von Verena Pfeiffer-Kloss (25/1)
Denk ich an Leipzig, denk ich an Typo. Denk ich an Typo in Leipzig, denk ich an das Doppel-M, das Logo der Leipziger Messe, das die Stadtbesucher:innen bereits am Hauptbahnhof auf dem Wintergartenhochhaus empfängt. Denk ich an die Leipziger Messe, denk ich an Bücher und dann fällt mir natürlich ein, dass die Leipziger Dependance der Deutschen Nationalbibliothek auf dem Gelände der Alten Messe steht und die Adresse Deutscher Platz 1 hat. Diese ruft dann unwillkürlich die Friedliche Revolution vor Augen und sogleich schimmert am gedanklichen Horizont die Bau- und Stadtgeschichte Leipzigs, die durchaus stark geprägt ist durch die DDR und durch die immensen stadtentwicklungspolitischen Anstrengungen der 1990er Jahre, der Nachwendezeit. Von den Wächterhäusern zu national beachteten Industrierevitalisierungen wie der Spinnerei über klein- bis größerteilige Eckbebauungen mittels sogenannter Keksrollen bis selbstverständlich hin zu den damals typischen Großprojekten wie, na ja, beispielsweise der Neuen Messe am nördlichen Stadtrand, die von 1992 bis 1996 durch das Architekturbüro gmp entworfen und realisiert wurde. Leipziger Geschichte, die Messe und die Architektur der Stadt stehen in einem so engen Verhältnis, sinnbildlich wie pragmatisch, wie es wohl bei kaum einer anderen Stadt der Fall ist.

Leipzig, Wintergartenhochaus am Ring mit Messe-Logo (Bild: Prolineserver, CC BY-SA 3.0)
Vom M zum Doppel-M
Ein erstes Messe-Privileg erhielt Leipzig im 12. Jahrhundert. Die Stadt lag am Kreuzungspunkt zweier bedeutender Handelswege, von Nord nach Süd an der Via Regia, von Ost nach West an der Via Imperii. Sofort entfaltete die Messetätigkeit damals eine enorme städtebauliche Wirkung, die noch heute in der Innenstadt an den großzügigen Passagen, Hofstrukturen und Messekaufhäusern erkennbar ist. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Charakter der Messe, nicht nur in Leipzig, aber dort bereits sehr früh. Statt alle Waren mitzubringen und auszulegen, begannen die Händler, nur noch Muster ihrer steigenden Anzahl an Produkten zu präsentieren. Die Messe wurde zur Mustermesse, das M zum Doppel-M. Und auch die Produkte selbst wandelten sich, sie wurden aufgrund der technologischen Entwicklungen zahlreicher, größer und benötigten entsprechend mehr Platz, den die Innenstadt nicht mehr bieten konnte.

Leipzig, Alte Messe Osttor von Erich Gruner (Bild: Frank Vincentz, CC BY-SA 3.0)
Raus aus der Innenstadt
1913/14 wurden im Südosten der Stadt, in der Nähe des Völkerschlachtdenkmals, erste große Ausstellungshallen errichtet, um Maschinen, Werkzeuge und andere technische Güter zu zeigen. An diesem Standort wurde dann 1920 die Technische Messe, heute Alte Messe genannt, gegründet und das Gelände erheblich erweitert. In dieser Zeit entstand unter anderem der wohl berühmteste Bau der Alten Messe, die Messehalle 9. Die dreischiffige Halle mit repräsentativem Portikus wurde von Carl Krämer, Oskar Pusch und dem Baubüro der Messe- und Ausstellungs-AG realisiert und beherbergte zunächst die Messeverwaltung. Das später sogenannte Achilleion, in Anlehnung an den kaiserlichen Palast auf Korfu, den Sissi bewohnt hatte, wurde auch als Großsporthalle genutzt.
Nach schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg begann 1951 der Umbau des Gebäudes zum Sowjetischen Pavillon nach Entwurf von Walter Lucas (1902–1968). Damals nach dem Vorbild von Bauten der Allunions-Landwirtschaftsausstellung des Jahres 1939 in Moskau gestaltet, inklusive einer Ruhmeshalle und dem noch heute vorhandenen Turm mit seiner markanten goldenen Spitze mit rotem Sowjetstern in rund 60 Meter Höhe, bekam der Pavillon ab 1977 seine heutige Gestalt. 2020 wurde der unter Denkmalschutz stehende Pavillon grundsaniert und beherbergt nun das Leipziger Stadtarchiv. Die wirtschaftliche und internationale Bedeutung der Leipziger Messe zu Zeiten der DDR wurde 1965 durch drei markante, 27 Meter hohe Doppel-M Skulpturen gekrönt, die die Architekten Martin Lehmann und Manfred Weigend als Stahlkonstruktionen mit Aluminiumverkleidung entworfen hatten. Vorbild war das Logo der Leipziger Messe, das der Künstler Erich Gruner (1881–1966) im Jahr 1917 entworfen hatte: Doppel-M für Muster-Messe. Heute ist noch eines dieser Portale erhalten, es ist als Denkmal geschützt und gehört fest zur Route der Tourist:innenbusse. Die Messe allerdings ist weitergezogen, noch ein Stück aus der Stadt heraus nach Norden, wo in den frühen 1990er Jahren ein komplett neues Messegelände in einer künstlichen Landschaft geschaffen wurde.

DDR-Briefmarke zur Leipziger Messe 1955 (Scan: Nightflyer, CC0 gemeinfrei)
Groß denken
Nach 1989 entfiel das staatliche Monopol, das Leipzig zu DDR-Zeiten seinen Status als Messestadt gesichert hatte. Die Konkurrenz aus dem Westen war übermächtig und die Besucher:innenzahlen der Leipziger Messe nahmen stark ab. Die neue Leipziger Messe GmbH entschied sich für eine Radikalmaßnahme und schrieb gleich nach ihrer Gründung 1991 einen Architekturwettbewerb für den Bau eines neuen Messegeländes aus, den das Hamburger Architekturbüro gmp (von Gerkan, Marg und Partner) gewann. Ganz im Stil des Großdenkens dieser Zeit entstand nach ihren Plänen und in Windeseile zwischen 1993 und 1996 ein Messe- und Kongresszentrum, das 102.500 Quadratmeter Ausstellungsfläche in fünf Hallen und einen Landschaftspark mit weiteren 30.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche umfasst. Bebaut wurde ein weitläufiges, künstlich geschaffenes, zwei Kilometer langes Tal im Niemandsland an der Autobahn nahe des Flughafens Leipzig/Halle.

Leipzig, Neue Messe aus der Vogelperspektive (Bild: Simon Waldherr, CC BY-SA 4.0)
Das Tal im Niemandsland
Den Mittelpunkt der langgestreckten Anlage bildet die bogenförmige Eingangshalle West, die mit ihrer Spannweite von 80 Metern und einer Länge von 240 Meter die größte vollverglaste Halle Europas und das Wahrzeichen der Neuen Messe ist. Sie kann von zwei Seiten betreten werden, je nachdem, ob man vom neuen Messebahnhof oder von den Parkplätzen kommt. In der Halle werden die Besucher:innenströme über ovale Glasröhren nach rechts und links in die eigentlichen Messehallen und das Kongresszentrum verteilt. Diese Bauten sind, wie die Eingangshalle, vollverglast, aber nicht als Bögen, sondern als riesenhafte Quader ausgebildet. Gesäumt werden sie von Arkadengängen, wobei die Stützen optisch in das Tragwerk übergehen, das den Fensterfronten der Obergeschosse vorgelagert ist.
Die Sichtbarkeit des Tragwerks, das Aufspannen des Glasdaches, macht auch die Ambivalenz der Eingangshalle West aus. Beim Blick auf den großen gläsernen Bogen über dem Eingang erscheint die Halle leicht, erinnert an die historischen Glashallen frühester Messearchitektur wie den Crystal Palace oder an die Hallen von Bahnhöfen des 19. Jahrhunderts, wie auch der Leipziger Hauptbahnhof einer ist. Das dichte Tragwerk aus matt gebürsteten, groben Röhren dagegen erscheint massiv und buhlt gefühlt um Dominanz, eröffnet eine Konkurrenz zu den ca. 6.500 Glasscheiben. Der Wettbewerb der Materialien wird nicht entschieden, bleibt im fast körperlich spürbaren Spannungsfeld zwischen Leichtigkeit und Schwere, Transparenz und Massivität.

Leipzig, Neue Messe Eingang Halle West, Innenarchitektur von Ian Ritchie (Bild: Mike Bonitzwald, CC BY-ND 2.0)
Großzügigkeit und Großspurigkeit
Der Londoner Architekt Ian Ritchie, der auch an der Glaspyramide des Pariser Louvre beteiligt gewesen war, gestaltete den Innenraum der Eingangshalle. Holz und Naturstein prägen die Atmosphäre, Baumreihen mit Stieleichen und Olivenbäumen sollen an die Palmengärten aus dem vorangegangenen Jahrhundert erinnern und die Fußbodenheizung ermöglicht einen immergrünen Magnolienhain. So kann man sich im Winter ein wenig in der angenehmen Wärme botanischer Gärten fühlen und in den Sommermonaten eine Verschmelzung von Innen- und Außenraum erleben, was der Halle eine in vielerlei Hinsicht großzügige Geste verleiht.
Die Weitläufigkeit der Gesamtanlage scheint dagegen im Außenraum weniger großzügig als vielmehr großspurig, sie gibt die Neue Messe unmissverständlich als ein Kind ihrer Zeit zu erkennen – und reiht sich damit in das Werk von gmp der 1990er ein. Die Messehalle in Hannover aus dem Jahr 1995, der Ende der 1990er begonnene Berliner Hauptbahnhof oder der erst kürzlich vollendete neue Berliner Flughafen BER – diese Bauten der beinahe schon illusionistisch langen Wege erwecken den Eindruck, als wollte das Büro nach dem raumeffizienten Flughafen Berlin-Tegel (1972–1974) niemals wieder kompakt bauen. Das ungemein postmoderne an der Neuen Messe Leipzig ist die Kombination unübersehbarer, klar voneinander abgegrenzter Großformen, die überwiegend aus den geometrischen Figuren gedrungenes Oval und abgeflachter Quader bestehen. Das Oval der Fassade der Eingangshalle West wird erst in der Nacht deutlich, wenn sich der von innen beleuchtete Bogen in dem flachen, rechteckigen Wasserbecken auf dem Vorplatz spiegelt und die Form visuell zusammenfügt.

Leipzig, Neue Messe bei Nacht, 2016 (Bild: Tino S., via flickr)
Ein Sinnbild der 1990er Jahre
Die Geschichte der Leipziger Messe und ihrer Architektur ist eng verbunden mit der Stadtentwicklung Leipzigs. Der wiederholte Umbau der alten Messehalle 9 zum jeweils zeitgenössischen Sowjetischen Pavillon in den 1950er und in den 1970er Jahren war ein politisches Statement. Die Neue Messe von gmp versteht sich als Fortführung dieser Bedeutungstraditionen und kann als Sinnbild gewisser Linien der 1990er Jahre gesehen werden. Das trifft zum Beispiel auf die weitgehende Ausblendung der gerade gewesenen DDR zu, die hinter den propagierten Wunschbildern eines 19. Jahrhunderts verschwand. Zu sehen an den Reminiszenzen der neuen Messelandschaft an höchstbedeutende frühere internationale Messebauten, wegweisende Glasarchitektur, Erinnerungen an Eisenbahnbau und Industrialisierung und kleinteilige Sinnlichkeiten wie exotische – koloniale! – Palmengärten oder Gewächshäuser. Das Großmachtstreben des 19. Jahrhunderts hat in den 1990er Jahren zeitweise wieder Konjunktur.
Neben dieser kulturellen Bedeutungsebene steht die Neue Messe aber vor allem eins zu eins für die Architektur der 1990er Jahre: Das riesenhafte Oval passt perfekt ins enorme Eckige, mehr Glas geht nicht, mehr Fachwerkassoziation auch nicht, die tragende Stahlrohrkonstruktion ist genau so massiv und matt gebürstet, wie sich das in den 1990ern gehörte und insgesamt scheint das Projekt mit all dem Überoptimismus dieser Zeit aufgeladen zu sein. Und doch kamen gmp nicht umhin, dem DDR-Design zumindest zwei Referenzen zu erweisen: Da ist zum einen das ikonische Doppel-M von 1917/1965, das als Kopie seinen Weg in den Norden der Stadt gefunden hat. Es prangt in einer kleineren, schwereren Form in 85 Metern Höhe an einem Turm aus Abluftröhren und wurde so funktionalistisch als Zitat in die 1990er transferiert. Zum anderen ist es das Exemplar des Messemännchens, das im Eingangsbereich der Eingangshalle West steht. Entworfen hatte es 1964 kein geringerer als der Erschaffer des DDR-Sandmännchens, Gerhard Behrendt. Vielleicht ein minibisschen Ostalgie im Licht der gläsernen 1990er, vielleicht ein Stück herziges Leipzig unter dem kühlen Dach der Nachwendezeit.

Leipzig, Messemännchen (Bild: Prolineserver, CC BY-SA 3.0)

Leipzig, Neue Messe, Aufzug, 2017 (Bild: Raoul Brosch, via flickr)

Leipzig, Neue Messe (Bild: Blackerking, CC BY-SA 3.0)
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Inhalt

LEITARTIKEL: Auf die Messe, fertig, los …
Jürgen Tietz über wiederkehrende Lust und Leid eines Messebesuchs.

FACHBEITRAG: Müthers Durchbruch auf der Ostseemesse
Dina Falbe über die Messehalle „Bauwesen und Erdöl“, die erste Hyparschalenkonstruktion von Ulrich Müther.

FACHBEITRAG: Hinter der historischen Hülle
Ira Scheibe über die Kölnmesse (1928) und ihre Umgestaltung in die Rheinhallen (2010).

FACHBEITRAG: Das kühle Dach der Nachwendezeit
Verena Pfeiffer-Kloss über den Weg der Messe Leipzig auf ihr neues Gelände.

PORTRÄT: Einzigartig und verloren
Matthias Ludwig über die gesperrte ZF-Arena Friedrichshafen.

INTERVIEW: Neu gefundene Sprachweisen von Architektur
Eckhard Gerber im Gespräch über die Neue Messe Karlsruhe (2003).

FOTOSTRECKE: Stuttgarter Ost-West-Beziehungen
Eine Bildertour durch die Messe Stuttgart (2007) und die jährlich dort stattfindende Oldtimermesse Retro Classics.