von Alexander Graf (24/4)
Vor mittlerweile 55 Jahren wurde in Ludwigshafen eines der erstaunlichsten Bahnhofsgebäude der „alten“ Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung errichtet. Und ja, der zeitgenössische Charme der betondominierten Ästhetik der späten 1960er Jahre ist mit dem heutigen Blick auf Architektur und Design vielleicht nicht unmittelbar nachvollziehbar. Auch mag der Gesamtkomplex manchmal etwas merkwürdig verschachtelt wirken. Manch einem mag es gar schwierig bis unmöglich sein, auch nur einen annähernden Überblick über alle Brücken, Überführungen, Treppen und Tunnel zu gewinnen. Aber andererseits ist „Retro“ als Trend ja auch wieder sehr im Kommen und oft stecken hinter einer eher unscheinbaren Oberfläche auch interessante, mitunter gar geheimnisvolle Details. Alles in allem ein guter Grund, um der – bei ihrer Eröffnung im Jahr 1969 einhellig als „modernster Bahnhof Europas“ gewürdigten – Ludwigshafener Zentralstation eine angemessene Referenz zu erweisen, und um gleichzeitig einen kurzen Blick auf die bewegte Geschichte von Verkehrsdrehscheibe und Nahverkehrsanbindung zu werfen.
Ludwigshafen, Vorplatz Hauptbahnhof, 1969 (Bild: Stadtarchiv Ludwigshafen)
Ein Kind der 1950er
Die Konzeption des Ludwigshafener Hauptbahnhofs ist ein Kind der späten 1950er Jahre, auch wenn erste Ideen teils noch deutlich weiter zurückliegen. Damaliges Wirtschaftswachstum und steigende Verkehrszahlen führten in Wissenschaft, Politik und Verwaltung vermehrt zur Einschätzung, dass dem anschwellenden Verkehrsstrom langfristig nur mit einer Entflechtung der einzelnen Verkehrsmittel beizukommen sei. Dementsprechend war der Neubau des Hauptbahnhofes in seiner aktuellen Form und an der heutigen Stelle in ein Gesamtkonzept aus Hoch- und Schnellstraßen, Eisenbahnlinien und teils unterirdisch geführten Straßenbahnstrecken eingebunden. Noch heute zeugen manche Regalmeter an Plänen von der damaligen intensiven Planungstätigkeit der Ingenieure und Verkehrsexperten. Dabei verfolgte man mit dem Neubau gleich mehrere wichtige und anspruchsvolle Ziele: So galt es nicht nur, den Eisenbahnknoten mit seinen komplexen Verbindungen in Richtung Mannheim, Worms, Schifferstadt und zur BASF neu und effizient zu ordnen, man wollte gleichzeitig auch Raum im Herzen der City gewinnen, den Automobilverkehr beschleunigen und eine neue, moderne Ära des öffentlichen Nahverkehrs einläuten.
Bekanntlich lag der ursprüngliche Ludwigshafener Hauptbahnhof als Kopfbahnhof etwa im Bereich des heutigen Rathaus-Centers (1976–1979, Ernst van Dorp), das gerade abgerissen wird. Dies war zwar nah an der Innenstadt, jedoch für den durchgehenden Eisenbahnbetrieb nicht ideal und auch mit einer gewissen städtebaulichen Trennwirkung verbunden. Ob die Verlegung des Hauptbahnhofs eine erste Idee in Richtung „Stuttgart 21“ war? Auch wenn diese Frage unbeantwortet bleiben muss, ist unbestritten, dass durch die Bahnhofsverlegung, die mit einem umfassenden Vertragswerk geregelt ist, Raum für eine neue Nutzung der ehemaligen Bahnanlagen frei wurde. So konnten die bis heute prägende Innenstadtgestaltung entwickelt und die Hochstraße Nord sowie das Rathaus-Center baulich umgesetzt werden. Der Hauptbahnhof zog dafür etwas nach Westen in seine heutige Position um und glänzt seither mit seinem charakteristischen Pylon und der einzigartigen Dreiecksform als verkehrliche Landmarke Ludwigshafens – auch wenn der zur Jahrtausendwende eröffnete Bahnhof Ludwigshafen Mitte am Berliner Platz heute einen Teil der Verkehrsfunktionen übernommen hat.
Ludwigshafen, Modell der Verkehrsneuplanung, um 1965 (Bild: Stadtarchiv Ludwigshafen)
Der Verkehrsknoten der Zukunft
Kühn und modern wurden dabei die verschiedenen Verkehrsebenen übereinandergestapelt, wurden kreuzungsfreie Abfahrten und Verzweigungen der Hochstraßen in Stahlbeton gegossen, wurden Bundesbahngleise und Bahnsteige errichtet, wurden Fußgänger:innentunnel, U-Straßenbahnhaltestelle und Bahnhofsplatz konzipiert, um einen großen, neuen Gesamtentwurf eines Verkehrsknotens der Zukunft zu formen. Dass das eigentliche Bahnhofsgebäude dabei recht zurückhaltend bis unspektakulär geraten ist, mag aus heutiger Sicht untypisch anmuten, passt bei genauerer Betrachtung aber gut ins damalige Verständnis einer eher funktionalen Architektur. Wabenförmige Dachformen erinnern dabei an bekannte Deko-Elemente früher Quizshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.
Ludwigshafen, Bahnhofsrestaurant, um 1969 (Bild: Stadtarchiv Ludwigshafen)
Provisorien mit Langzeitqualität
Um den Ludwigshafener Untergrund ranken sich manche Gerüchte und Vermutungen, teils ist von umfangreichen Bauvorleistungen bei U-Straßenbahn und Stadtbahnbau die Rede, daher ist die unterirdische Ludwigshafener Bahnwelt nicht nur bei Tunnelfreund:innen ein immer wieder intensiv diskutiertes Thema. Tatsächlich gibt es im Bereich der heutigen Haltestelle LU Hauptbahnhof einige interessante Bauwerke und Tunnelstutzen, die für eine mögliche Erweiterung des U-Straßenbahn- beziehungsweise des später geplanten unterirdischen Stadtbahnnetzes gedacht waren. Neben der Verbindung der Gleise 3 und 4 in Richtung Südweststadion gab es von dort aus ursprünglich eine weitere unterirdische Gleisverbindung in Richtung Ludwigshafen Rathaus (eröffnet als Hauptpost) über Danziger Platz. Auch von Gleis 1 war eine Anbindung in Richtung Danziger Platz baulich berücksichtigt worden. Die heutige Tunnelrampe der Straßenbahnlinien 4 und 10 in Richtung Rohrlachstraße und Marienkirche ist baulich gesehen auch nur ein Provisorium, unter dem der Tunnel bei Bedarf noch in Richtung Hauptfriedhof hätte verlängert werden können. Ein Teil dieses Tunnels wurde im Rohbau tatsächlich auch schon mit errichtet. Auf der Südseite der Haltestelle Ludwigshafen Hauptbahnhof gibt es ebenfalls zwei sehr kurze Tunnelstummel in Richtung der Kaiser-Wilhelm-Straße, die zur Anbindung eines Straßenbahn-Rheintunnels nach Mannheim gedient hätten.
Man sieht, die Stadt Ludwigshafen und insbesondere auch der öffentliche Nahverkehr haben sich stets weiterentwickelt und an die neuen Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Anforderungen angepasst. Auch heute ist dieser Prozess noch längst nicht abgeschlossen: Mit dem Stadtumbau „City West“ und der geplanten Umgestaltung der Hochstraße Nord in eine ebenerdige Stadtstraße samt neuem Stadtquartier stehen schon die nächsten größeren Änderungen und Neuausrichtungen des Verkehrssektors ins Haus. Es bleibt also spannend in Ludwigshafen …
Dieser Beitrag ist erstmals im Mai 2019 anlässlich des 50. Geburtstags des Hauptbahnhofs auf der Blog-Seite der Rhein Neckar Verkehr GmbH erschienen und wurde für dieses Heft aktualisiert.
Ludwigshafen, Hauptbahnhof, um 1978 (Bild: Stadtarchiv Ludwigshafen)
Ludwigshafen, Hauptbahnhof, Gleisgelände, um 1969 (Bild: Stadtarchiv Ludwigshafen)
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Inhalt
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