von Daniel Bartetzko (23/3)

Der Glaube an eine gesellschaftliche Zukunft in Wachstum und Wohlstand, begleitet durch ein soziokulturelles Angebot, das keinen Menschen ausschließt, war Ende der 1960er Jahre ungebrochen. Die Kleinstadt Hattersheim am Main nahe Frankfurt plante damals in Ergänzung zum Schwimmbad und den angrenzenden Sportplätzen am Rand des Stadtparks ein Gemeinschaftshaus: Veranstaltungssaal, Tagungsräume, Stadtbibliothek, Gastronomie und die unverzichtbare Kegelbahn sollten unter einem Dach geeint werden. Den Wettbewerb 1968 gewannen Novotny+Mähner Assoziierte aus Offenbach am Main, damals bereits ein etabliertes Architekturbüro, das von 1959 bis 2004 zahlreiche Projekte im In- und Ausland realisierte. Die Zusammenarbeit der Jugendfreunde Fritz Novotny (1929–2018) und Arthur Mähner (1929–2020) begann bereits 1950. Nachdem beide 1959 an der TH Darmstadt ihr Diplom machten, wuchs ihr Büro rasant, zählte zeitweise zu den größten in Deutschland. Von N+M stammen unter anderem das Erich-Ollenhauer-Haus in Bonn (1974/75), der Sunflower Tower in Beijing (1996-97) und die riesigen Städtischen Krankenanstalten Bielefeld-Mitte (1979–1987). Im Wettbewerb für das Münchener Olympiagelände belegten sie 1967 den zweiten Platz, der Entwurf wurde angekauft. Die Zahl der Projekte, die in Frankfurt und ihrer Heimat Offenbach realisiert wurden, ist kaum noch überschaubar. Sie reicht von Privathäusern über Busstationen, Hotels, Hochhäuser, dem (heute auf den Abbruch wartenden) Stadtkrankenhaus Offenbach bis zum eigenen Bürogebäude. 2004 meldeten Novotny+Mähner Assoziierte Insolvenz an, 2009 ging das Büro im österreichischen Konzern ATP architekten ingenieure auf.

Hattersheim, Stadthalle 2019 (Bild: Daniel Bartetzko)

Hattersheim am Main, Stadthalle 2019 (Bild: Daniel Bartetzko)

Kultur für alle

Stilistisch boten Novotny+Mähner alleine schon durch ihr rund 50-jähriges Wirken ein breites Spektrum: Von der stringenten Moderne über Brutalismus, von nüchternen Zweckbauten bis zu verspielter Spät- und Postmoderne ist alles enthalten. In den späten 1960ern war für sie Beton Baustoff wie auch Stilmittel – der heute denkmalgeschützte einstige Firmensitz ist beredtes Zeugnis. Das Gemeinschaftshaus Hattersheim, das früh den konventionellen Namen “Stadthalle” erhielt, ist im Gesamtoeuvre ein eher kleines Projekt, ein ungewöhnliches zudem: N+M entwarfen ein kreisförmiges Gebäude mit mehrfach abgestuften Dächern, in dem sich die Räume und Nutzungsbereiche als Segmente exzentrisch geschwungen um ein Foyer mit zentraler Lichtkuppel gruppieren. Walter Gropius’ Entwurf eines “Totaltheaters” für Erwin Piscator (1927) hat unübersehbar Pate gestanden – mit einer sogartigen Anordnung der Räume und einer Bühne, die nicht hierarchisch erhöht ist, sondern fast ebenerdig die Besucher:innen ins Geschehen hineinzieht. Von außen bestimmen dunkelbraun eloxierte Metallpaneele das Erscheinungsbild, die kunststoffbeschichteten Wandverkleidungen des Inneren sind zeittypisch hellgrün.

An der Foyer-Wand unter der Rotunde hängt das Mosaik „Sahara-Rose“ des Künstlers Gerhard Matzat (1921–1994), der 1949 auch das hessische Landeswappen entwarf. Der große Saal, nicht im Mittelpunkt des Hauses gelegen und sich mit einer Fensterfront zur Grünanlage öffnend, fasst je nach Position der Schiebewände bis zu 700 Zuschauer:innen. In Hattersheim ist mit voller Absicht kein Tempel der hohen Kunst errichtet worden, sondern dem Motto “Kultur für alle” folgend ein Bau, der das städtische Freizeitangebot schwellenlos und mit großer Selbstverständlichkeit um den Bereich Kultur erweitert. Das weit auskragende Dach über dem Haupteingang greift förmlich nach jedem Besucher. Novotny und Mähners Kunstgriff war, dem ausdrücklich volkstümlichen Gemeinschaftshaus dennoch eine avantgardistische Form zu geben. Am 6. Oktober 1972 wurde der Bau eröffnet.

Hattersheim, Stadthalle (Bilder: links: HGP Architekten; rechts: historische Postkarte)

Hattersheim am Main, Stadthalle (Bilder: links: HGP Architekten; rechts: historische Postkarte)

Denkmalschutz als Lebensretter

2013 musste die Stadthalle wegen Brandschutzmängeln geschlossen werden. Der Abriss stand natürlich im Raum, im gleichen Jahr wurde das Gebäude jedoch unter Denkmalschutz gestellt: Es hatte die Zeit bis dahin inklusive Außenanlagen weitgehend im Originalzustand überdauert. 2017 fiel endgültig der Entscheid für die mit 8 bis 10 Millionen Euro veranschlagte Instandsetzung: Die Kommunalpolitik hatte alle Zweifel überwunden, knapp zwei Jahre später starteten die Arbeiten. Und gut 50 Jahre nach der Eröffnung wurde die Sanierung der Stadthalle im Juli 2023 mit dem Hessischen Denkmalschutzpreis an Hattersheims Bürgermeister Klaus Schindling gewürdigt. Das Frankfurter Büro HGP Architekten führte die Arbeiten von 2019 bis 2022 durch (das Team bestand aus Volker Kilian, Ole Küpers, Fabian Elting, Caroline Jarczyk und Maria Quimba).

Hervorgegangen sind HGP aus dem Büro Heinrici, Geiger und Partner, und zumindest gefühlt schließt sich hier ein Kreis: Bürogründer Klaus Peter Heinrici (1928–2017) war nicht nur Zeitgenosse von Novotny und Mähner, sondern im Rhein-Main-Gebiet in den 1970er/1980er Jahren ebenfalls sehr präsent. Zu seinen Bauten zählen etwa das Nachttierhaus des Frankfurter Zoos (1978) und das postmoderne Haus Saalgasse 28 (1984), beide mit Karl-Georg Geiger (1945–2014). Die Nachfolger HGP Architekten – mit den geschäftsführenden Gesellschaftern Markus Leben, Mauro Rodrigues da Silva und Volker Kilian – haben die Stadthalle Hattersheim einmal komplett umgekrempelt. Dies aber so, dass es erst auf den dritten Blick auffällt.

Hattersheim, Stadthalle, Saal ohne Trennwand 2023 (Bild: Thomas Ott)

Hattersheim am Main, Stadthalle, Saal ohne Trennwand 2023 (Bild: Thomas Ott)

Von Beton (fast) keine Spur

Trotz ordentlicher Gesamtsubstanz barg die Demontage des Bauwerks Überraschungen: Der erwähnte N+M-Lieblingsbaustoff Beton etwa kommt nahezu nicht vor – auch wenn Volker Kilian im Gespräch erwähnt, dass es zumindest ein paar Massivwände gebe. Doch betoniert ist nur das Kellergeschoss: Tatsächlich beteht die Stadthalle aus einem Stahlskelett mit hölzernen Nebenträgern und Ausfachungen aus Ytong-Mauerwerk. “Die Bauschäden waren nicht außergewöhnlich, auch Fäulnis trotz des reichlich verwendeten Holzes kein so großes Problem wie man nach über 40 Jahren denken könnte”, sagt Volker Kilian im Gespräch. Doch er konstatiert, dass es in der Ausführung damals an manchen Stellen offenbar schnell gehen musste: “Das Dach war ohne jegliche Neigung ausgeführt. Die nur wenige Zentimeter starke Konstruktion bestand aus einem Stahltraggerüst, ausgefacht mit Holz und versiegelt mit Bitumen-Dachschweißbahnen. Im Lauf der Jahrzehnte hatte sich dort oben eine Seenlandschaft gebildet. Die Lichtkuppel aus GFK war mit ihrem Rahmen auch direkt aufs Dach geschraubt. Um sie herum wurde mehrfach nachgedichtet nach dem Motto viel hilft viel.”

Die durch Umwelteinflüsse versprödete Kuppel, die wie eine Sonne überm Foyer wirkt, war nicht mehr reparierbar. Sie wurde durch eine Neukonstruktion ersetzt, in der auch ein Rauchabzug integriert ist. Fast alle wesentlichen Details des Gebäudes konnten indes weiterverwendet werden. Die Kuppel ist zwar neu, die sie umgebende, dreidimensional gestaltete Holzdecke aber alt. Man schreitet auch noch immer über den originalen Holzboden. Ein Glücksfall: Die bereits 1971/72 am Bau beteiligte Schreinerei existiert noch immer, dort lagerten Originalpläne, und ein damaliger Mitarbeiter stand beratend zur Seite. Jacken und Mäntel werden an der bauzeitlichen Garderobe abgegeben, sie ist nun von der Wand abgerückt, hinter ihr befindet sich eine neue barrierefreie Toilettenanlage. Die Paneele der Fassade sind ebenfalls original, während die mit Formaldehyd belasteten Verkleidungen der Innenräume ersetzt wurden. Die neuen, akustisch optimierten Tafeln sind aber in der nahezu originalgetreuen RAL-Farbe “Taiga” gehalten.

Hattersheim, Stadthalle, Empfang 2018 (Bild: HGP Architekten)

Hattersheim am Main, Stadthalle, Empfang 2018 (Bild: HGP Architekten)

Den Stadtpark mitgeheizt

Der Energiebedarf eines solchen 1970er-Jahre-Wunderwerks aus Holz, Stahl, Alu und Glas ist natürlich nicht zeitgemäß. Volker Kilian sagt es so: “Die Heizungsalage war intakt, aber sie wärmte den Stadtpark stets mit …” Unter das Kapitel “musste halt schnell gehen” fiel auch der Brandschutz, vor 10 Jahren als Hauptmangel erkannt und Grund der Schließung: Etliche Wände waren nicht bis zum Dach hochgezogen, sondern endeten, verdeckt von den eingehängten Holzdecken, deutlich früher. Sprinkleranlage und Stromversorgung teilten sich den knappen Platz zwischen Decken und Dachinnenseite in einem Labyrinth aus Leitungen. Dies ist korrigiert, und die Halle ist zwar noch immer kein Sparwunder, doch nach der Sanierung ist der Energiebedarf auf die Hälfte gesunken. Die ungewöhnliche Gesamtkonstruktion war hier ein Glücksfall, denn HGP Architekten konnten den Bau nahezu in alle Einzelteile zerlegen. Vor den Unbilden der Witterung war sein Skelett während dieser Zeit unter einer Zeltkonstruktion geschützt.

Der Zusammenbau bot alle Möglichkeiten, Neues im Alten zu verbergen: Die verbesserte Fassadendämmung wird von den alten Metallpaneelen kaschiert, die Innenwände sind hinter den grünen Tafeln nun ebenfalls gedämmt. Teile der Heizung und die Lüftung liegen unter den Einhängedecken, die Sendetechnik für die Lautsprecher ist hinter den Wandtafeln untergebracht. Die technische Ausstattung liest sich wie aus einem Energie-Ratgeber des Bundesbauministeriums: Brennwertkessel, Belüftung mit Wärmerückgewinnung, sparsame fre­quenzgesteuerte Ventilatoren und LED-Beleuchtung – alles ist dezent im stylishen 1970er-Jahre-Ambiente untergebracht. Derzeit werden noch die ebenfalls denkmalgeschützten Außenanlagen instandgesetzt.

Hattersheim, Stadthalle in Einhausung 2020 (Bild: HGP Architekten)

Hattersheim am Main, Stadthalle in Einhausung 2020 (Bild: HGP Architekten)

Die Halle selbst war trotz Ukraine-Krieg und Corona-Krise innerhalb von zweieinhalb Jahren fertig. In Volker Kilians Erinnerung hat die Welt pandemiebedingt oft stillgestanden, während auf der Baustelle regulär gearbeitet wurde. Insgesamt rund 15 Millionen Euro werden bis zur Vollendung in das gesamte Projekt geflossen sein. Die Sanierung der Halle selbst liegt bei 10,25 Millionen Euro, und bleibt damit im Rahmen der Erwartungen, bereits vor über 10 Jahren waren die Kosten auf etwa 8 Millionen Euro geschätzt worden.

Nicht alle Kalkulationen explodieren derart wie jene von Elbphilharmonie, BER oder Stuttgart 21. Sicher, die Teuerung durch den Ukraine-Krieg und die nachfolgende Inflation wäre bei einem späteren Baubeginn deutlich höher ausgefallen. Aber es fühlt sich falsch an, Kostensteigerungen mit menschlichen und politischen Katastrophen zu rechtfertigen. Das Zusammenleben ist womöglich komplexer als Ende der 1960er Jahre. Doch an die einende Kraft einer untereinander solidarischen Gesellschaft zu glauben, ist ein universeller Wert. In diesem Sinne wurde auch die Stadthalle Hattersheim einst gebaut. Umso beruhigender ist es, dass sie nicht für einen schnöden Neubau abgeräumt wurde.

Hattersheim am Main, Außenansicht 2023 (Bild: HGP Architekten)

Titelbild: Hattersheim am Main, Foyer 2023 (Bild: Thomas Ott)


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Bonusbeitrag

Inhalt

LEITARTIKEL: Kultur als Vermächtnis

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Till Schauen über seine Tante, eine ganz bestimmte Stadthalle – und darüber, wieso beide stellvertretend für eine ganze Epoche stehen.

FACHBEITRAG: Avantgarde, volkstümlich

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Zwischen Totaltheater und Totalsanierung: Daniel Bartetzko über die denkmalgeschützte Stadthalle Hattersheim.

FACHBEITRAG: Die Akropolis von Rüdersdorf

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