Nancy Mickel im Gespräch über ein Wiki zu Chemnitzer Plastiken und Skulpturen (25/2)

Sieben Meter hoch, mit Sockel 13 Meter, 40 Tonnen schwer und aus 75 Bronzeteilen zusammengesetzt – das riesige Karl-Marx-Monument in Chemnitz (Lew Kerbel, 1965–1971) ist ohne Zweifel die bekannteste Plastik der Stadt und zudem die zweitgrößte Porträtbüste der Welt. Trotzdem oder vielleicht genau deshalb lassen sich beim Stadtspaziergang zahlreiche viel kleinere und überraschende Kunstwerke aus der DDR-Zeit und den 1990er Jahren entdecken. Sie machen – mal realistisch, mal abstrakt – neugierig auf ihre Hintergründe und ihre Künstler:innen. Um all diese Geschichten zugänglich zu machen, erstellten Nancy Mickel und Peggy Hartmann 2009 während ihrer Ausbildung an der Stadtbibliothek ein Online-Wiki: „Skulpturen und Plastiken in der Chemnitzer Innenstadt“. moderneREGIONAL sprach mit Nancy Mickel über ihre Verbundenheit mit der Chemnitzer Kunst im öffentlichen Raum.

Chemnitz, links: Brückenstraße, Karl-Marx-Monument, Lew Kerbel, 1965–1971; rechts: Theaterstraße, Pinguinkolonie, Peter Kallfels, 2004 (Bilder: Verena Pfeiffer-Kloss)

Chemnitz, links: Brückenstraße, Karl-Marx-Monument, Lew Kerbel, 1965–1971; rechts: Theaterstraße, Pinguinkolonie, Peter Kallfels, 2004 (Bilder: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

moderneREGIONAL: Frau Mickel, was ist ihr liebstes Kunstwerk in der Chemnitzer Innenstadt?

Nancy Mickel: Ganz klar, die Pinguine (Peter Kallfels, 2004). Ich denke, es ist hier bei Familien eines der beliebtesten Kunstwerke. Ich finde aber auch die Geschichte schön, dass der Umriss der Antarktis dem Chemnitzer Stadtgebiet so ähnelt. Dann die verschiedenen Charaktere der Pinguine – und der einfache und wichtige Fakt, dass die Kinder ganz viel Spaß damit haben. Diese Plastik ist für Familien wirklich ein Anziehungspunkt in der Innenstadt.

mR: Wie sind Sie 2007 zu diesem Thema gekommen?

N. M.: Wir hatten als Auszubildende in der Bibliothek im dritten Lehrjahr (2007/2008) immer eine Projektaufgabe, die ich gemeinsam mit meiner damaligen Mitauszubildenden Peggy Hartmann erarbeitet habe. Damals trugen die Kollegen aus der Regionalkunde an uns heran, dass zu den Skulpturen und Plastiken in Chemnitz nur wenige Informationen zugänglich sind. Nur ganz selten gibt es beispielsweise ein ganzes Buch zu einem einzelnen Kunstwerk. Vielleicht für das Karl-Marx-Monument (Lew Kerbel, 1965–1971) oder eben auch für die Pinguine. Aber zu den anderen Arbeiten ist es eher schwierig, auch nur kleine Informationen herauszufinden. Von wem ist die Plastik und was stellt sie dar? Wie heißt sie?

Damals hatten wir natürlich auch nicht die gleichen Möglichkeiten wie heute, mit Google Lens und Co. zu suchen. Man musste schon genau wissen, wie der Künstler oder wie die Skulptur heißt, um überhaupt etwas zu finden. Uns wurde der Vorschlag gemacht, etwas dazu zusammenzustellen, um eine gute Informationsbasis zu schaffen. Denn oft kamen Schüler in die Bibliothek und fragten nach einzelnen Kunstwerken. Ihnen wollten wir weiterhelfen und eben auch Literatur anbieten können. Das waren für die Skulpturen häufig historische Zeitungsartikel, aus der Freien Presse, zu Karl-Marx-Stadt und so weiter.

Chemnitz, Brückenstraße, Kampf und Sieg der revolutionären deutschen Arbeiterklasse, Johann Belz, 1970–1976, unvollendet (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Chemnitz, Brückenstraße, Kampf und Sieg der revolutionären deutschen Arbeiterklasse, Johann Belz, 1970–1976, unvollendet (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

mR: Wo haben Sie all diese Informationen gefunden?

N. M.: Manchmal wussten wir Details wie das Jahr, wann ein DDR-Kunstwerk im Rahmen von „Kunst im Freien“ aufgestellt worden ist. Bei dieser Veranstaltungsreihe wurden viele Plastiken gezeigt, manche wurden danach von der Stadt angekauft und aufgestellt. Und dann gab es verschiedene Fachzeitschriften, die wir durchsucht haben.

In der Regel hat man doch irgendeinen Anhaltspunkt wie den Künstler. Es gibt auch eine Karte von 2001, die zu unserer Recherche zwar nicht mehr ganz aktuell war, die aber sehr weiterhalf: Ist die Skulptur im Rahmen eines Projekts entstanden? Ist sie in einem bestimmten Jahr an ihren Standort gekommen? Wie heißt der Künstler? Wie heißen die Plastiken? Mit diesen Daten haben wir dann alte Zeitschriften durchgeblättert, auch mal einen Monat der „Freien Presse“.

mR: Nach welchen Kriterien haben Sie die Kunstwerke ausgewählt?

N. M.: Schnell haben wir gemerkt, dass es einfach unglaublich viel gewesen wäre, ganz Chemnitz zu erfassen. Das hätte den Rahmen der Abschlussarbeit gesprengt. So haben wir uns gesagt: Schon in der Innenstadt gibt es eine wahre Fülle an Skulpturen und Plastiken. Daneben haben wir ein paar kleine „Ausreißer“ aufgenommen, die lehrreich sind – bis hin zum Kassberg, bis hin zur Synagoge.

Chemnitz, Brückenstraße, Lobgedichte, Joachim Jastram, Martin Wetzel, Eberhard Roßdeutscher, 1972 aufgestellt (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss)

Chemnitz, Brückenstraße, Lobgedichte, Joachim Jastram, Martin Wetzel, Eberhard Roßdeutscher, 1972 aufgestellt, die Stühle im Vordergrund sind Teil der Installation „Seeds & Seats“ (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

mR: Was ist das Besondere an den DDR-Skulpturen in Chemnitz?

N. M.: Schwierig. Es gibt natürlich viele DDR-Kunstwerke im öffentlichen Raum. Diese großen Paradestraßen – die Straße der Nationen oder die Brückenstraße – wollte man mit solchen Plastiken oder Brunnenanlagen aufzuwerten. Bis heute findet sich ja noch viel sozialistische Kunst in Chemnitz, die vielleicht woanders nicht mehr ihren Platz hätte.

Ganz zentral ist natürlich das Karl-Marx-Monument, aber auch das große Relief, das Johann Belz nicht fertiggestellt hat und das sich noch an einer Hausfront befindet (Johann Belz, Kampf und Sieg der revolutionären deutschen Arbeiterklasse, 1970/76). Oder die Lobgedichte (Joachim Jastram, Martin Wetzel, Eberhard Roßdeutscher, 1972 aufgestellt). Die DDR-Skulpturen sind, denke ich, wirklich noch genau an den Plätzen, an denen sie bekannt geworden sind.

 Chemnitz, Sieben magere, Sieben fette Jahre, Ralf Siebenborn, 1998 Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

Chemnitz, Sieben magere, sieben fette Jahre, Ralf Siebenborn, 1998 Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

mR: Haben Sie eine Erklärung, warum gerade Chemnitz so sorgsam damit umgeht? In anderen Städten ist es ja nicht unbedingt so …

N. M.: Sie sind ein Teil dessen, was diese Planstadt ausmacht – wie sie aufgebaut ist mit diesen großen Paradestraßen. Da werden die Skulpturen auch als Teil des Ganzen angesehen.

mR: Es gibt in Chemnitz eine ganze Reihe von Skulpturen und Plastiken aus den 1990er Jahren. Sehen Sie deutliche Unterschiede zu den Arbeiten aus der DDR-Zeit?

N. M.: Nach 1990 geht es mehr ins Abstrakte. Die DDR-Kunst ist natürlich auch schon recht abstrakt. Aber wenn ich jetzt die Plastik „Sieben magere, sieben fette Jahre“ (Ralf Siebenborn, 1998 aufgestellt) vergleiche mit den Arbeiten aus der DDR, dann habe ich das Gefühl: Es hat sich in eine abstraktere Richtung weiterentwickelt.

Chemnitz, Waisenhof, Schwimmer, Johannes Schulze, 1977–1979 (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

Chemnitz, Waisenhof, Schwimmer, Johannes Schulze, 1977–1979 (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

mR: Offenbar verschwinden öfter Skulpturen. Gibt es begeisterte Sammler?

N. M.: Was verschwindet, ist – glaube ich – häufig aus Bronze … Da geht es vielleicht auch einfach um das Metall. Auf der anderen Seite ist es manchmal ein Missverständnis. Zur Bronzeplastik „Schwimmer“ (Johannes Schulze, 1977–1979), die sich im Waisenhof befindet, gab es mehrere Zeitungsartikel. Denn die Bronze-Arbeit war einfach mal verschwunden.

Am Ende kam heraus, dass sie nur vom Amt abgebaut worden war, um etwas am Brunnen zu reparieren. Aber die Anwohner hatten Alarm geschlagen und vermutet, das Kunstwerk wurde geklaut. Es war dann am Ende gar nicht so. Aber beispielsweise die Arbeiten von Wilfried Fitzenreiter sind beliebt. Von ihm gab es noch mehr in der Stadt. Eine ist von einem Dach verschwunden und nie wieder aufgetaucht.

mR: War ihre Publikation zu den Skulpturen von Anfang an als Online-Publikation geplant?

N. M.: Meine Mitauszubildenden haben aus unserem gesammelten Material auch ein Buch gemacht. Davon gibt es allerdings nur drei Exemplare. 2008 war die große Zeit der Wikis. Da Bücher stark limitiert sind, hatten wir die Idee, dass sich der Forschungsstand weiterentwickeln soll: Es kommen neue Plastiken dazu, es verschwinden welche. In einem Wiki kann man das dokumentieren.

Ich habe das Wiki selbst erstellt und pflegte alles ein, was wir bis 2008 gesammelt hatten. Zugleich gab ich Kunstinteressierten die Möglichkeit, weiter zu ergänzen, wenn neue Skulpturen dazu kamen, wenn der Standort sich geändert hat, wenn es einen großen Artikel zu einem Kunstwerk gegeben hat. Aktuell kann man das Wiki nicht mehr bearbeiten. Es soll aber in den Arbeitsbereich „Kunst im öffentlichen Raum“ der Stadtverwaltung übergehen und dann wieder gepflegt werden.

Chemnitz, links: Am Brühl, Das Urteil des Paris (Ausschnitt), Wilfried Fitzenreiter, 1979–1980; rechts: Straße der Nationen, Jugend, Johannes Belz, 1965 (Bilder: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

Chemnitz, links (Titelmotiv): Straße der Nationen, Jugend, Johannes Belz, 1965; rechts: Am Brühl, Das Urteil des Paris (Ausschnitt), Wilfried Fitzenreiter, 1979–1980 (Bilder: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

mR: Was ist Ihnen aus Ihrer Recherche besonders in Erinnerung geblieben?

N. M.: Es war sehr spannend, dass viele kleine Anekdoten und Geschichten rund um diese Kunstwerke existieren. Warum steht der „Jugendbrunnen“ von Johannes Belz (Jugend, 1965), der nach seiner Aufstellung sehr umstritten war, noch heute an Ort und Stelle? Der Brunnen
von Belz wurde für die 800-Jahr-Feierlichkeiten aufgestellt. Da er so strittig war, sollte er nach dem Fest wieder eingeschmolzen
werden. Im Juni 1965 wurde allerdings eine Regierungsdelegation die Straße der Nationen entlang geführt und Walter Ulbricht blieb an dem Brunnen stehen und sagte „Das ist aber hübsch.“ Damit hatte der Brunnen seine Daseinsberechtigung erhalten.

Nancy Mickel arbeitet als Bibliothekarin in der Abteilung Medienpädagogik der Stadtbibliothek. Als Teil des Bibliotheksteams unterstützt sie Kinder und Jugendliche beim Erwerb von Lese-, Medien- und Informationskompetenz. Ihr Wiki ist weiter online zugänglich.

Das Interview führte Verena Pfeiffer-Kloss.


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Keine Werbung (Bild: Dennis Skley, CC BY ND 2.0, 2015, via flickr.com)

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