, sondern sogar wirtschaftlich wünschenswert.

Vom geplanten Zentrum des Neubaugebiets errichtete man vor der Wende lediglich die SED-Kreisleitung und die Poliklinik in der Kastanienallee. Dieser fehlenden Infrastruktur begegneten der Senat von Berlin und der (damals noch existierende) Magistrat von Ost-Berlin schon 1990: Ein Wettbewerb für ein neues Hellersdorfer Zentrum wurde ausgelobt. Daran beteiligten sich über 60 Architekturbüros. Umgesetzt wurde ab 1995 der Entwurf von Brand & Böttcher: ein quadratischer Platz von 120 x 120 Metern, umstanden von einer sechsgeschossigen Blockrandbebauung mit Erdgeschoss-Arkaden. Neben Wohn- und Geschäftshäusern entstand – entlang der strahlenförmig vom Alice-Salomon-Platz abgehenden Straßen – eine innerstädtische Nutzungsmischung mit einem Einkaufszentrum, einem zweiten Rathaus, einem Kinozentrum und der Alice-Salomon-Hochschule.

Das Quartierskonzept Hellersdorf – 18 neue Quartiere mit den fünf unterschiedlichen Images (Leitmotiven): Stadt (blau), Dorf (gelb), Garten (hellgrün), Natur (dunkelgrün) und Kunst (rot) (Bildquelle: Quartierskonzept. Eine Großsiedlung wird zum Teil der Stadt, 1998. S. 29)

Das Quartierskonzept Hellersdorf – 18 neue Quartiere mit den fünf unterschiedlichen Images (Leitmotiven): Stadt (blau), Dorf (gelb), Garten (hellgrün), Natur (dunkelgrün) und Kunst (rot) (Bildquelle: Quartierskonzept. Eine Großsiedlung wird zum Teil der Stadt, hg. von der
Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf (WoGeHe), Berlin 1998, S. 29)

Sortiert nach Farben

Parallel zu den Neubauten in der „Hellen Mitte“ konzentrierte sich die landeseigene WoGeHe, die im Bezirk 1998 noch rund 26.300 Wohnungen besaß, auf den Bestand. Ziel war es, den Komplexen Wohnungsbau der DDR abzuschließen – inklusive aller möglichen Qualitätsverbesserungen in Wohnungen, Haus- und Außenanlagen. Um einer Ghettoisierung entgegenzuwirken, präsentierte die Planergemeinschaft Hannes Dubach und Urs Kohlbrenner schon im April 1993 ein Quartierskonzept für die Großsiedlung.

Das Gutachten gliederte das Neubaugebiet in 18 abgegrenzte Quartiere, unterschieden nach ihren topografischen und städtebaulichen Besonderheiten. Da bei der Erstellung von Hellersdorf alle bezirklichen Baukombinate der DDR beteiligt waren, bot die Siedlung hier im Detail eine große architektonische Vielfalt. Entsprechend sollte die weitere Aus- und Umgestaltung der Fassaden, Wohnhöfe und öffentlichen Räume nun unterschiedlichen Leitthemen folgen. Diese als „Images“ bezeichneten Leitmotive waren Kunst, Stadt, Dorf, Garten und Natur. Bis 1999 wurden sechs – in der Regel künstlerische und städtebauliche – Quartiersverfahren durchgeführt. Deren Ergebnisse realisierte jeweils ein:e leitende:r Architekturschaffende:r mit allen notwendigen Investitionen.

Berlin-Hellersdorf, Plattenbauten udn Hauseingang nahe der Riesaer Straße (Bild: Karin Berekmann, 2024)

In allen Hellersdorfer Quartieren wurden Plattenbauten und deren Hauseingänge nach der Wende mit gezielten formalen und farbigen Akzenten verstehen (Bild: Karin Berkemann, 2024)

Zündende Ideen

Direkt an der Grenze zur brandenburgischen Nachbargemeinde Eiche (Ahrensfelde), am nordwestlichen Eingang der Siedlung, liegt das Quartier Alte Hellersdorfer Straße. Es bildet das einzige von elfgeschossigen Großhöfen geprägte Gebiet von Hellersdorf. Mit einer Länge von 1,2 Kilometern in Ost-West-Richtung, mit einer Wohnungszahl von 3.600 Einheiten für rund 10.500 Menschen galt der Bereich als besonders defizitär. Daher initiierte man hier im städtebaulichen Quartierverfahren „Vom Baufeld zum Quartier“ bereits 1994 einen künstlerischen und städtebaulichen Wettbewerb. Eine bunt zusammengesetzte Steuerungsgruppe arbeitete zunächst an einer detaillierten Bestandsanalyse der städtebaulichen und sozioinfrastrukturellen Potenziale und Defizite. Anschließend wurden drei interdisziplinäre Planerteams und sechs Künstler:innen mit der Suche nach einer „zündenden Quartiersidee“ beauftragt. Eine übergeordnete Strategie sollte zur Quartiersbildung und zur Identifikation der Bewohnenden beitragen. Darüber hinaus wünschte man auch kleinteilige Maßnahmenkonzepte mit sofort umsetzbaren Interventionen.

Aus dem städtebaulichen Wettbewerb ging das Team des belgischen Architekten und Stadtplaners Lucien Kroll (1927–2022) siegreich hervor. Deren radikale Strategie der „unendlichen Umbaubarkeit“ und das Streben nach gewachsener städtischer Komplexität wurde aber schlussendlich nur in Ansätzen verwirklicht. In der Schublade blieb der wohl der spannendste Teil, die „bedarfsgerechte“ Transformation durch An- und Vorbauten, veränderte Dachlandschaft, das Abtragen und Aufstocken von Geschossen oder das Ansetzten von neuen Loggien und Balkonen – alles aus einer eigens entwickelten Komponenten-Bibliothek.

Leicht umsetzbare Maßnahmen und zeitgenössische Interventionen bei Fassaden, Hauseingängen, Loggien oder Giebeln wurden dagegen – wie in den anderen Hellersdorfer Quartieren – zügig begonnen. Für diese niederschwelligen architektonischen Interventionen erstellte Lucien Kroll ein Farbkonzept: Farbcodes für fünf Grundtöne, Farbreihen für die Straßenfassaden und ein jeweils dazu passender Farbton für die Hoffassaden. Dieses Konzept galt auch für die hölzernen Loggienverkleidungen im unregelmäßigen Wechsel mit Glas- und Streckmetallbrüstungen, für die Hauseingängen mit Rankgerüsten oder für die 16 künstlerisch gestalteten Giebelwände des Quartiers.

Mindaugas-Navaks-Konzeptsskizze-1994-Bildquelle-Vom-Baufeld-zum-Quartier-Verfahren-Workshop-Ergebnisse-1994-S.41

Der Künstler Mindaugas Navakas markiert in seiner Konzeptskizze von 1994 die Sichtachsen und die spätere Position seiner Installation entlang der Landsberger Chaussee in Berlin-Hellersdorf (Bildquelle: Vom Baufeld zum Quartier. Verfahren, Workshop, Ergebnisse, hg. von der Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf (WoGeHe), Berlin 1994, S.41)

Reconnaissance

Alle zum Quartiersverfahren eingeladenen Künstler:innen stammten aus dem Baltikum oder aus Ostdeutschland, denn hier vermutete man wohl Erfahrungen mit dem großformatigen baulichen Erbe des Sozialismus. Unter ihnen konnte sich der Litauer Mindaugas Navakas (*1952) mit der Installation „Reconnaissance“ durchsetzen. Sein Attikaschmuck aus Obelisken und Kratervasen bezog sich auf typische Elemente der historischen europäischen Stadt. Diese überführte Navakas durch die zeitgenössische Blitzform und durch farbige Profilbleche souverän in eine ironisierende Postmoderne.

Die beiden Gebäudeecken des Quartiers werden durch Obelisken betont, an die sich im Wechsel jeweils zwei Vasen und zwei Blitze anschließen. Ursprünglich wollte Navakas jede Ecke durch einen einzelnen Obelisken betonen, auf den jeweils fünf Blitze oder Vasen folgen sollten. Diese Reihung hätte im Geist der Postmoderne betont, dass Navakas die Installation als ironisches Zitat inszenierte. Die elf Meter hohen Obelisken sowie die sechs Meter hohen Vasen und Blitze platzierte man auf den Flachdächern der Fünfgeschosser entlang der beiden Quartiersecken Landsberger Chaussee/Ecke Zossener Straße und Landsberger Chaussee/Ecke Stendaler Straße. Hier markieren sie die Stadtkante von Hellersdorf und bringen, in Übersetzung ihres englischen Titels „Reconnaissance“, das Licht der Aufklärung – über den gegenüberliegenden Parkplatz des 1994 eröffneten KaufMarkts Eiche hinweg – bis weit in die Märkische Peripherie.

Mindaugas-Navaks-Konzeptsskizze-1994-Bildquelle-Vom-Baufeld-zum-Quartier-Verfahren-Workshop-Ergebnisse-1994-S.41

Die Konzeptskizze von Mindaugas Navakas aus dem Jahr 1994 zeigt noch die serielle Reihung von Blitzen und Vasen (Bildquelle: Vom Baufeld zum Quartier. Verfahren, Workshop, Ergebnisse, hg. von der Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf (WoGeHe), Berlin 1994, S.41)

Humor wider Willen

Die im Mai 1998 aufgestellten Kunstobjekte wirken heute wie ein humoristischer Umgang mit dem Thema Platte. Als Ausläufer einer sehr gegenständlichen Postmoderne ließen sie sich eigentlich eher in die 1980er Jahre zu datieren. Besonders spannend ist, dass die Hellersdorfer Attikafiguren ihre historischen Vorbilder an Größe weit übertreffen und dabei die monumentalen Überreste einer gescheiterten sozialistischen Utopie überformen. Aber nimmt man sie zusammen mit dem (unter dem Image „Kunst“) umgestalteten Quartier Alte Hellersdorfer Straße und mit dem gesamten Quartierskonzept, dann sind die postmodernen Interventionen namhafter (Bau-)Künstler:innen vor wärmegedämmter Platte längst zur wertvollen Zeitschicht herangereift.

Die Installation "Reconnaissance" des litauischen Künstlers Mindaugas Navakas zieht sich entlang der Flachdächer an der Teupitzer Straße (Bild: Bergfels, via flickr, 2017)

Die Installation „Reconnaissance“ des litauischen Künstlers Mindaugas Navakas in der Zossener Straße (Bild: Bergfels, via flickr, 2017)

Literatur

Vom Baufeld zum Quartier. Verfahren, Workshop, Ergebnisse, hg. von der Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf (WoGeHe), Berlin 1994.

Quartierskonzept. Eine Großsiedlung wird zum Teil der Stadt, hg. von der Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf (WoGeHe), Berlin 1998.

Mindaugas-Navaks-Konzeptsskizze-1994-Bildquelle-Vom-Baufeld-zum-Quartier-Verfahren-Workshop-Ergebnisse-1994-S.41

Wie die Konzeptskizze von Mindaugas Navakas aus dem Jahr 1994 dokumentiert, überhöht der Künstler Vasen und Obelisken zum postmodernen Formenzitat (Bildquelle: Vom Baufeld zum Quartier. Verfahren, Workshop, Ergebnisse, hg. von der Wohnungsbaugesellschaft Hellersdorf (WoGeHe), Berlin 1994, S.41)

Die Installation "Reconnaissance" des litauischen Künstlers Mindaugas Navakas zieht sich entlang der Flachdächer an der Teupitzer Straße (Bild: Bergfels, via flickr, 2017)

Die Installation „Reconnaissance“ des litauischen Künstlers Mindaugas Navakas in der Zossener Straße (Bild: Bergfels, via flickr, 2017)

Berlin-Hellersdorf, Skulpturengruppe Reconnaissance von Mindaugas Navakas auf dem Häuserdach an der Teupitzer Straße (Bild: Singlespeedfahrer, CC0 1.0, 2021)

Die Installation „Reconnaissance“ des litauischen Künstlers Mindaugas Navakas zieht sich entlang der Flachdächer an der Teupitzer Straße (Bild: Singlespeedfahrer, CC0 1.0, 2021)


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