von Markus Dauß (25/4)

Im Kino treffen die Medien Film und Architektur aufeinander – was sich besonders dann intensiviert, wenn sich ihre Formensprachen annähern. Genau dies geschieht bei Kinobauten des Expressionismus, denn sie übertragen die Form- und Wirkungsprinzipien der damals prominenten Filmproduktionen in die Baukunst. Die Übereinstimmung der beiden Medien lässt sich vor allem in der ersten Hälfte der 1920er Jahre beobachten, der Hochphase des Kinos in der Weimarer Republik. Während die maßgeblichen expressionistischen Filme entstanden, boomte in der Hauptstadt auch der Bau und Betrieb von Kinos. So entstanden markante Ensembles, die als architektonischer Ausdruck des Expressionismus gelten. Versucht man jedoch, diese Überschneidung zu rekonstruieren, stößt man auf Probleme: Die jüngere Forschung betont, dass sowohl der Begriff der expressionistischen Architektur als auch der des entsprechenden Films offen und randunscharf sind. Daher empfiehlt sich hier die Konzentration auf konkrete Beispiele, in denen ein direkter Austausch zwischen dem expressionistischen Film und den Räumen zu beobachten ist, in denen er projiziert und rezipiert wurde.

Köln, "Glashaus" auf der Deutschen Werkbundausstellung, Bruno Taut, 1914, Außenbau und Kaskadenraum (Bilder: PD, via wikimedia commons, 1914)

Köln, Glashaus auf der Deutschen Werkbundausstellung, Bruno Taut, 1914, Außenbau (rechts) und Kaskadenraum (Bilder: PD, via wikimedia commons, 1914)

Erste Lichtspiele

Zunächst muss gezeigt werden, wo expressionistische Architektur und mediale Projektion erstmals wirksam zusammentrafen – wobei es sich hier noch nicht um einen Film, sondern eher um ein Lichtspiel handelte. In Bruno Tauts Glashaus sind Architektur und dynamische Lichtinszenierung miteinander verschmolzen. Der Bau wurde 1914 auf der Werkbundausstellung in Köln-Deutz präsentiert und von der Glasindustrie unterstützt. Dabei ließ sich Taut von den utopisch-fantastischen Visionen des Dichters Paul Scheerbart inspirieren: Eine vielfarbige Glasarchitektur sollte Gesellschaft und Dasein verbessern – im planetarischen Horizont, im Einklang mit kosmischen Prinzipien. Tauts Gebäude besaß eine 14 Meter hohe, doppelschalige Kuppel aus Spiegel- und Prismenglas auf achteckigem Grundriss. Getragen wurde sie von einer netzartigen Stahlbetonrippen- beziehungsweise Astkonstruktion, die schwebend wirkte. Die transluzente polychrome Hülle ließ mattes Tageslicht einströmen, das den Kuppelbereich mit allmählichen Übergängen in sanfte Farbtöne tauchte.

Im zentralen Kaskadenraum, der in die Raumschale gestellt und durch ein flach gewölbtes Oberlicht an den Kuppelraum angeschlossen war, befand sich ein künstlich beleuchtetes Wasserspiel. Das nasse Element fiel über sieben Stufen ab und wurde dabei von seitlich eingepassten Treppenabgängen flankiert. Gläserne oder keramische Ornamente mit geometrischer Struktur riefen einen zauberhaften Effekt hervor. Herzstück war eine motorisch bewegte, kaleidoskopische Projektionsapparatur, welche ein farbiges Lichtspiel auf eine milchig-matte Projektionsfläche streute. Rotierende Glasscheiben und Projektionslampen erzeugten ständig wechselnde Bilder und hüllten den Raum in eine schillernde, fast unwirkliche Atmosphäre. Hier wurde die Architektur, die durch Licht und Dynamik bestimmt war, als mediales Experiment entworfen. Tauts Glashaus war kein statisches Gebäude, sondern ein dynamischer, immateriell wirkender Organismus. Durch Licht und Transparenz entstand eine neue emotionale Raumwirkung. Die von geometrischen Kristallen inspirierte Kuppelform und die spiegelnden Oberflächen brachen Licht in unzählige Reflexe – ähnlich den verzerrten Perspektiven und dramatischen Lichtkontrasten, wie sie später den expressionistischen Film prägten.

Berlin, Großes Schauspielhaus, Hans Poelzig und Marlene Moeschke-Poelzig, 1918/19, Innenräume im Bau (Bild: Hans Poelzig, 1918/19, via wikimedia commons, 1918/19)

Berlin, Großes Schauspielhaus, Hans Poelzig und Marlene Moeschke-Poelzig, 1918/19, während der Bauarbeiten (Bild: Hans Poelzig, 1918/19, CC0 1.0, via wikimedia commons, 1918/19)

Am Set

Das Glashaus zeigte, wie mediale Effekte – hier das Kaleidoskop – die Raumwahrnehmung transformieren konnten, lange bevor der expressionistische Film ab etwa 1920 seine Hochphase erreichte. Zugleich entfaltete sich dort eine archetypische Chiffre, die auch für die späteren Filmbauten relevant wurde: die illuminierte Höhle. Der architektonische Expressionismus hatte generell ein Faible für solche Archetypen, wozu auch der Turm als Gegenfigur zur Höhle zählte. Zu dieser Metapher griff Hans Poelzig im Großen Schauspielhaus am Schiffbauerdamm und schuf im Zuschauersaal, der sogenannten Tropfsteinhöhle, im Jahr 1919 ein fast mystisches Gesamtensemble. Schon am Deutzer Rheinufer hatte Taut mit dem Glashaus die Höhlenanmutung evoziert. Durch Wassereinsatz und magische Lichtwirkung stellte er sie in die Tradition der Grotte beziehungsweise der entsprechenden Stilllage des Grotesken – sie stand für imaginäre Freiräume jenseits normativer Vorgaben.

Wie diese Räume war auch der Film nicht durch akademische Traditionen eingeengt, er hatte seine Wurzeln unter anderem in der populären Unterhaltung. Zudem war bei solchen ‚Filmhöhlen‘, in denen magische Illusionsbilder gezeigt werden sollten, die Kaverne sicherlich auch als Metapher von Interesse – für Erkenntnis, genauer gesagt für Scheinhaftigkeit – wie bei Plato. Robert Wiene, Autor von „Cabinet des Dr. Caligari“ (1920), definierte 1922 den Film neuer Art so auch explizit als Gegenbewegung zur Wirklichkeitskunst, also zum Naturalismus. Demnach sollte der Film die Bindung an äußere Realität abwerfen und innere Erlebnisse in psychischer Intensität darstellen: Krieg und Krise hätten eh Dreharbeiten an Originalorten verhindert und das Artifizielle gefördert. Wiene meinte, dem stummen Medium fehle die Sprache. Es sei nur zu drastischen Ausrufen fähig, weshalb ihm eine zentrale Dimension der Wirklichkeitsdarstellung entzogen sei. Stattdessen tendiere der Film zu geisterhafter, schematischer Präsenz. Er lebe von unwirklichen, buchstäblich flachen Bildern und sei auch im übertragenen Sinn ein Licht- und Schattenspiel. Bis heute gilt dies tatsächlich als zentrales Formmerkmal expressionistischer Filmkunst, mehr noch als alle Motivkomplexe oder Handlungsschemata.

Aber auch das Set-Design – der Bau stilisierter, formal überzeichneter, als artifiziell erkennbarer Kulissen – gehört unumstritten zum expressionistischen Film. Oft wurden mittelalterliche Plots gewählt, deren Architektur eine steigerbare ‚Otherness‘ bot, sodass Verzerrung und Zuspitzung nicht nur narrativ, sondern auch formal wirksam wurden. In dieser Künstlichkeit sollte sich der Film als eigenständige Kunstform erweisen. Zugleich war er, anders als die Bühne, nicht an physische Illusionsgrenzen gebunden. Folglich ist es konsequent, dass expressionistische Filmräume dort ansetzten, wo Architektur im Medium selbst vorkam – bei der Filmarchitektur. Sie wurde nun aus der Projektion in den dreidimensionalen Raum übersetzt. Auch dort spielten Licht und Schatten als stilisierende Faktoren eine zentrale Rolle. Es sollte nur um den Film selbst gehen, wodurch dem Vorwurf äußerlicher Effekte vorgebeugt wurde. Zuvor hatte sich das Kino über Anleihen beim Theater nobilitieren wollen, ohne je die Nähe zum Varieté löschen zu können. Beides wurde in der expressionistischen Kinoarchitektur aufgehoben: Sie blieb dem hohen Anspruch an Räume verpflichtet, in denen Filme zur Aufführung gebracht werden sollten. Doch nun gestaltete man sie nicht mehr akademisch-repräsentativ, sondern eben filmisch, durch motivische oder mediale Anklänge. Dies bekräftigte den Film als autonome und abstrakte Kunst, hatte aber zugleich attraktive Effekte – wie schon in der Frühphase des Kinos als Spektakel.

Berlin, Capitol am Zoo, Hans Poelzig, Capitol am Zoo, Zuschauerraum (Bilder: Hans Poelzig, CC0 1.0, via wikimedia commons, um 1924)

Berlin, Capitol am Zoo, Hans Poelzig, 1925, Zuschauerraum (Bilder: Fotos: wohl Albert Vennemann, Bildquellen: Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin, CC0 1.0, via wikimedia commons, um 1925)

Deli, Capitol und Babylon

Wie solche Prinzipien – filmische Abstraktion, Lichtdramaturgie und Illusionskraft – in den Kinobauten umgesetzt wurden, zeigen besonders die Entwürfe von Hans Poelzig. Er war selbst Filmarchitekt der UFA und Schöpfer der Kulissen für „Der Golem“ (1920). Dabei übertrug er die Ausdrucksformen des expressionistischen Films direkt in seine Kinoarchitektur. Im Deli-Lichtspiel (1926) in Breslau fiel zwar die Fassade sachlich aus, doch im Inneren dominierten parabolisch gewundene Rangaufgänge mit schwungvollen Formen, die den Golem-Kulissen entlehnt waren. Die dramatische Lichtführung mit simuliertem Sternenhimmel über dem Zuschauerraum zitierte eine nächtliche Filmkulisse, vereinte Saal und Illusion. Auch die Orgelgitter-Bögen erinnerten an Tor- und Brückenbögen der Filmarchitektur. Die Beleuchtung verwandelte den Raum in ein Lichtspiel – eine architektonische Übersetzung der filmischen Lichtdramaturgie mit harten Hell-Dunkel-Kontrasten und dynamischen Schatten.

Am Berliner Zoo, in Poelzigs Capitol-Kino (1925), wurden die Windungen der Rangtreppen zum Zitat, das auf die Wendeltreppe aus der Alchemistenwerkstatt des „Rabbi Löw“ (1920) verwies. Den Hintergrund dieser begehbaren Skulptur bildeten körpermorphologische Bezüge, vor allem zum Ohr – paradox, angesichts des damals entstehenden Tonfilms. Die Linienführung und Lichtregie im Saal lenkten den Blick auf die Leinwand und erzeugten eine Atmosphäre der Bewegung, ließen ein zentrales Filmmerkmal räumlich erfahrbar werden. Die oktogonale Saalkuppel mit Deckenbahnen verwiesen auf die Zeltarchitektur und damit auf die Ursprünge des Kinos als temporäre Attraktion. Nicht zuletzt erhielt die Fassade durch Stahlbetonstützen und Glasflächen auch einen filmischen Rhythmus, der die Kamerabewegung imitierte.

In Poelzigs Babylon am damaligen Bülowplatz (1929) bestimmen kinetische Motive das Äußere: Der dreieckige Bau mit gerundeter Ecke, gebänderten Fenstern und kurvierten Brüstungen erzeugte einen horizontalen Schwung, der der Kamerabewegung entspricht. Innen wiederholt sich dieses ‚Dynamogramm‘ in der geschwungenen Rangbrüstung. Die Lichtführung mit konvergierenden Leuchtstreifen und schattenwerfenden Flächen rief eine dramatische Raumwirkung hervor, die an expressionistische Licht-Schatten-Kontraste erinnert.

https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/CLRNABX6I7PZKJM3CCGI5XXHJFQ25HWQ?query=deli+lichtspiele+berlin&isThumbnailFiltered=true&offset=40&rows=20&viewType=list&hitNumber=401

Breslau/Wrocław, Deli-Lichtspiele, Hans Poelzig, 1926, Zuschauerraum, Orgelgitter (Bild: Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin, CC0 1.0)

Autonome Kunstwerke

Erich Mendelsohns Universum (1925–1931) am Lehniner Platz führte diese Prinzipien weiter. Der u-förmig geschwungene Komplex wurde von einem abrupt aufragenden Entlüftungsturm durchschnitten, dem Markenzeichen der UFA. Metaphorisch war er auch als Dampferschornstein lesbar – ein Zitat industrieller Dynamik, die der Film aufgriff. Die bugartige Fassade mit Bandfenstern erinnerte an Filmstreifen. Innen lenken luminöse, konvergierende Lichtstreifen den Blick zur Leinwand und dynamisieren die Raumerfahrung. Scharfe Hell-Dunkel-Kontraste in der Lobby, hufeisenförmige Leuchtkörper und u-förmige Lichtbänder schufen eine immersive Atmosphäre. Ein Kassenhäuschen aus Milchglas und Bronze wirkte wie ein Leuchtbaustein und unterstrich den medialen Raumcharakter. Architektonisch wurde hier Licht zum fiktionalen Schein – zum Symbol der Illusion des Films. Geschwungene Wände und bewegte Lichtbahnen spiegelten filmische Bewegung als räumliches Äquivalent zur Kamerafahrt wider.

In diesen Bauten wird Kinoarchitektur selbst zum Ausdrucksträger des autonomen Kunstcharakters des Films. Präzise Lichtführung, dynamische Linien und direkte Kulissenzitate schaffen Räume, die den Film als von der Realität gelöste Kunstform feiern. Die Kinoarchitektur wird zur begehbaren Filmkulisse, in der sich die abstrakten und motivischen Charakteristika des expressionistischen Films mit der gebauten Umwelt verschränken – ein Erbe, das bis heute nachwirkt.

Berlin, Universum-Lichtspiele, Erich Mendelsohn, Skizze, Ansicht zur Straße, um 1928 (Bild: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, CC BY NC SA 3.0)

Berlin, Universum-Lichtspiele, Erich Mendelsohn, Skizze, Ansicht zur Straße, um 1927 (Bild: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, CC BY NC SA 3.0)

Literatur

Dauß, Markus, ‚Lichtarchitektur‘. Berliner Kinos des ‚Goldenen Zeitalters‘, in: kunsttexte.de 2023, 1 (23 Seiten).

Hänsel, Sylvaine/Schmitt, Angelika (Hg.), Kinoarchitektur in Berlin 1895–1995, unter Mitarbeit von As­trid Bähr, Martin Bröcker, Simone Holert und Marianne Ritthausen, Berlin 1995.

Pehnt, Wolfgang, Turm und Höhle, in: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit, Ausstellungskatalog, Deutsches Architekturmuseum (DAM) Frankfurt am Main, Stuttgart 1994, S. 50–67.

Zucker, Paul/Stindt, Georg Otto, Lichtspielhäuser, Tonfilmtheater, Berlin 1931.

Berlin, Babylon, Hans Poelzig, 1929, Blick vom Zuschauerraum auf die Orgel, um 1929 (Bild: Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin, CC0 1.0)

Berlin, Babylon, Hans Poelzig, 1929, Blick vom Zuschauerraum auf die Orgel, um 1929 (Bild: Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin, CC0 1.0)


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