von Johannes Medebach (20/2)

Es gibt Tage, an die sich alle erinnern. Mit Sicherheit gehört der 9. November 1989 dazu. Gegen 18 Uhr verkündet Günter Schabowski in einer legendären Pressekonferenz die Möglichkeit der DDR-Bürger zur “ständigen Ausreise”. Menschen aus Ost-Berlin stürmen zu den Grenzübergängen der geteilten Stadt und pochen auf ihr neugewonnenes Recht. Und eine halbe Stunde vor Mitternacht ist es endlich soweit: An der Bornholmer Straße öffnen sich nach 28 Jahren die Tore. Der Todesstreifen hatte seinen Schrecken verloren. Heute sind die Bilder jener Tage zum Mythos geworden – so wie die Mauer selbst. Heute existieren in Berlin einige letzte Fragmente, an denen die ehemalige Grenze erfahrbar wird. So etwa am Friedrichshainer Spreeufer, an der East Side Gallery.

Berlin, Blick auf die Mauer nahe dem Potsdamer Platz (Foto: Nancy Wong, Bild: Edmunddantes, CC BY SA 3.0, 1986)

Berlin, Blick auf die Mauer nahe dem Potsdamer Platz (Foto: Nancy Wong, Bild: Edmunddantes, CC BY SA 3.0, 1986)

Real existierende Architektur

Neben ihrer symbolischen Bedeutung als Demarkationslinie war die Mauer eben auch ein Bauwerk. Je nach Betrachtung: eine Barriere, um den “real existierenden” Sozialismus zu schützen, oder ein tödliches Werkzeug, um Menschen ihrer persönlichen Bewegungsfreiheit zu berauben. Eine Architektur der Abschreckung, von der trotzdem eine ungeheure Faszination und Inspiration ausging. Wie viele Schulklassen reisten bis 1989 nach Berlin, um sich dem schaurig schönen “Mauergucken” hinzugeben …

Rem Kohlhaas schrieb 1972 seine Abschlussthesis “The Berlin wall as architecture”. Damals wagte er ein theoretisches Experiment: Westberlin als Hort der Freiheit durch Selbsteinfriedung. Dass Künstler aus aller Welt die westliche Seite als größte Leinwand der Welt verstanden, verwundert nicht. Eine solch ambivalente Struktur zieht mit ihrem Spannungsfeld viele Menschen an.

Spurensuche

Doch was passierte nach dem November ’89 mit diesem Bollwerk? Mit dem 155 Kilometer langen Mauerstreifen aus ca. 45.000 Segmenten, mit den 302 Beobachtungstürmen und 20 Bunkern? Entgegen der kollektiven Erinnerung verschwand die gesamte Baumasse nicht über Nacht. Kurz vor der Jahreswende beschloss die Regierung Modrow, die Berliner Mauer zu entsorgen. Diese Zeit barg zwar einen unbändigen Freiheitsdrang und einen großen Möglichkeitsraum, aber eben auch eine gewisse Ratlosigkeit. Entsprechend wurde das Verschwinden der Mauer durch einige Turbulenzen und unerwartete Wendungen begleitet.

Direkt nach der Öffnung hörte man in den innerstädtischen Bereichen vermehrt ein eifriges Klopfen. Die sog. Mauerspechte machten sich an die Arbeit. Fleißige Bürger, mit Hammer bewaffnet, rückten dem “antifaschistischen Schutzwall” zu Leibe. Schlag um Schlag wurde der Betonwall ausgedünnt – und so manches Souvenir für zu Hause gesichert. Es ist selbstverständlich, dass ein Gros der Mauer so nicht entsorgt werden konnte.

Kontrollierter Rückbau

Sieben Monate nach dem geschichtsträchtigen 9. November, am 13. Juni 1990, begann an der Bernauer Straße der kontrollierte Rückbau der Grenzanlagen. Dieser Ort war nicht zufällig gewählt: Die Fluchten durch die im Osten stehenden Häuser, zu Beginn selbst Teil der Grenzanlagen, gingen um die Welt. An diesem Abschnitt starben aber auch die meisten Menschen bei vergeblichen Fluchtversuchen. Heute befindet sich hier die Zentrale Gedenkstätte Berliner Mauer.

Die Ost-Berliner Baukombinate wurden verpflichtet, die Anlagen zu entsorgen. Verständlicherweise war die Bereitschaft riesengroß. So mancher Mitarbeiter nahm sich selbst einige der drei Meter hohen und tonnenschweren Betonfertigelemente mit. Nicht immer stieß diese Art von “Gartenzaun” auf Gegenliebe. Die blutige Geschichte haftete scheinbar am Stahlbeton.

Berlin, Mauer nahe der Friedrichstraße, 1990 (Bild: BIL, GFDL oder CC BY SA 3.0, 1990)

Totaler Ausverkauf

Die DDR-Regierung gehörte zu den Ersten, die das große Geschäft mit der Geschichte witterten. Schon im Januar 1990 demontierten Einheiten der Nationalen Volksarmee (NVA) 50 künstlerisch anspruchsvoll gestaltete Segmente aus dem Grenzgebiet zum damals kreativsten aller Westberliner Bezirke: Kreuzberg. Die Außenhandelsgesellschaft Limex machte aus dem Verkauf ein lukratives Geschäft. Erste Lieferungen gingen vor allem in die USA, wo die Berlin Wall Commemorative Group die Vermarktung übernahm. In der Folge gründet Limex mehrere Gesellschaften zur Verwertung der Mauer-Segmente. Im Verlauf des Jahres wurde ein Millionenerlös eingefahren – in Monte Carlo versteigerte man im Juni 1990 beispielsweise 80 Segmente.

Beliebt waren farbig gestaltete Mauerstücke von Künstlern wie Thierry Noir oder Keith Haring. Auf der Strecke blieben dabei die Künstler selbst, die sich die Beteiligung am Erlös erst einklagen mussten. Bis heute ist nicht ganz zu klären, ob alle Gelder dort angelangt sind, wo sie hingehörten. Die Limex hatte zahlreiche Tochterfirmen und private Kooperationspartner. Es ist anzunehmen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Einnahmen in privaten Taschen landete. Als im Sommer 1990 nun auch die NVA das große Geschäft witterte, verschwanden weitere Fragmente unter der Hand. Nun wurde alles zu Geld gemacht, was mit der Grenze verbunden war: Zäune, Schilder und Ausrüstungen. Einige alte Grenzeruniformen schafften es sogar auf den Pariser Laufsteg: Der amtierende DDR-Verteidigungsminister Rainer Eppelmann bot sie Karl Lagerfeld für seine Kollektion an.

Mentale Mauer

Am 3. Oktober 1990 hörte die DDR auf zu existieren. Ganz abgeräumt war die Mauer zu diesem Zeitpunkt aber immer noch nicht. Ab sofort wachte die Bundeswehr über die verbliebenen Reste. Dieser schmeckte das Geschäft mit dem Todesstreifen nicht so recht. Als im Bonner Verteidigungsministerium jedoch die Zahlen des bisherigen Erlöses bekannt wurden, staunte man auch dort nicht schlecht. Ab Dezember 1990 wurden die bunten Mauerteile fröhlich weiterverkauft. Die Bundeswehr nahm so noch einmal rund 6 Millionen D-Mark ein.

Unterdessen ging der planmäßige Abbruch weiter. Die meisten Segmente wiesen keinen höheren Kunst- oder Verkaufswert auf und landeten geshreddert im Straßenbau. Gegen Ende des Jahres 1990 war die Mauer aus dem Berliner Stadtbild verschwunden. Der große Hype um die Relikte der einstigen Grenze ebbte ab – so wie sich im wiedervereinigten Deutschland langsam ein ernüchterter Blick einstellte. Die Mauer in den Köpfen sollte sich als deutlich widerstandsfähiger erweisen. In den 1990er Jahren näherten sich Ost und West nur langsam und unter starken Vorbehalten an. So wollte man sich im Osten aller Erinnerungen an die alte Zeit entledigen.

Berlin, Wachturm an der Erna-Berger-Straße (Bild: Sir James, CC BY SA 3.0, 2004)

Berlin, Wachturm an der Erna-Berger-Straße (Bild: Sir James, CC BY SA 3.0, 2004)

Rettet die Mauer

Das schnelle Verschwinden und der Ausverkauf der ehemaligen Grenze ist sicherlich dem turbulenten Tempo dieser Zeit zu schulden. Es gibt allerdings auch Kritiker dieser überhasteten Entsorgung. Johannes Cramer, emeritierter Professor für Bau- und Stadtbaugeschichte an der TU Berlin, beschäftigte sich in den 2000er Jahren mit der Dokumentation der Überreste. Durch das Auswischen des Grenzstreifens sei, so Cramer, “seine Feindseligkeit nicht mehr erlebbar”. An Orten wie der East Side Gallery sind heute nur noch Fragmente zu sehen. Man verwechselt die Betonwand mit der Grenze. Dabei bestand dieses perfide System aus vielen Schichten, die eine Flucht nahezu unmöglich machten.

Laut Cramer sind vor allem die leichteren, scheinbar unspektakulären Elemente der Grenze – wie etwa Drahtzäune oder die Lichttrassen – komplett verschwunden. Die Untersuchungen ergaben auch, dass der komplette Streifen in acht Abschnitten errichtet wurde. Keineswegs lag 1989 ein durchgängig homogenes Bauwerk vor. In den Außenbezirken bestand die “Mauer” lediglich aus Zäunen. In der Veröffentlichung “Die Baugeschichte der Berliner Mauer” sind die Ergebnisse dieser umfangreichen Forschung und Bestandsaufnahme gebündelt.

Auf eine weitere Gefahr wies Cramer bereits damals hin: Investoren könnten das ehemalige Grenzgebiet unter Beschlag nehmen und so die letzten historisch wertvollen Spuren löschen. Beim Bau der Mercedes-Benz-Arena wurde schon früh ein Teil dieses deutsch-deutschen Erbes geopfert. Die East Side Gallery wurde bei der Erweiterung des Media-Spree-Projektes gestutzt. Jüngst wurde bekannt, dass der letzte Wachturm des Typs BT 6 an der Erna-Berger-Straße einem Neubau weichen soll – trotz Denkmalschutz.

Umkehrung der Symbolik

Trotz- oder gerade wegen ihrer schrecklichen Vergangenheit ist die Mauer heute längst zur Ikone des Freiheitswillens geworden. Das vom Kurator Rainer Janicki initiierte Projekt “the-wall-net.org” verortet die Spuren der Berliner Mauer auf der ganzen Welt: unter den Palmen des County Museum in Los Angeles oder seit 1990 am nordöstlichsten Rand Europas in Finnland oder vor der Deutschen Schule in Moskau …

Mancherorts gelten die Segmente als Trophäe des gewonnenen Kalten Krieges. andernorts wird vor allem die Umkehrung der Symbolik betont. Die Entwicklung geht von einem trennenden hin zu einem verbindenden Moment. Besucher haben auf “the-wall-net.org” die Möglichkeit, ihre Eindrücke von den Gedenkstätten mitzuteilen. Auf diese Weise kann das Extrakt einer weltweit verknüpften Erinnerungskultur sichtbar gemacht werden. Janicki macht zudem online einzelne Aspekte im historischen Kontext zugänglich.

Exportschlager der DDR

Man könnte zynisch sagen: Die Mauer war der letzte Exportschlager der DDR. Jenseits aller Vermarktung und Touristenbespaßung muss daran erinnert werden, welches Unrecht und Leid dieser Ort hervorgebracht hat. Der spätere Umgang mit dem Objekt Mauer steht für die Widersprüchlichkeit und Vielfalt der historischen Ereignisse. Heute würde eine absolute Deutung dem System nicht mehr gerecht, das vorher in strikt in Gut und Böse trennte. Und falls man jetzt selbst Interesse an einem Stück Berliner Mauer haben sollte: Einige der damaligen Limex-Lizenznehmer sollen noch das ein oder andere Stück horten. Ab und an sind sie auf Ebay erhältlich, zum Liebhaberpreis, versteht sich!

Berlin: der deutsche Botschafter Volker Pellet besichtigt mit dem dominikanischen Außenminister Miguel Vargas Mauer-Reste (Bild: © Deutsche Botschaft, via the-wall-net.org)

Trondheim, Mauersegment vor dem Kunstmuseum Gråmølna (Bild: ©Lars-Ø-Ramberg, via the-wall-net.org)

Titelmotiv: Trondheim, Mauersegment vor dem Kunstmuseum Gråmølna (Bild: ©Lars-Ø-Ramberg, via the-wall-net.org)

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