von York Pijahn (21/3)

Der 24. Januar 1975 ist ein kalter Wintertag in Köln. Keith Jarrett, 29, Jazzpianist aus den USA mit Schnauzbart und muskulöser Statur, hat kaum geschlafen. Die Nacht hindurch ist er gemeinsam mit seinem Produzenten durch die Alpen gefahren. Von der Schweiz nach Deutschland, von Auftritt zu Auftritt. Der Renault 4 aus dem Jarrett aussteigt ist alt und klapprig. 1400 Zuhörer sollen an diesem Abend kommen, um ihn in der Kölner Oper spielen zu hören, denn er ist, obwohl noch so jung, schon eine Art musikalisches Genie. Er spielt seine Konzerte als reine Improvisation, jedes Konzert ist einzigartig, keine Notenblätter, keine Regeln. Doch an diesem kalten Januartag in Köln wird alles anders laufen für Jarrett. Denn es hat ein kurioses Missverständnis gegeben: Die Veranstalterin, die damals 18-jährige Vera Brandes, hat das falsche Klavier für den Auftritt bestellt. Statt eines Bösendorfer-290-Imperial-Konzertflügels steht auf der Bühne ein Bösendorfer-Stutzflügel. Man könnte sagen: Statt eines Ferraris hat Jarrett einen Trabi bekommen. Und zwar einen kaputten. Die Töne in den hohen und tiefen Lagen lassen sich nicht spielen, ein paar der schwarzen Tasten klemmen, die Pedale funktionieren nicht. Sprich: Das Klavier besteht aus einer einzigen Aufzählung von Macken. Aus Lücken. Fehlende Töne, als hätte eine Gitarre nur drei statt sechs Saiten. Jarrett und sein Manager umrunden das Instrument mehrmals, dann gehen sie zu ihrem Auto. Nein, hier wird Keith heute auf keinen Fall spielen. Zeit aufzubrechen, das wird doch eh nix. Oder?

Mind the Gap (Bild: via pixabay.com)

Mind the Gap (Bild: via pixabay.com)

Ein Ärgernis

Die Lücke. Sie ist in vielen Fällen erstmal vor allem eines: ein Ärgernis. Sie zerdeppert die Harmonie und zieht den Fokus auf das, was fehlt, was falsch ist und mangelt. Sie ist das Gegenteil von Perfektion. “Auf Lücke” zu lernen bedeutet, ins Risiko zu gehen, nicht den ganzen Stoff zu kennen, ein bisschen Angst haben zu müssen, weil man ja vielleicht entdeckt und enttarnt wird. Aber eben auch Zeit zu sparen in der Vorbereitung. Mind the Gap. Die Lücke ist die Lösung all der Nichtperfekten und Pfuscher, die hoffen, so gerade durchzukommen, deren Grundmelodie des Lebens ein ängstliches Wackeln ist. Sympathisch? Total sympathisch. So wie das Lächeln von Georgia May Jagger, der Tochter von Mick Jagger, die – Sie ahnen es natürlich längst – eine riesige Zahnlücke hat. Auch wenn es Dinge gibt, die unangepasster sind als Model zu werden, die Zahnlücke wirkt an Georgia May Jagger wie ein Rest echter Jagger-Wildheit, ein permanent gelächeltes Fuck off.

Die Lücke – sie ist aber auch immer Erinnerung an alles, was genau dort, wo die Lücke klafft, einmal gestanden hat. Der Ort, wo jetzt ein kalter Hauch weht, einem die Augen überlaufen und man sich selbst ein „Weißt Du noch, damals? …“ zuraunt. Der Musiker Peter Licht hat über diesen Zustand 2006 ein Lied geschrieben. Es heißt „Du kommst nicht mehr zurück“. Man macht den Zauber dieses todtraurigen Abschiedslieds vielleicht kaputt, wenn man den Text zerredet. Aber diese Zeile passt vielleicht gut zum Thema Lücke und zu dem Schmerz, der manchmal in der Lücke wohnt: „Wo Du immer noch, immer noch stehst. Ist ein Loch in der Luft.“ Ein Loch in der Luft. Aua. Lücke ist Leere. Das funktioniert in Songs und natürlich auch in Gebäuden. Wie im jüdischen Museum in Berlin von Daniel Libeskind. Voids – Leere – hat der Architekt die fünf schmalen, meist unbeleuchteten Schächte genannt, die man als Besucher begehen kann und in denen man dann traurig, ängstlich und verlassen rumsteht. Hier war mal was, jetzt ist hier nix mehr, die Leute fehlen. Eine unschließbare Lücke in Architektur gegossen.

Trampelpfad (Bild: Ska13351, PD, 2006)

Trampelpfad (Bild: Ska13351, PD, 2006)

Eine Chance

Und trotzdem: Die Lücke ist auch immer die ganz große Chance. Weil es hier in der Lücke noch Platz gibt fürs Regeln-Brechen. Neben dem Mehrfamilienhaus in dem ich in den 70er und 80er Jahren in der Bielefelder Vorstadt aufwuchs, lag ein … ja was eigentlich? Eine räudige Gebüsch-Fläche, durchzogen von Trampelpfaden und alleinstehenden Kiefern. Gelbes Gras in breiten Wellen, dazwischen Reste einer Parkbank, die irgendwer hier mal mehr weggeschmissen als hingestellt hatte. Als Kinder haben wir hier gespielt, an diesem Ort der kein Garten war, kein Park und keine Wiese, sondern ein dreckiger, überwucherter Flecken Freiheit. Unter der Parkbank lagen manchmal zerfledderte Pornohefte, Bierflaschen, Zigarettenkippen, auch wenn wir Kinder nie verstanden, wer sich außer uns hier herumtrieb und so etwas zurücklassen würde. Auch dieser Ort, der von den Erwachsenen verharmlosend „das Wäldchen“ genannt wurde, war: eine Lücke – in der meine Brüder und ich ohne Führerschein Mofa fuhren, mit dem Luftgewehr schossen und die wir zweimal sogar in Brand steckten.

Beim ersten Mal, weil wir uns eine Hütte gebaut hatten, deren Kochfeuer im Inneren außer Kontrolle geriet. Beim zweiten Mal ließen wir einfach so das Gras und die Sträucher in Flammen aufgehen. Weil wir sehen wollten, ob wohl irgendwann die Feuerwehr kommen würde. Die Flammen griffen schnell um sich. Und ich kann mich bis heute an meine Mutter erinnern, wie sie von den Sirenen der Feuerwehr alarmiert zum Wäldchen gerannt kam und mich und meine Brüder anstarrte, während das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge unser Haus von außen zu ohrfeigen schien: „Warum um Gottes willen, habt ihr das getan?“ Warum? Weil das Wäldchen unser Ort war. Weil wir hier die Kings waren. Weil hier unsere Gesetze galten. In diesem dreckigen, überwucherten Königreich. Unsere Lücke. Das Wäldchen ist heute übrigens ein Parkplatz. Lücke geschlossen. Verdammt.

Keith Jarrett, The Köln Concert (Bild: youtube-Still)

Keith Jarrett, The Köln Concert (Bild: youtube-Still)

Eine Schönheit

Köln, 24. Januar 1975. Eva Brandes, die Frau die Keith Jarrett gebucht hat, erreicht jetzt den wütenden Musiker und seinen Manager, die gerade abfahren wollen. Sie bettelt, dass die beiden doch bleiben sollen. Sie fleht. Und Jarrett? Lässt sich schließlich erweichen bevor er sagt: „I play. But never forget: Just for you.“ Die Tontechniker werden angewiesen, keine Aufnahme vom Abend in der Kölner Oper zu machen. Das kaputte Klavier mit all den lückenhaften Sounds, das wird sicher nix, was man sich später nochmal anhören will. Jarretts Manager aber glaubt, dass wenn man sowieso schon all die Aufnahmetechnik hier habe, man ja ruhig das Band laufen lassen kann. Jemand drückt „Record“. Und dann passiert es.

Keith Jarrett hält sich an die mittleren Töne und baut ein sich wiederholendes Bassriff ein. Er variiert die Melodie des Pausengongs der Kölner Oper, worauf jemand im Publikum mit einem Lacher reagiert. Jarrett spielt mit unglaublicher Kraft, weil er Angst hat, dass das kaputte Klavier gar nicht genug Volumen erzeugt. Man hört ihn bis in den Zuschauerraum schnaufen während das Publikum den Atem anhält. Die Musik ist erst zart und spielend, dann pumpt sie durch den Saal, sie umschifft die Lücken des Instruments und zaubert so alles weg: den kaputten Flügel und seine fehlenden Töne, all die Unwägbarkeiten und Macken, 66 Minuten lang. Und so schräg das auch klingen mag: Bereits bei den ersten Tönen spürt man, dass hier etwas ganz Unglaubliches passiert. Echte Schönheit. Das Köln Concert wird die am meisten verkaufte Jazz-Soloplatte aller Zeiten. Musik mit Raum für das Unperfekte, eine klanggewordene Verneigung vor der Improvisation, vor dem Pfusch, aus dem Großes entsteht. Und vor der Lücke, in der manchmal die ganz großen Ideen leuchten.

Keith Jarrett, The Köln Concert (Bild: Plattencover, Detail)

Titelmotiv: Keith Jarrett, The Köln Concert (Bild: Plattencover, Detail)

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Inhalt

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