von Daniel Bartetzko (24/4)
Sie glauben, dass Modellbahnhäuschen früher der Fantasie der Spielzeughersteller:innen entsprangen? Oh nein! Seit jeher haben die meisten dieser Gebäude ein reales Vorbild – auch wenn es variiert oder abgewandelt wird. Fantasiekreationen kommen natürlich vor, sie entstanden aber in der Regel aus realen Versatzstücken mitunter gar mehrerer Vorbilder. Manche dieser Bauten sind zu absoluten Verkaufsschlagern geworden. So der Bahnhof „B-99 Lindental“ von Faller im Maßstab H0 (1:87). Er kam 1961 auf den Markt und überlebte bis Anfang der 1980er Jahre im Programm. Ein moderner Bau mit geknicktem Flugdach, großzügig durchfenstert und mit zwei verglasten Erkern versehen. Im gleisseitigen sind auf zwei Etagen Warteraum und Stellwerk angeordnet. Der Straßenseitige bietet im ersten Stock einem Restaurant Platz und thront zudem auf einem fantastischen V-förmigen Träger. Durch die Fenster blickt man auf einen kleinteiligen Mosaikfußboden. Mehr Zeitgeist lässt sich nicht in ein Bahngebäude packen!
Faller-Modell Bahnhof Lindental, geklebt, ca. 1972 (Bild: Daniel Bartetzko)
Das tausendfache Gütenbach
Der 87-fach verkleinerte Bahnhof hat kein Vorbild. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Man findet reichhaltige, real gebaute Inspirationen in Gütenbach im Schwarzwald, dem Heimatort der Gebrüder Faller und Sitz ihrer Fabrik. Der Firmen-Architekt Leopold Messmer (1928–2020) entwarf ab 1954 nicht nur die Produktionsgebäude, sondern auch die Wohnhäuser von Hermann und Edwin Faller, zudem Werkswohnungen sowie das nur wenige Meter entfernte Erweiterungsgebäude der Uhrenfabrik Hanhart.
Selbst das Rathaus der Gemeinde Gütenbach stammt von ihm. Die Modellbauer bei Faller unter der Leitung von Oswald Scherzinger (1929–2018), haben stets aufmerksam die Pläne der Messmer-Bauten studiert, Herrmann und Edwin Fallers ästhetische Vorstellungen machten ohnehin zwischen Realität und Miniatur keinen Unterschied: Der 1500-Einwohner:innen-Ort, geprägt von der Spielwarenfabrik, sah vor allem in den 1970er Jahren selbst aus, als entspränge er dem Faller-Katalog. Oder im Umkehrschluss: Die Modellbahnen jener Jahre bildeten Gütenbach tausendfach ab!
Das große und das kleine Gütenbach: Rathaus Gütenbach und Bahnhof „Lindental“, beide realisiert 1961/62! (Bilder: links: Andreas Schwarzkopf, CC BY-SA 3.0; rechts: Daniel Bartetzko)
Knick im Dach
Das Rathaus Gütenbach ist unverkennbar Vorbild für Fassade und Dachaufbau des Bahnhofs Lindental, und ein in Realität zurückhaltender Erker darf im Modell gerne spektakulärer interpretiert werden. Die Miniatur hat sogar die ursprüngliche Farbigkeit des Rathauses übernommen. Ein typisches Merkmal des Architekten Leopold Messmer, der 1960/61 auch im Büro von Egon Eiermann angestellt war und am Bau der neuen Berliner Gedächtniskirche mitgewirkt hat, war das geknickte Dach. Die Hanhart-Fabrik weist es ebenfalls auf.
Für diesen Modellbau ist der stilistische Kniff geradezu ideal: Die Spielzeug-Gebäude müssen vor allem aus der Vogelperspektive stimmig und proportioniert wirken – stehen sie doch meist auf dem Tisch oder dem Boden. Welchen Sinn die großen Glasflächen im Dach von B-99 haben, wird ein auf immer ungelöstes Rätsel bleiben. Doch sie sehen gut aus und sind letztlich ein weiteres herziges Detail, und nur darauf kam es an. Auch, ob der gebogene V-Träger unter dem Restaurant allen Erfordernissen der Statik genügt, mag strittig sein. Er ist aber so etwas wie die Signatur dieses Modells: Sagt man „Der Bahnhof mit dem Knickdach und der ulkigen Stütze“, weiß heute noch jeder Hobby-Eisenbahner, welches Gebäude gemeint ist …
„Logisch hält der Träger, Chef!“: Faller, Bahnhof Lindental, Stadtseite (Bild: Daniel Bartetzko)
Wirklichkeitsanspruch versus Statik
Ein Widerspruch bleibt bestehen: Einerseits ist im Modell erlaubt, was gefällt. Andererseits darf solch ein Miniaturgebäude nicht zu unrealistisch geraten. Der noch immer vorhandene Wirklichkeitsanspruch kindlicher und erwachsener Modellbahner:innen bleibt auch im Spiel bestehen. Statisch tollkühn erscheinende Bausätze waren stets Kassenflops; ein Mindestmaß an Wirklichkeit muss auch in ihrer Nachbildung beibehalten werden.
Insofern ist der farbenfrohe Bahnhof Lindental eines der raren Beispiele, in denen ein leicht überkandideltes Design dem Verkaufserfolg nie im Wege stand. Im Gegenteil, 20 Jahre im Lieferprogramm sind eine lange Zeit. Ergänzt werden konnte die Mini-Inkunabel B-99 noch durch das ebenfalls 1961 erschienene „Moderne Stellwerk“ B-122, das – wiederum ohne Eins-zu-eins-Vorbild – noch stärker an die Gütenbacher Hanhart-Fabrik erinnert. In Modellbahnerkreisen hieß es bald „Stellwerk Lindental“, machte sich aber auch ohne diesen Bahnhof auf jeder Modellbahnplatte gut. Seine Produktion endete 1984.
links: Uhrenfabrik Hanhart in Gütenbach mit Erweiterungsbau von Leopold Messmer, 2014; rechts: Stellwerk Lindental, B-122 (Bilder: links: Andreas Schwarzkopf, CC BY SA 3.0; rechts: Daniel Bartetzko)
Form- und farbstark
Lindental hat also eine form- und farbstarke Bahnstation, doch wo mag dieser mystische Ort liegen? Tatsächlich heißt ein Teil der Gesamtgemeinde Ruderberg im Rems-Murr-Kreis so – doch einen Bahnhof gibt es hier weit und breit nicht. Eine Arbeiter:innensiedlung in Krefeld und ein Siedlungsgebiet in Passau tragen ebenfalls diesen Namen. Und die Stadtteile von Köln und Leipzig schreiben sich „Lindenthal“ – mit H.
Wirklich bekannt ist Lindental also nicht. Und doch vertraut. Denn es ist ein vollends unexotischer Name ohne geografischen Bezug. Jederzeit und überall hätte eine neue Siedlung oder ein Naherholungsgebiet so getauft werden können. Als Prototyp einer beschaulichen Klein- oder Mittelstadt im deutschsprachigen Raum passt er nahezu perfekt. Auch In Österreich und der Schweiz gibt es „Lindentäler“, doch an sie hat wohl bei Faller im Schwarzwald niemand gedacht, als man sich 1961 für den auffällig unauffälligen Namen entschied. Lindental: ein Ort, den irgendwie jeder kennt, obwohl niemand weiß, wo er ist.
links: Wo gehts denn hier nach Lindental? – rechts: Kein Bahnhof, nirgends – Rudersberg-Lindental, 2010 (Bilder: links: Daniel Bartetzko; rechts: Gemeinde Rudersberg)
Das Ende der Moderne
Es gab auch reale Nachkriegsmoderne für die Modellbahn. Der Hersteller Kibri hat den formal strengen, von 1963 bis 1966 errichteten Bahnhof Kehl 1969 miniaturisiert – er ist noch heute lieferbar. Und wenige Jahre nach B-99 ergänzte Faller sein Programm 1966 durch einen weiteren prächtigen zeitgenössischen Bahnhof: B-112 „Neustadt“. Der für sich selbst sprechende, universelle Name mag Ausdruck des Willens gewesen sein, sich nicht auf einen Ort festlegen zu lassen (Hauptsache, er ist neu).
Doch hinter Neustadt steckt das 1957 eröffnete Bahnhofsgebäude in Goch am Niederrhein, in diesem Fall übrigens kaum abgewandelt. Wer wollte, konnte den Realnamen am Modell anbringen, er war ebenfalls auf dem Ausschneidebogen mit Schildern, Gardinen und Werbung abgedruckt. Seine Produktion endete 1983, gemeinsam mit dem Bahnhof Lindental. In den Folgejahren erschienen vorrangig romantisierende, historische Modelle; Fachwerk, Sprossenfenster und Rustika setzten zum Siegeszug an. Die Ära der Moderne auf der Modellbahn war vorbei.
Das Faller-Modell B-112 „Bahnhof Neustadt“ (1966) und sein 1957 errichtetes Vorbild, der Bahnhof in Goch (Bilder: Hagen Stier)
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Inhalt
LEITARTIKEL: Ciao, Bahnhofsgaststätte
Jegliches hat seine Zeit – und die Ära der Bahnhofsgastronomie scheint vorbei. Till Schauen über eine bedrohte (Un-)Kultur.
FACHBEITRAG: Hauptbahnhof Ludwigshafen
Der neue Hauptbahnhof Ludwigshafen zählt zu den erstaunlichsten Knotenpunkten der alten Bundesrepublik, sagt Alexander Graf.
FACHBEITRAG: Baudenkmal in kritischer Lage
Ein Kind seiner Zeit – mit langer Vorgeschichte: Bettina Maria Brosowsky über den Hauptbahnhof Braunschweig.
FACHBEITRAG: Seit 1859 im Schatten des Doms
Historismus, Jugendstil, Moderne, Postmoderne: Ulrich Krings über die wechselvolle Geschichte des Kölner Hauptbahnhofs.
PORTRÄT: Auf nach Lindental!
Wo geht’s denn hier nach Lindental? Daniel Bartetzko über einen Bahnhof, den es gar nicht gibt. Aber eigentlich doch.
INTERVIEW: Auf Dampflok-Tour in der DDR
Der Hobby-Eisenbahnfotograf Burkhard Wollny spricht mit moderneREGIONAL über seine DDR-Touren in den 1970er/80er Jahren.
FOTOSTRECKE: Nächster Halt, Pomohausen
Als Bahn-Bauten noch etwas kosten durften: Die 1991 eingeweihte Hochgeschwindigkeitsstrecke Mannheim-Stuttgart ist von begnadeter Postmoderne gesäumt.