Jochen Schmidt (*1970) gehörte bis 2015 zur „Chaussee der Enthusiasten“, einer Berliner Lesebühne, die immer donnerstags in Berlin-Friedrichshain tagte. Dort sammelte er erste Erfahrungen, wie seine Texte beim Publikum ankamen. Nämlich hervorragend, wenn man die Lacher zählte. Von der Chaussee nun vor die Mattscheibe: 2023 erschien sein mittlerweile 23. Buch „Zu Hause an den Bildschirmen“. Am 16. November 2023 erhielt der Berliner den Literaturpreis der Stahlstiftung Eisenhüttenstadt, der mit 10.000 Euro dotiert ist. SonntagsLese-Initiatorin und mR-Gelegenheitsautorin Danuta Schmidt (nicht verwandt) sprach mit Jochen Schmidt über die Sehnsucht nach Gemeinschaft, Gummizellen-Spielplätze und Bildschirme in Städten.

Wie hat Dich die Nachricht, diese Auszeichnung zu erhalten, ereilt?

Jochen Schmidt: Es ist überhaupt mein erster großer Literaturpreis. Ich wusste gar nicht, dass es diesen Preis überhaupt gibt und dass ich ihn bekomme. Es gibt ja so viele Preise, und dass es auch im Osten mal einen gibt! Ich bekam einen Anruf und man wollte sicherstellen, dass ich den Preis auch annehme.

Passt es zu Dir, dass der Preis aus Eisenhüttenstadt kommt?

Jochen Schmidt: Naja als Ossi hat man immer ein bisschen Angst, dass man wieder abgestempelt wird als Ossi, weil der Preis aus dem Osten kommt. Aber ich freue mich natürlich trotzdem. Natürlich passt der Preis auch, weil ich Eisenhüttenstadt mehrmals erkundet habe für mein Buch „Gebrauchsanweisung für Ostdeutschland“. Ich habe auch viel über die Stadt und das Stahlwerk gelesen und wollte das Werk auch immer einmal besichtigen. Das gehört zur Preisverleihung dazu. Manche hätten das gar nicht gewollt, sagte mir die Dame am Telefon. Ich bin immer dafür, sich Industrie anzugucken, wenn es Industrie überhaupt noch gibt. Dort gibt es ja sogar noch Produktion. Außerdem ist Eisenhüttenstadt durch Tom Hanks (lacht) berühmt geworden.

Du interessierst Dich sehr für Architektur, speziell für die Ostmoderne. Für Dich ist Chemnitz ein Freiluft-Museum für DDR-Architektur, auch Osteuropa interessiert Dich sehr und Du hast viele Städte bereist. Die verschiedenen Plattenbau-Formen hast Du sogar in einem Quartett-Spiel verewigt. Was verbindet Dich emotional mit diesem baulichen Kulturerbe?

Jochen Schmidt: Ja, 2005 haben wir das „Plattenbau-Quartett“ herausgegeben. Mich ärgert oft, wenn unterstellt wird, dass man im Plattenbaugebiet unglücklich sein musste, weil man das Ganze mit den Vorstadt-Ghettos, den Banlieues in Frankreich vergleicht. Damals lebten Akademiker und Fabrikarbeiter in einem Haus, eine völlig andere Mieterstruktur als heute. Für mich war unser Plattenbau-Viertel in Berlin-Buch als Siebenjähriger paradiesisch. Eine bessere Umgebung hätte ich mir nicht denken können, um aufzuwachsen. Die großen Straßen führten rundherum und die Häuser wurden durch kleine erschlossen, wodurch man automatisch Tempo 30 fuhr. Und dort sind wir immer mit unseren Rädern entlang geheizt. Und nach der Schule ab nach draußen. Die Eltern wussten nicht, wo wir waren, und es war ok. Es gab kein Handy und viele hatten kein Telefon. Diese Abwesenheit von den Eltern ist sehr notwendig in der Lebensphase, doch es muss auch halbwegs sicher sein. Und das war es eben. Heute ist alles gepuffert wie in einer Gummizelle und auf diesem Spielplatzboden kommen die Kinder gar nicht mehr in die Situation, Gefahren, Risiko einschätzen zu lernen. Für Eltern ist es schwierig, den Kindern Raum zu lassen und sie trotzdem zu schützen.

Dein neues Buch „Zu Hause an den Bildschirmen“ ist eine Kolumnensammlung Deiner FAZ-Kolumne „Teletext“. Muss man dafür viel Fernsehen?

Jochen Schmidt: Ich habe ja lange Zeit gar nicht ferngesehen und musste dann dafür konkret etwas angucken. Manchmal kommt man zwangsläufig dazu, z.B. im Hotel oder irgendwo hängt ein Bildschirm, manchmal auch ohne Ton und dann geht es eigentlich mehr darum: Wie finden diese Bildschirme eigentlich heute im Leben statt, die ja jetzt überall sind und nicht mehr nur zu Hause. Wie in „Blade Runner“. Da war das Ganze noch eine Zukunftsversion. Ein Stadtbild aus der Zukunft mit riesigen Bildschirmen. Das ist ja heute normal. Ganze Hausfassaden sind manchmal ein Bildschirm.

Ist das Gemeinschaftsgefühl, auch des zusammen Fernsehens durch das Handy komplett gestorben?

Jochen Schmidt: Na komplett vielleicht nicht. Früher war es ja so, dass die Menschen in der Stube saßen, beieinander, eine hat gesponnen, der nächste etwas sortiert und einer hat eine Geschichte erzählt. Man war zusammen und ich glaube nicht, dass die Leute unglücklicher waren. Vielleicht könnte man das in kleinen Formaten reaktivieren. Wir haben heute eine so große Vereinzelung der Menschen und diese wird ständig vergrößert dadurch, dass jeder seine eigenen Medien nutzt. Ich glaube, es gibt in der Gesellschaft wieder eine große Sehnsucht nach mehr Gemeinschaft. Mir hat neulich eine Cousine erzählt, dass ihr Mann nachts in Hotels putzen geht, gemeinsam mit vielen Polinnen. Und dort herrsche immer so eine gute Stimmung wie in einem Kollektiv. Das ist so viel wert, dass ihm die Arbeit jetzt sogar Spaß mache.

Lebst Du lieber in der Vergangenheit?

Jochen Schmidt: Na ja klar. In der Vergangenheit fühle ich mich wohler. Aber ich versuche, teilzuhaben als Künstler am Hier und Jetzt. Doch so richtig interessieren tut es mich erst, wenn es vergangen ist. Es hat mehr Poesie. Es ist heute auch einfach zu schlecht im Vergleich zu dem, was schon da war, was ich schon gesehen und gehört habe.

Hat das neue Buch den höchsten autobiografischen Wert?

Jochen Schmidt: Nicht unbedingt. Aber ich versuche, ein bisschen die Gegenwart festzuhalten, weil ich ja mit den Erinnerungsbüchern sehr weit weg bin davon. Und wenn ich mich dann mit Internet- und Fernsehphänomenen befasse oder wenn ich „Germanys Top Model“ gucke, dann weiß ich, dass das gerade Viele gucken. Ich will ja auch in der Gegenwart bleiben als Mensch.

Jochen Schmidt 2014 in Köln (Bild: Elke Wetzig, CC BY-SA 4.0)

Jochen Schmidt 2014 in Köln (Bild: Elke Wetzig, CC BY-SA 4.0)

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