von Verena Pfeiffer-Kloss (25/2)

Bis vor kurzem war Chemnitz noch die einzige Großstadt Deutschlands, die keine IC(E)-Anbindung hatte. Nun fährt zweimal täglich ein IC von Rostock über Berlin und Dresden in die 240.000-Einwohner:innen-Stadt. Man kann diesen Schnellzug bis zur Hälfte der Strecke zwischen Berlin und Chemnitz mit dem Deutschlandticket nutzen. Von hier geht es dann in die Regionalbahn und der IC fährt leer weiter. Nicht nur, dass es günstiger ist, den vermeintlich langsameren Zug zu nehmen, es ist auch fast genauso schnell. Dass die lange Fahrtzeit des IC eigentlich am Umweg über Dresden liegt, kann hier ausgeklammert werden – zum einen erzählt es sich schöner, zum anderen taugt es als symbolischer Beweis für die vermeintlich blockierende Kraft der konservativen Landeshauptstadt. So oder so: Wer langsam fährt, kommt besser und direkt in die Kulturhauptstadt.

Chemnitz, links: Ensemble Stadthalle und Interhotel Kongress, Rudolf Weißer, 1969–1974 ; rechts:„Blütenstern“, Johann Belz, 1973–1974, Kunst am Bau zu Kongresshotel (Bilder: links: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025; rechts: Reinhard Hölln, CC BY SA 3.0, 2006)

Chemnitz, links: Ensemble Stadthalle und Interhotel Kongress, Rudolf Weißer, 1969–1974 ; rechts:„Blütenstern“, Johann Belz, 1973/74, Kunst am Bau zum Kongresshotel (Bilder: links: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025; rechts: Reinhard Hölln, CC BY SA 3.0, 2006)

Beobachten und Machen

Ähnliches gilt für das ehemalige Karl-Marx-Stadt auch in anderen Bereichen. Seit einiger Zeit beobachte ich – auch als Mitglied des Instituts für Ostmoderne – ein sympathisches und überraschendes Phänomen: Vieles in Chemnitz bewegt sich, nennen wir es Phase eins, zunächst ganz langsam, ja mitunter scheint gar nichts zu geschehen. Dann plötzlich, in Phase zwei entwickeln sich die Dinge ganz schnell, bis alles fertig und überraschend besser ist als gedacht.

So gibt es in Chemnitz längere bleierne Phasen der Skepsis und des Missmuts (insbesondere, nachdem staatliche Akteur:innen „fördernd“ in den Kulturbetrieb eingegriffen haben), was sich gleichzeitig als eine Zeit der Ruhe und sehr guten Beobachtungsgabe erweist. Dann fährt plötzlich wie von Zauberhand ein Ruck in die „Chemnitzer Macher:innen“, wie sie das Programm der Kulturhauptstadt benennt. Ehe man sich versieht, sind alle Ideen in die Tat umgesetzt. Und Ideen gibt es zahlreiche in der hiesigen regen Kunst- und Kulturszene. Dieser Kreativreichtum ist kein Produkt der Kulturhauptstadt, vielmehr ist die Kulturhauptstadt das Produkt dieser speziellen Konstellation und Mentalität.

Chemnitz, „lndustrie und Landschaft des Bezirkes“, Glasmosaik, Carl-Heinz Westenburger, 1983, ehemals im Plenargebäude „Forum“ der SED-Bezirksleistung Karl-Marx-Stadt (Bildquelle: Bildende Kunst, Heft 5, 1984)

Chemnitz, „lndustrie und Landschaft des Bezirkes“, Glasmosaik, Carl-Heinz Westenburger, 1983, ehemals im Plenargebäude „Forum“ der SED-Bezirksleistung Karl-Marx-Stadt (Bildquelle: Bildende Kunst, Heft 5, 1984)

Ostmoderne im Holzkasten

Kunst und Architektur der DDR profitieren aktuell von einer solchen Phase eins der Chemnitzer Vorgehensweise. Von den Gebäuden, der Kunst im öffentlichen Raum und insbesondere der Bildenden Kunst in den Museen scheint tatsächlich noch vieles unangetastet und am angestammten Ort. Davon erzählt auch Nancy Mickel in diesem Heft – im Interview zu den Skulpturen aus der DDR in Chemnitz. Sie bemerkt, dass dies nicht in allen vergleichbaren Städten der Fall ist. Zugegeben, insbesondere eine Skulptur ist unverrückbar. Aber auch dem „Nischl“, dem ikonischen Karl-Marx-Monument, kommt eine gewisse realitätsakzeptierende Duldsamkeit entgegen.

Skurril wird es, wenn Kunstwerke mitten im öffentlichen Raum in einer riesigen Holzbox verharren, wie es seit fast einem Jahrzehnt dem Glasmosaik „lndustrie und Landschaft des Bezirkes“ (1983) von Carl-Heinz Westenburger widerfährt. Einst war es Wandgestaltung im Foyer des nicht denkmalgeschützten Plenargebäudes „Forum“ der SED-Bezirksleistung Karl-Marx-Stadt in der Innenstadt. Nach dessen Abriss wurde die Wand samt Mosaik als einziges Teil des Bauwerks erhalten. Nun ist es vor Wind und Wetter und leider auch vor Blicken geschützt, getreu dem Motto der Kulturhauptstadt „C the Unseen“. An dieser Stelle bleibt es spannend, was passiert, wenn Phase zwei der Chemnitzer Vorgehensweise eintritt: das plötzliche und ruckartige Umsetzen einer Idee. Möge dann bitte die Denkmalpflege zur Macherin werden – und, wie schon so oft in Chemnitz, ein Kunstwerk im öffentlichen Raum einfach versetzen.

Chemnitz, Schauspielhaus, Rudolf Weißer, 1977–1980 (Bild: Boris Kaiser, 2025)

C the Closed

Im Mai 2025 startete ganz überraschend Phase zwei, als das Chemnitzer Schauspielhaus gerettet werden sollte. Rudolf Weißer, auch Architekt des Stadthallenensembles, hatte den Bau von 1977 bis 1980 entworfen und realisiert. 2022 schloss man das Theater wegen Sanierungsarbeiten, im Februar 2025 wurde dann eine dauerhafte Schließung bis hin zum Abriss wahrscheinlich. Auf einen Brief des Instituts für Ostmoderne antwortete der Chemnitzer Bürgermeister nur mit Allgemeinplätzen.

Am 9. Mai wurde dann ein „künstlerisches Aktionsbündnis“ aktiv. Mit Plakaten am Schauspielhaus, auf denen „C The Closed“ zu lesen war (eine Anspielung auf das Motto der Kulturhauptstadt „C the Unseen“), forderte sie die Besetzung des Hauses. Das Schauspiel sei als kultureller Begegnungsort zu erhalten und die geplanten Kürzungen der Stadt im Kulturhaushalt seien zu stoppen.

Chemnitz, Wohngebiet Fritz Heckert, 1976, links: Blick nach Nordwesten, am unteren Bildrand der Südring, dahinter die Paul-Bertz-Straße mit den Wohngebäuden 111–129, 131–149 und 151–169; rechts: sanierter Wohnblock Faleska-Meinig-Straße 138–146 im Fritz-Heckert-Gebiet (Bilder:  links: Bundesarchiv, Bild 183-T0426-0001, CC BY SA 3.0, 1976; rechts: fototro, CC BY SA 4.0, 2013)

Chemnitz, Wohngebiet Fritz Heckert, 1976, links: Blick nach Nordwesten, am unteren Bildrand der Südring, dahinter die Paul-Bertz-Straße mit den Wohngebäuden 111129, 131149 und 151169; rechts: sanierter Wohnblock Faleska-Meinig-Straße 138–146 im Fritz-Heckert-Gebiet (Bilder: links: Bundesarchiv, Bild 183-T0426-0001, CC BY SA 3.0, 1976; rechts: fototro, CC BY SA 4.0, 2013)

Wegsaniert

Im größten Plattenbaugebiet von Chemnitz ist Phase zwei schon durch. Die Rede ist von der Siedlung Fritz Heckert, die sich mit ihren 90.000 Menschen im Süden der Stadt auf fünf Hügel und 7,5 Quadratkilometer verteilt. Beinahe alle Wohnblöcke wurden in den letzten Jahren energetisch saniert und in den handelsüblichen frohlockenden Farben angestrichen. Die langen Wege zwischen den Häusern, denen man früher wahrscheinlich getrotzt hatte, sind noch länger geworden.

Viel leergezogener Wohnraum im Heckert wurde abgerissen, ebenso einige Kaufhallen, darunter die Kaufhalle in Hutholz. Noch 2020 hatte dort das Kunstfestival „Begehungen“ stattgefunden. Eine Installation auf dem Dach machte damals den ganz entgegengesetzten Wunsch der Bürger:innen stark: Wir brauchen hier wieder eine umfassende Versorgungsinfrastruktur! Geblieben ist die ÖPNV-Haltestelle direkt vor der ehemaligen Tür. Der Weg ins Zentrum muss jetzt ausgesessen werden.

Pylonendach am Busbahnhof Chemnitz, Johannes Meyer mit dem Bauingenieur Christian Weise, eröffnet 1966 (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

Pylonendach am Busbahnhof Chemnitz, Johannes Meyer mit dem Bauingenieur Christian Weise, eröffnet 1966 (Bild: Verena Pfeiffer-Kloss, 2025)

An der Bushaltestelle

Glücklicherweise hat die Verwaltung auch den umstrittenen Plan ausgesessen, den einzigartigen Busbahnhof bzw. dessen Pylonendach zu versetzen. 2019 wurde bekannt, dass die „schwebende“ Dachplatte an ihrem heutigen Standort abgebaut werden solle. Stattdessen wollte man sie um einige hundert Meter weiter am Hauptbahnhof wieder aufrichten. Es stand zu befürchten, dass die Stahlbetonkonstruktion diesen Umzug nicht übersteht – und dass ein Wiederaufstellen eigentlich nicht geplant war.

Größerer Gegenwind kam unter anderem durch das Institut für Ostmoderne, das sich zu diesem Anlass gegründet hatte. So konnte eine Pause der Planungen errungen werden, oder eben das Aussitzen der ungeklärten Situation. Einige Jahre später wurde das Vorhaben ad acta gelegt – wegen der hohen zu erwartenden Kosten. Es bleibt zu hoffen, dass hier nicht doch noch Phase zwei der Chemnitzer Vorgehensweise eintritt. Das Pylonendach ist denkmalgeschützt, der Raum darunter leider aufgrund ungeklärter Eigentumsverhältnisse meist ungenutzt.

Chemnitz, Wirkbau, ehemals Maschinenfabrik Schubert und Salzer, Glocken- und Uhrenturm, Erich Basarke, 1927 (Bild: Daniel Schmidt, CC BY SA 4.0, 2016)

Chemnitz, Wirkbau, ehemals Maschinenfabrik Schubert und Salzer, Glocken- und Uhrenturm, Erich Basarke, 1927 (Bild: Daniel Schmidt, CC BY SA 4.0, 2016)

Wahrzeichen der Möglichkeiten

Chemnitz ist und war eine Industriestadt. Das „sächsische Manchester“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat so viele Industriebauten hinterlassen, dass sich viele in der ruhigen Abwartephase befinden oder noch gar nicht entdeckt sind. Das ist gut so, denn das Raumpotenzial in dieser Großstadt wird so schnell nicht versiegen. Und das bietet weiterhin Optionen für kulturelle und neue industrielle Nutzungen.

Besonders rege läuft es aktuell im „Wirkbau“, einem Kulturquartier für Start-Ups, Ateliers, Klubs und Ausstellungen. Am Eingang zum Gelände reckt sich seit fast 100 Jahren der 1927 errichtete, 63 Meter hohe, expressionistische Backsteinturm mit Uhr- und Glockenwerk des Architekten Erich Basarke in den Himmel. Einst stand das architektonisch bemerkenswerte Wahrzeichen für die Textilmaschinenfabrik Schubert und Salzer, die den Wirkbau errichtet hat. Heute vertritt es vielleicht all die Möglichkeiten, die die Stadt noch bereithält.

Chemnitz, Hauptbahnhof, Nordseite vor dem Umbau in den 2010er Jahren, Gunther Dreißig und Werner Kluge, 1978–1984 (Bild: Michael Kümmling, CC BY SA 3.0, 2006)

Chemnitz, Hauptbahnhof, Nordseite vor dem Umbau in den 2010er Jahren, Gunther Dreißig und Werner Kluge, 1978–1984 (Bild: Michael Kümmling, CC BY SA 3.0, 2006)

Beherzte Sofortreaktionen

Auch wenn diese Warteposition recht prominent ist, geht es manchmal ganz anders: Sobald es drauf ankommt, führt schnelles Handeln zu Erstaunlichem. Das beste Beispiel ist die prompte Reaktion der Mehrheit der Chemnitzer:innen, als es 2018 zu rechtsradikalen Ausschreitungen kam. Nachdem Ende August 2018 viele Rechtsextreme die Stadt zu erobern drohten, stellten die Bürger:innen am 3. September – quasi über Nacht – das kostenlose Konzert „Wir sind mehr“ auf die Beine. 65.000 Menschen kamen und der Hashtag #wirsindmehr sorgte für Folgeveranstaltungen, also eine gewisse Verstetigung. Denn was einmal da ist, das bleibt auch gern ein bisschen. Phase eins setzt wieder ein. Unterstützend kommt nun (hoffentlich) hinzu, dass der Kulturhauptstadtstatus an der Abgeschiedenheit der Stadt rüttelt. Dazu muss man sie natürlich schnell erreichen können .

Damit steht am Ende wieder der Hauptbahnhof und in ihm, immer stündlich auf Gleis 5, die Chemnitz-Verbindung: der RE 6 nach Leipzig. Jahrzehntelang wurde die eingleisige und nicht elektrifizierte Strecke mit einem Zug aus einer Baureihe befahren, die mir in meiner Kindheit rund um 1990 sehr vertraut war. Abteile, in denen man die Fenster öffnen konnte. Laute Verbindungselemente zwischen den Waggons, in denen der Fahrtwind pfiff. Rote (oder vielleicht doch dunkelgrüne) Kunstledersitze unter messingfarbenen Schirmablagen. Geschriene Konversationen im Fahrradabteil. Urplötzlich, über Nacht und offenbar zur Kulturhauptstadt, wurde der RE 6 zum roten RE der 2000er Jahre. Schneller kommt man damit nicht an. Ausdauer gehört eben bei Chemnitz dazu.

Chemnitz, Karl-Marx-Monument als Werbeträger beim „Hutfestival“ 2019 (Bild: Kora27, CC BY SA 4.0, 2019)

Chemnitz, Karl-Marx-Monument als Werbeträger beim „Hutfestival“ 2019 (Bild: Kora27, CC BY SA 4.0, 2019)


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Keine Werbung (Bild: Dennis Skley, CC BY ND 2.0, 2015, via flickr.com)

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LEITARTIKEL: Kulturhauptstadt mit Ausdauer

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