von Stephanie Herold (24/3)
Junge Architekturen haben es oft nicht leicht: Wir sehen, wie sie entstehen, diskutieren ihre ästhetischen Vor- und Nachteile (oft eher die Nachteile) und begeben uns dann in einen gemeinsamen Alterungsprozess, der in seiner Wirkung auf die Bauten – ebenso wie bei uns – positiver oder negativer ausfallen kann. Inwieweit unterscheidet sich also unser Verhältnis zu diesen sehr jungen Bauten zu dem von älteren? Warum scheinen gerade die Diskussionen um junge Architekturen so emotionsgeladen und welche Emotionen sind dabei eigentlich involviert? Dies will der folgende Artikel am Beispiel des Alexas in Berlin durchspielen. Und um sich voreiligen Verallgemeinerungen entgegenzustellen, startet die Autorin vorsichtshalber bei sich selbst.
Berlin, Alexa (Bild: Torben Fürchtenicht, CC BY NC SA 2.0, via flickr, 2021)
Der Bau und (m)eine Geschichte
Ich lebe seit Anfang der 2000er in Berlin und erinnere mich noch gut an den Bau der Shoppingmall – und damit einhergehend mein Entsetzen, das sich jedes Mal wieder erneuerte, wenn ich mit der S-Bahn an dem Gebäude vorbeifuhr. Inzwischen fahre ich weniger S-Bahn, dafür war ich kürzlich aufgrund einer Verabredung gezwungen, das Gebäude erstmals zu betreten (bzw. erstmals bewusst zu betreten, eventuelle frühere Besuche wurden verdrängt). Und auf einmal kam der Gedanke in meinen Kopf: Was für ein irres Gebäude! Im Grunde sofort unter Denkmalschutz stellen, bevor es, wie so viele Shoppingcenter, dem aktuellen ästhetischen Zeitgeist angepasst wird – und dadurch nicht schöner, sondern nur anders. Und gleich darauf der Gedanke: Wie konnte es passieren, dass ich diesen Gedanken denke?
Viele Menschen kennen das Alexa. Das Einkaufszentrum wurde von 2004 bis 2007 erbaut, nach Entwürfen des Architekturbüros Ortner & Ortner und unter Beteiligung des portugiesischen Architekten José M. Quintela da Fonseca. Der Komplex besteht aus mehreren Baukörpern, was dazu dienen soll, die Struktur aufzulockern und erträgliche Dimensionen zu erzeugen.
Die ursprüngliche Planung sah den Komplex noch etwas pompöser vor: Eigentlich sollte in Richtung Alex an der Ecke ein Hochhaus gebaut werden, auch der östliche Abschluss war deutlich markanter geplant, als ausgeführt. So sollte das Ganze als „große urbane Figur“ und „städtebauliches Herzstück Berlins“ funktionieren, wie von Stefanie Schupp in ihrem Band über zeitgenössische Shoppingarchitektur 2005 – also vor Fertigstellung des Komplexes – optimistisch formuliert. Das Alexa verstand sich dabei durchaus als Teil einer „kritischen Rekonstruktion“, wie sie damals modern war, was sich in den lokalen Bezügen widerspiegeln soll.
Berlin, Alexa (Bild: bilderkombinat berlin, CC BY SA 2.0, via flickr, 2018)
Überdurchschnittliche Ablehnung
Bekannt wurde der Komplex aber auch durch die überdurchschnittliche ästhetische Ablehnung, die er hervorrief – wie gesagt, durchaus auch bei mir. Dazu gibt es wunderbare Zitate. Zum Beispiel wurde es von Ulf Meyer in der Welt 2007 als „eines der schlechtesten Gebäude, die in Berlin in den letzten Jahren fertiggestellt wurden“ bezeichnet. Der Spiegel titelte 2007 „Berlins Graus-Haus“. Will heißen: Die Hässlichkeit des Gebäudes scheint geradezu legendär.
Dabei loben die seltenen wohlwollenden Stimmen gerade das Unangepasste des Gebäudes (mit Bezug auf niemand Geringeren als Aldo Rossi) als konstituierendes Element der Stadt. Aus baukünstlerischen Gründen hebe es sich ab von der anonymen Masse an Häusern und verankere sich so im kollektiven Gedächtnis. Diese Argumente finden sich allerdings weniger im öffentlichen Diskurs als vielmehr in der Werkübersicht der Architekten Ortner & Ortner, wo Kritik schon wegen des Textgenres wahrscheinlich weniger zu erwarten ist. Teil dieses Abhebens scheint auch die Farbgebung zu sein, die in Darstellungen des Architekturbüros noch betont wurde, bei den meisten Betrachtenden jedoch zu der hier dargestellten Verwunderung führte. Nils Ballhausen spekuliert entsprechend in einem Bauwelt-Artikel aus dem Jahr 2007 mit der bezeichnenden Überschrift „Eine Handreichung um Alexa ertragen lernen zu können“: Die Farbgebung basiere darauf, dass Manfred Ortner einfach schon immer ein rosa Gebäude hätte bauen wollen. „Immer hätten die Mitarbeiter es ihm ausreden können, nur diesmal nicht.“ (Er beruft sich dabei auf eine anonyme Quelle aus dem Architekturbüro.)
Die zeitgenössische Kritik bezog sich so meistens auf das äußere Erscheinungsbild. Dabei ist auch die innere Erscheinung erwähnenswert. Auch hier kommen historische Bezüge zum Tragen, die sich vor allem in verschiedenen Art-déco-Elementen und -Zitaten äußern – natürlich in einer spezifischen Shoppingmall-Interpretation. Diese wurde von zeitgenössischen Kritikern wie Reinhard Mohr so kommentiert: „Dabei protzt man im Innern des Alexa sehr aufdringlich mit Art-déco-Elementen aus dieser immer noch sagenumwobenen Ära Berlins. Dazu zitieren großformatige Fotografien aus der ‚goldenen‘ Zeit unverschämt nostalgische Erinnerungen.“ Was genau das Unverschämte daran ist, wird in diesem Kontext nicht genauer erläutert. Doch es könnte mit dem von verschiedenen Seiten geäußerten Vorwurf zusammenhängen, dass Berlin gar keine typische Art-déco-Stadt war und – und hier wird gerne auf Döblins Alexanderplatz als Berliner Nationalepos verwiesen – der Alex sowieso nie schick, bzw. schon gar nicht in den 1920ern. Der Bezug, den das Gebäude herstellen will, wäre somit schlicht falsch!
Auch dieser Vorwurf der Lüge ist natürlich mit Emotionen verbunden. Aber ich möchte meinen Blick auf eine andere Emotion lenken, die durch diese historischen Reminiszenzen getriggert werden sollte, und die schlussendlich vielleicht auch etwas mit unserer heutigen Beziehung zum Objekt zu tun haben könnte.
Berlin, Alexa (Bild: Jim Woodward, CC BY 2.0, via flickr, 2011)
Nostalgie
In ihrem grundlegenden Werk über Nostalgie definiert die amerikanische Historikerin Svetlana Boym Nostalgie als „sentiment of loss and displacement, but […] also a romance with one’s own fantasy“. Das heißt, Nostalgie bezieht sich immer auf etwas, das entweder eine räumlich oder eine zeitliche Distanz zu uns hat. Und gleichzeitig wird dieses Entfernte, dieses Andere durch unsere nostalgische Vorstellung transformiert, erweitert, fort- und zurückgedacht. Demnach geht es Notalgie nur bedingt um Wahrheit, sondern um Erinnerung. Und natürlich steht diese in einem engen Verhältnis zur Wahrheit, ist aber nicht gleichbedeutend.
Insofern scheint es nicht sinnvoll, der Architektur vorzuwerfen, irgendeine Form von Bezügen in einem dann doch sehr offensichtlich zeitgenössischen Gebäude wäre falsch und damit illegitim. Es bleibt jedoch die Frage, wie viele Menschen die Art-déco-Bezüge des Alexas überhaupt sehen oder bewusst wahrnehmen. Und ob diese überhaupt irgendwelche Emotionen (oder irgendetwas) bei irgendjemanden auslösen – in Bezug auf die 1920er Jahre.
Bei mir löste der Besuch der Shoppingmall durchaus nostalgische Gefühle aus – allerdings in Bezug auf die Erbauungszeit des Alexa. Auch diese Gefühle haben teilweise etwas mit Distanz zu tun, und zwar in erster Linie mit einer zeitlichen Distanz. So scheint mir das Alexa mit seinem naiv-verspielten Innenleben und seinem völlig verrückten Äußeren als erfrischender Blick in eine Zeit, als vielleicht noch nicht alles, was in Berlin gebaut wurde, grau und rechteckig war. Vielleicht gab es diese Zeit auch nie, aber das ist Teil meiner „romantic fantasy“. Und so wird das Alexa von einem misslungenen Versuch zu einem „immerhin versucht“. Damit sind wir noch nicht ganz bei Rossi mit seinen konstituierenden Elementen und dem kollektiven Gedächtnis, wir bewegen uns aber durchaus in diese Richtung.
Berlin, Alexa (Bild: prinsesse Lea, CC BY NC SA 2.0, via flickr, 2012)
Gemeinsam alt werden
Vielleicht ist es aber auch viel banaler und es geht um etwas ganz anderes: Etwas, was ich schlicht ‚gemeinsam alt werden‘ nennen möchte und was sich aus meiner Sicht zusammensetzt aus so etwas wie schlichter Gewohnheit und persönlicher Erinnerung.
Denn was passiert, wenn ich heute das Alexa besuche? Ich fange an, den Ort mit meinen Erinnerungen an bisherige Begegnungen anzureichern, und wenn es nur gelegentliche in (aus) der S-Bahn waren. Die Begegnung mit dem Ort verbindet mich mit dem dort Erlebten, der vergangenen Zeit, als eine Form der Erinnerung und Selbstvergewisserung. Der Ort kann so durch seine Verbindung mit meiner Biographie eine Bedeutung erlangen. Im Grunde sprechen wir hier also über „Place Attachment“, über eine emotionale Beziehung zwischen Mensch und Ort. Der Unterschied zu Nostalgie liegt in der Nähe-Distanz-Thematik. Während Nostalgie den Blick von außen auf eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort beschreibt, entsteht Place Attachment aus einer Innenperspektive. Auch Place Attachment kann dabei ein kollektiver Prozess sein, da zum Beispiel durch kulturelle und soziale Prägungen auch kognitive Elemente mit dieser Form der Bedeutungszuschreibung verbunden sind. So können Gruppenzugehörigkeiten entstehen, das heißt Gruppen, die einen Ort als gemeinsamen Bezugspunkt wahrnehmen und ihm eine geteilte Bedeutung zuschreiben.
Berlin, Alexa (Bild: Anke L, CC BY NC SA 2.0, via flickr, 2012)
Reflexive Nostalgia
Dies lässt sich übrigens auch für das Thema der Nostalgie sagen. Svetlana Boym unterscheidet zwischen unterschiedlichen Arten der Nostalgie – aus meiner Sicht in erster Linie, um zwischen böser, nationalistischer und reaktionärer und guter, wie sie es nennt „reflexiver Nostalgie“ zu unterscheiden. Letztere will keine Vergangenheit wiederherstellen, sondern es geht „on the mediation on history and the passage of time“. Es geht also nicht um die Wiederherstellung einer Vergangenheit, sondern um das Nachempfinden – und vielleicht auch die Sichtbarmachung – des Vergehens von Zeit. Für diese vergangene Zeit können auch Bauten wie das Alexa stehen, das einst zwar umstritten aber immer – und vielleicht gerade deswegen – hoch zeitgenössisch und vielleicht auch -typisch war; und das uns nun, in die Jahre gekommen, von dieser vergangenen Zeit berichten kann. Dabei ist es natürlich schön und schmeichelhaft, wenn man sich selbst auf der Seite der reflexiven Nostalgie weiß, denn bei aller Liebe zur Vergangenheit: Wer will schon ein dummer Nostalgiker sein?
Berlin, Alexa (Bild: Tasha Rhoads, CC BY NC ND 2.0, via flickr, 2009)
Klassenkampf und Avantgarde
Auf die Überschrift für meinen letzten Punkt brachte mich ein Zitat aus einem Artikel über das Alexa von Nikolaus Bernau, der schon 2021 in der Berliner Zeitung erschien. Er wurde geschrieben vor dem Hintergrund, dass das Alexa zu Deutschlands erfolgreichsten Einkaufszentren gehört. Diesen Erfolg kontrastiert Bernau in seinem Beitrag mit der massiven Kritik am Gebäude. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Menschen den Erfolg des Alexa eher auf seine Lage und seine Ladenstrukturen und -besetzungen zurückführen, stellt er kritisch fest: „Denn zweifelsfrei ist das Alexa dazu gemacht, die angebliche Massengesellschaft, nicht deren selbst ernannte Eliten zu begeistern.“
Dass geschmackliche Urteile in unterschiedlichen sozialen Milieus unterschiedlich ausfallen, stellte auch Reinhard Mohr in seiner 2007er Kritik bereits fest, allerdings dann doch deutlich weniger selbstkritisch als Bernau: „Das [Chaos bei der Eröffnung] stört nun Cindy aus Marzahn, Mandy aus Hohenschönhausen und alle anderen Berliner überhaupt nicht. Sie wuseln durch die drei Etagen, als hätten sie, 18 Jahre nach der ‚Wende‘, noch nie H&M, S. Oliver, Starbucks, Esprit, Zara, […] Thalia und hundert andere Markenkettenläden von Nahem gesehen, …“. Und während man sich mit Cindy aus Marzahn – immerhin 18 Jahre nach der „Wende“ – noch auf eine ironisch gemeinte Kunstfigur beziehen könnte, hört das doch spätestens bei Mandy aus Hohenschönhausen auf.
Das heißt, im Grunde geht es hier um die Abwertung Anderer auf der Ebene des Geschmacks bzw. des geschmacklichen Urteils. Die Verbindung von Geschmack (gutem Geschmack!) und sozialer Stellung kann in unserer Kultur auf eine lange Tradition zurückblicken. Galt Geschmack doch nie als etwas Angeborenes, sondern als etwas durch Bildung Erlerntes, über das eben auch nur Menschen verfügen konnten, die Zugang zu einer höheren Bildung hatten. Dass sich das auch in moderner Zeit wenig geändert hat, stellt Bourdieu 1979 in seinem Werk „La Distinction“ („Der feine Unterschied“) dar. Hier legt er seine These dar, dass kulturelle (und ästhetische) Präferenzen, also der jeweilige Geschmack, abhängig sind von der jeweiligen sozialen Lage, bestimmt durch Einkommen, Bildung und soziale Herkunft. Bourdieu stellt den Geschmack darüber hinaus als sozialen Mechanismus dar, mit dessen Hilfe sich unterschiedliche Gruppen aktiv voneinander abgrenzen. Dabei bleibt Geschmack etwas Erlernbares, was natürlich auch Auswirkungen auf den „Geschmack“ des Experten, also zum Beispiel des Architekturhistorikers, hat – auch wenn der nichts, was er sagt, jemals als Geschmacksurteil bezeichnen würde.
Berlin, Alexa (Bild: wiseguy71, CC BY ND 2.0, via flickr, 2007)
Zwei Seiten einer Avantgarde
Dies geschieht auch in der Tradition eines modernen Avantgardeverständnisses und in einer gewissen Abgrenzung zu anderen, die vielleicht weniger avantgardistisch sind. Zumindest liegt darin auch eine Gefahr. Denn natürlich ist es cooler, zur Avantgarde derer zu gehören, die erkennen, was doch eigentlich gute Architektur ist – um es dann entsprechend ‚vermitteln‘ zu können. An die anderen, die noch nicht so weit sind. Und natürlich sind das Architekturen, die man kennen und lieben lernen kann. Und natürlich möchte man diese Gedanken teilen und Menschen von deren Wert überzeugen, gerade wenn sie gefährdet sind. Aber wie mache ich das, ohne dabei in die oben beschriebenen Muster zu verfallen? Und damit sind wir bei den ganz großen Fragen angekommen von Erhalt, Entscheiden, Mitsprache und Teilhabe, Expertentum und Partizipation. Und öffnen damit natürlich einen bunten Strauß weiterer Emotionen!
Berlin, Alexa (Bild: Anke L, CC BY NC SA 2.0, via flickr, 2012)
Literatur
Ballhausen, Nils, Eine Handreichung, um „Alexa“ ertragen lernen zu können, in: Bauwelt 42, 2007.
Bernau, Nikolaus, Wirb oder stirb: Warum das Alexa so attraktiv ist, in: Berliner Zeitung, 14. Dezember 2021.
Boym, Svetlana, The Future of Nostalgia, New York 2001, S. XIII.
Jaeger, Falk, Ortner & Ortner Baukunst, Berlin 2016.
Meyer, Ulf, Dieses Alexa ist hässlich wie die Nacht, in: Welt, 11. September 2007.
Mohr, Reinhard, Berlins Graus-Haus. Shopping Mall Alexa, in: Der Spiegel, 12. September 2007.
Schupp, Stefanie, Shopping Architektur. Die neue Welt des Kaufens, Salenstein 2005.
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Bonusbeitrag
Inhalt
LEITARTIKEL: Kann man mögen, muss man nicht
Stephanie Herold und eine emotionale Annäherung an das Alexa in Berlin.
BEITRAG: Eine Pyramide in Franken
Matthias Ludwig und das Hotel Pyramide in Fürth.
BEGEGNUNGEN: Turm oder Nicht-Turm
Ralf Niebergall, Heinz Tellbach, Dieter Wendland, Louis Volkmann, Karin Berkemann und der Kirchenbau in Wendejahren.
BEITRAG: Kunst über Hellersdorf
Niklas Irmen und das Kunstkonzept der 1990er Jahre für Berlin-Hellersdorf.
BEITRAG: Kristalliner Kulturtempel
Vera Emde und der Werdegang des Münchener Kulturzentrums Gasteig.
BEGEGNUNGEN: Moderne unter Glas
Oliver Elser, Daniel Bartetzko und Felix Koberstein uber Wahrnehmungsverschiebungen und moderne Bauten im Miniaturformat.
BEITRAG: Wider den rechten Winkel
Alina Möhrer und zwei Räume der Christengemeinschaft der 1980er und 1990er Jahre.
BEITRAG: Die letzte Dekade
Verena Pfeiffer-Kloss und die West-Berliner U-Bahn zwischen 1985 und 1995.