von Fabian Schmerbeck (25/2)
Auch im Chemnitz der Nachwendezeit debattierte man intensiv darüber, wie umzugehen sei mit der historischen Stadtmitte, mit ihren großen Magistralen und Brachflächen. Der Innenarchitekt Karl-Heinz Barth warnte damals vor zwei Extremen: der „sentimentalen Verdichtung“ oder dem Rückgriff auf „gesichtslose Investorenarchitektur“. In Chemnitz mussten sich tatsächlich einige wenige Vorkriegsbauten behaupten gegen die große Geste der Ostmoderne, wie sie beim Stadthallenkomplex und beim Parteigebäude anzutreffen war. Unter den historischen Zeugen des frühen 20. Jahrhunderts fanden sich nicht nur das Rathaus (Richard Möbius, 1911), sondern gerade auch die beiden Warenhäuser Schocken (Erich Mendelsohn, 1930) und Tietz (Wilhelm Kreis, 1913). Beide vermochten schon allein durch ihre inselartige Lage, eine stadträumliche Wirkung zu entfalten. Außerdem thematisierten sie unweigerlich, was auf den Freiflächen verloren gegangen war und wie sie potenziell wieder bebaut werden könnten – großmaßstäblich und zugleich an historische Strukturen angelehnt.

Chemnitz, Bahnhofstraße, ehemaliges Kaufhaus Tietz, Wilhelm Kreis, 1913, mit Einfahrten zur Tiefgarage des Kaufhofs, 2001-2002 (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)
Chemnitzer Kompromiss
Nach der Wiedervereinigung fehlte in der Chemnitzer Innenstadt jedoch fast vollständig der ältere und deutlich kleinteiligere Part der Bebauung. Die großen Projekte der Ostmoderne nahmen kaum Bezug auf die verschwundenen Strukturen. Vielmehr bildeten und bilden sie eine Mitte aus, die ebenso eigenständig wie eigener Art ist. Bald stand auf politischer Seite fest, dass ein zweites, ein verdichtetes, „neues altes Zentrum“ entstehen soll, das sich an historische Strukturen orientiert. Dennoch verlief die öffentliche Debatte darum durchaus kontrovers. So plädierte der in Chemnitz aufgewachsene Günther Behnisch, die großen Freiräume beizubehalten. Deutlich richtete er sich gegen einen Zeitgeist, der bisweilen schon von Rekonstruktionen fantasierte, und plädierte stattdessen „für die neue, offene Stadt; für die Stadt, die schon ‚vor der Türe steht‘“.
Am Ende fand sich ein Kompromiss, der in dieser Deutlichkeit nur in Chemnitz umgesetzt wurde: Eine bisweilen radikal zeitgenössische Architektur schuf strukturelle Bezüge zur verschwundenen Innenstadt. Man nahm in Kauf, dass blockfüllende Großbaukörper dominant auftraten. Dadurch bildeten sie ein ernstzunehmendes Gegengewicht zum sozialistischen Stadtzentrum mit seinen Großstrukturen: vom „Haus der Partei und Staatsorgane“ bis zum Stadthallenkomplex samt Hotelturm. Dies ist auch funktional zu verstehen, da den Kultur- und Verwaltungsbauten ein nahezu vollständig auf Konsum basierendes Zentrum gegenübergestellt wurde.

Chemnitz, Neuer Markt, Galeria Kaufhof, Helmut Jahn, 1999–2001 (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)
Galeria Chemnitz
Besonders sichtbar wird dieser Chemnitzer Kompromiss am wiederhergestellten zentralen Platz, dem Neumarkt. Drei Neubauten sowie das erhaltene Rathaus beschreiben seine Raumkanten. Die größte Aufmerksamkeit erregte 2001 der neue Kaufhof von Helmut Jahn. In seiner stadträumlichen Dominanz und seinem entwerferischen Anspruch suchte er sich mit den erwähnten Häusern von Tietz und Schocken zu messen. Und wie diese hat es inzwischen die Warenhausnutzung verloren und wird nun zu großen Teilen für kommunale Funktionen umgebaut. Bis 2024 konnte man im Kaufhof-Restaurant im obersten Stockwerk hinter der Glasfassade sitzen und hinab auf den Schreibtisch der Oberbürgermeisterin bzw. des Oberbürgermeisters blicken. Von der liebenswerten Omahaftigkeit so manch anderer Warenhäuser (und ihrer Selbstbedienungsrestaurants) war im neuen Kaufhof allerdings wenig zu spüren. Für einen Vergleich taugen viel eher Warenhäuser der klassischen Moderne (Schocken!) oder frühen Nachkriegsmoderne in ihrer nüchternen Eleganz. Auch in der flächigen Innenraumgestaltung war man hier dem Breuerschen Bijenkorf in Rotterdam näher als so manchem Standard-Karstadt oder vielen nach 1990 „geupdateten“ DDR-Warenhäusern.
Vollkommen transparent und mit weit vorspringenden Dächern reiht sich dieser Stahl-Glas-Bau, der auch ein Parkhaus und die zentrale Straßenbahnhaltestelle aufnimmt, nahtlos in die Chemnitzer Warenhausgeschichte ein. Vielmehr entwickelt er diese ohnehin stadträumlich wirksame Typologie weiter: Die verkehrsbezogene Dynamik, die bei Mendelssohn in der gebänderten abgerundeten Fassade zu suchen ist, ist hier durch überkragende Dächer aufgegriffen. Dies wird nicht zuletzt deutlich durch Tiefgarageneinfahrten, die zum Gebäude gehören, aber als separate Baukörper ausgeführt sind. Sie wirken wie entlang des Verkehrsflusses gedehnte Teile des Warenhauses. Und was beim Warenhaus Tietz drei viel besprochene Lichthöfe erledigten, schafft bei Jahns Kaufhof ein übergroßes Atrium, das im Zentrum des Gebäudes gleichzeitig der Erschließung dient. Neu ist, dass sich der Bau deutlich dem Platz zuwendet. Kaum ein Warenhausbau zuvor ließ so große Ein- und Ausblicke zu, die nicht zuletzt bei Nacht durch ihre Innenbeleuchtung stadträumlich betont werden.

Chemnitz, Neuer Markt, Galerie Roter Turm, Chapman Taylor Brune (Gesamtkonzept), Hans Kollhoff und Helga Timmermann (Fassaden), eröffnet 2000 (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)
Von Innen heraus illuminiert
Auch das 2003 eröffnete Textilkaufhaus Peek & Cloppenburg von Ingenhoven, Overdiek und Partner ist ähnlich transparent und ebenso nachts von innen heraus illuminiert. Auf der anderen Seite des Rathauses verortet, wurde für P & C eine sehr zeichenhafte, wellenförmige Typologie erneut mit Stahl und Glas umhüllt. Dadurch tritt der Bau besonders intensiv in Austausch mit dem Kaufhof-Eingang, der auf der gegenüberliegenden Platzseite zu finden ist. Zeitgenössische Publikationen betonen hier – nochmals stärker als beim Kaufhof-Bau – die kompromisslose Modernität des monolithischen Baus. Er trete ganz bewusst in Kontrast zum Zierrat der Rathauses und zur vorgespiegelten Kleinteiligkeit der fast zeitgleichen Rathauspassage.

Chemnitz, Zentralhaltestelle hinter Galeria Kaufhof mit Blick auf die Galerie Roter Turm (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)
Terrakottakulisse
In der Typologie und in den Details verhält es sich mit der 2000 eröffneten Galerie Roter Turm vollkommen anders. Gegenüber vom Rathaus gelegen, ist die Galerie zwischen den beiden zuvor beschriebenen Stahl-Glas-Häusern verortet. Diese zeigen ihre Funktion – ganz in der Tradition der anderen Chemnitzer Warenhäuser – nach außen. Davon weicht die Galerie Roter Turm deutlich ab, denn sie wendet sich als klassische Shoppingmall nach innen. Hinzu kommt die Fassadengestaltung, die nicht wie der Baukörper von Walter Brune, Chapman Taylor und Günter Wagner entworfen wurde, sondern von Hans Kollhoff und Helga Timmermann. So erhielt der Rohbau eine Terrakottaziegel-Fassade samt Arkadengang und Zinnenkranz. Diese Kulissenarchitektur will die Shoppingmall wie einen überdimensionierten Altstadtbau erscheinen lassen. Stattdessen nahm diese Gestaltung eher die viel später üblichen, deutschen Outlet-Villages vorweg.

Chemnitz, Neuer Markt, Galerie Roter Turm und Galeria Kaufhof (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)
Verwaltung mit Einzelhandel
Der Publizist Torsten Birne beschrieb das unmittelbare Nachwendechemnitz als rückständig. In einem „Gewaltakt“ habe man die versäumte Entwicklung aufholen wollen. Besonders am Neumarkt, so betont er, fügen sich Solitäre in nie dagewesener Weise zu einem stadträumlichen Zusammenspiel. Die architektonischen Gegensätze (vor allem in den aufeinanderprallenden Fassaden) benennt Birne ein „Feuerwerk der Architektur, Europa prallt auf Amerika, Jung auf Alt, Terrakotta auf Glas, Zinnen auf Wellen, Tradition auf Moderne“. Andernorts habe man Warenhäuser vielfach überschrieben oder durch Umnutzungen wesentlich verändert. In Chemnitz hingegen ist die Architekturgeschichte des Warenhauses ablesbar wie nirgendwo sonst – nicht zuletzt durch ihre Fortschreibung in den frühen 2000ern durch Helmut Jahn.
Der Kaufhof wird aktuell zum Verwaltungsstandort umgewandelt, auf Teilflächen soll es hier aber weiterhin Einzelhandel geben. Künftig wird die Großzügigkeit dieses Warenhauses nicht mehr in der alten Weise erlebbar sein. Doch die Kubaturen und die städtebauliche Gestalt des Neumarkts bleiben. Daher irrte der eingangs zitierte Innenarchitekt Karl-Heinz Barth mit seiner Befürchtung, in Chemnitz drohe entweder sentimentale Verdichtung oder gesichtslose „Investorenarchitektur“. Ja, es wurde verdichtet, aber nicht sentimental. Und ja, es kam „Investorenarchitektur“, aber sie war glücklicherweise nicht gesichtslos. Bei den Einzelbauten ebenso wie bei der Gesamtkomposition des Neumarktes handelt es sich vielmehr um ein wichtiges Erbe des Nachwendestädtebaus.
Literatur
Richter, Tilo, Chemnitz. Neue Bauten in der Stadtmitte 1990 – 2003.Ein Werkbericht, hg. vom Oberbüürgermeister der Stadt Chemnitz, Leipzig 2003 (hieraus auch alle Zitate im Beitrag).

Chemnitz, Neuer Markt, Blick vorbei am Rathaus und der Galerie Roter Turm auf das Kaufhaus Peek und Cloppenburg, Ingenhoven, Overdiek und Partner, eröffnet 2003 (Bild: dguendel, CC BY 4.0)

Chemnitz, ehemaliges Kaufhaus Schocken, Erich Mendelssohn, 1930, heute Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz (SMAC) (Bild/Titelmotiv: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)
Rundgang

Karl-Marx-Stadt, HO-Warenhaus (Bild: VEB Bild und Heimat Reichenbach i. V., Foto: Hempel, 1960)

Karl-Marx-Stadt, Poststraße – Zentralhaltestelle der Straßenbahn (Bild: Verlag Erhard Neubert KG, 901 Karl-Marx- Stadt, Aufnahme: Polster, 1969)

Karl-Marx-Straße, Ernst-Thälmann-Straße (Bild: Bild und Heimat Reichenbach i. V., 1976)

Karl-Marx-Stadt, HOG „Roter Turm“ (Bild: VEB Bild und Heimat Reichenbach i. V., Foto: Lindner, 1960)

Karl-Marx-Stadt, Hochhaus an der äußeren Klosterstraße (Bild: VEB Bild und Heimat Reichenbach i. V., 1965)

Karl-Marx-Stadt, Roter Turm (Bild: Bild und Heimat Reichenbach (Vogtl), Foto: Hoffmann, Oelsnitz (Vogtl.), 1980)

Karl-Marx-Stadt, An der Zentralhaltestelle (Bild: Verlag Erhard Neubert KG, 901 Karl- Marx-Stadt, Aufnahme: Lachmann, Leipzig, 1972)

Karl-Marx-Stadt, Blick zur Hauptpost (Bild: Verlag Erhard Neubert KG, 901 Karl-Marx- Stadt, Aufnahme: Polster, 1969)
Download
Inhalt

LEITARTIKEL: Kulturhauptstadt mit Ausdauer
Verena Pfeiffer-Kloss über eine Kulturhauptstadt, die lange abwartet, um sich dann zu überschlagen.

FACHBEITRAG: Kaufhäuser in Chemnitz
Fabian Schmerbeck über den Wettstreit der Warenhäuser.

BEGEGNUNGEN: Chemnitz blau-gelb
Mit Martin Maleschka auf Streifzug durch die Farbwelten der Chemnitzer Ostmoderne.

FACHBEITRAG: Chemnitz und die Automobilindustrie
Daniel Bartetzko über die Wiege der Massenmotorisierung in Sachsen.

PORTRÄT: Das Adventhaus in Chemnitz
Karin Berkemann über ein Paradebeispiel des Zackenstils.

INTERVIEW: „Jugendliche mit einem Kofferradio“
Nancy Mickel über ihr Azubi-Projekt: ein wiki zu Skulpturen und Plastiken in der Chemnitzer Innenstadt.

FOTOSTRECKE: Nova Gorica
Beate Düber war mit der Kamera in der anderen Kulturhauptstadt 2025.