von Karin Berkemann (25/3)
In meinem Elternhaus steht ein dunkelbraun gebeiztes Jungendstilvertiko, darin verwahre ich meine Aussteuer. Die Grundausstattung für ein späteres Leben, in dem ich Feste für zwei Dutzend Personen mit mehreren Gängen, Vorlegelöffeln und Servierplatten ausrichte. Das dazu passende Porzellan ist matt weiß, kreisrund mit leichten Schwüngen und stammt vom Traditionsunternehmen Villeroy & Boch – eben passend zu Damast-Tischdecken, Kristallgläsern und Silberbesteck. Den Gegenentwurf dazu lernte ich im Schüler:innenaustausch der 1980er Jahre in Frankreich kennen. Achteckige, glänzend schwarze Teller und Tassen aus gehärtetem Glas: Arcoroc Octime. Das passte zur Einrichtung meiner dortigen Gasteltern mit schwarzen Holzimitatoberflächen, Kunstlederbezügen und Hifi-Turm. Von gutbürgerlicher Wohn- und Tischkultur schien mir all das sehr weit entfernt.

Arcoroc, Octime – Tassen mit Untertassen in der verbreiteten schwarzen Variante (Bild: ebay)
Curated Tableware
Während 24-teilige Porzellan-Service aktuell stark an Wert verlieren, befindet sich Octime auf dem Sprung zum postmodernen Klassiker. Nicht genug, dass es auf der Auktionsplattform ebay als „ikonisch“ angepriesen wird. Inzwischen findet man es zu langsam, aber stetig steigenden Preisen auf so wunderbaren Designplattforen wie „Curated Tableware“. Auch in Sachen Tradition muss sich der Hersteller Arcoroc nicht verstecken. 1825 wurde die Glashütte im nordfranzösischen Städtchen Arques gegründet als Verrerie des Sept Ecluses. Nach mehreren Zusammenschlüssen und Betreiberwechseln gelangte der Betrieb 1911 in das alleinige Eigentum der Familie Durand.
Was Georges Durand bis zum Ersten Weltkrieg zum Großbetrieb ausbauen konnte, avancierte unter seinem Sohn Jacques nach dem Zweiten Weltkrieg zum internationalen Konzern. Der Schlüssel lag im Einsatz industrieller Fertigungstechniken, die Jaques Durand in den 1930er Jahren in den USA kennengelernt und nach Arques mitgebracht hatte. 1958 rief er in der hauseigenen Glashütte die Dachmarke Arcoroc ins leben, die inzwischen Teil der ARC-Gruppe ist. Darin versammeln sich heute Marken wie Cristal d’Arques, Chef & Sommeliers, Arcopal und Luminarc.

Arcoroc – TV-Werbung des Jahres 1993 für die breite Produktpalette der Dachmarke: eine Tasse und Untertasse von Octime (rechtes Motiv, Mitte) umgeben von weiteren Firmendesigns, darunter das bis heute erhältliche „Aspen“ in Blattform (Bild: Film-Stills)
Unkaputtbar
Das Octime-Design traf punktgenau die Bedürfnisse der 1980er und 1990er Jahre. Es verband Anklänge an die klassische Tischkultur (immerhin aß man nicht von Pappgeschirr) mit einem zeitgenössischen Twist. Zudem entsprach das gehärtete Glas den Ansprüchen an praktische Handhabung, denn die achteckigen Teller und Tassen waren stoß-, spülmaschinen- und mikrowellenfest. Und die Achteckform ließ sich fast beliebig auf alle denkbaren Ausstattungsstücke übertragen, vom Milch- und Zucker-Set über den Sektkühler bis zum Aschenbecher. Kurz: Der Griff zu Octime versprach ein unbeschwertes Leben im Look der Zeit.
Auch in der Werbung zeigte sich Arcoroc 1993 noch unbelastet von postkolonialen Bedenken. In einem nostalgisch-indischen Setting besucht eine westliche Schönheit im Safari-Look den Maharadscha, der für sie ein rauschendes Fest ausgerichtet hat. Die Idylle wird gestört, als die Spielzeugmaus eines Kindes den Elefanten (ja, der sprichwörtliche Porzellanladen lässt grüßen) erschreckt. In seiner Panik trampelt er auf dem Geschirr herum, das davon unberührt und intakt wieder aufgesammelt werden kann. Am Ende trinken Europäerin und Inder milde lächelnd ihren Tee und werden überblendet durch das Arcoroc-Sortiment mit dem Slogan: „Durch nichts zu erschüttern“.

Arcoroc, Octime – Achteck-Trinkgläser und -Schüsseldeckel innerhalb der hauseigenen Marke Luminarc (Bild: ebay)
Black & White
Die Anfänge für das Octime-Design liegen in den 1980er Jahren unter der wirtschaftlichen und kreativen Leitung von Jacques Durand. Am beliebtesten war und blieb der Schwarzton, der auch das Wohndesign der 1990er Jahre bestimmen sollte. Aber Arcoroc bot zwei weitere, weniger verbreitete Varianten zum Kauf an: opakes Weiß und ganz transparent. Damit hätte man die Achteck-Form untereinander beliebig nach Farben kombinieren können. Doch blickt man auf die Haushaltsauflösungen auf ebay, dann beharrten die Verbraucher:innen meist sortenrein auf Schwarz.
Octime erwies sich an einer dritten Stelle als äußerst erweiterungsfähig. Das Achteck-Design ließ sich auch auf die hauseigenen Transparentglas-Produkte übertragen. Denn Arcoroc hatte bereits, seiner Firmenphilosophie folgend, mit Luminarc eine praktische und preisgünstige Variante des klassischen Kristallglases aufgelegt. So konnte man unter dem Label Octime – passend zum transparenten, schwarzen oder weißen Essgeschirr – zusätzlich verschiedenste Saft-, Sekt-, Wein- und Schnapsgläser sowie diverse Krüge erwerben. Mal mit, mal ohne schwarzen Fuß. Und transparente Abdeckungen für die Octime-Schüsseln und -Schälchen vervielfachten deren Einsatzmöglichkeiten hin zu Kühlschrank und Mikrowelle.

Arcoroc, Octime – ein Achteck-Aschenbecher in der Originalverpackung (Bild: ebay)
Die Ära des Achtecks
Der Feind des Eckigen ist bekanntlich das Runde, auch bei Arcoroc. So hat sich – an Octime vorbei – eine weitere Designreihe in die deutschen Geschirrschränke geschlichen: das 1978 einem Espenblatt nachempfundene „Aspen“. Online wird es gar als eines der untrüglichen Merkmale geteilt, ob man es mit einer deutschen Familie zu tun hat. Was im Weiterverkauf gerne als „Blattschüssel“ gehandelt wird, macht als Salatschüssel augenfällig Sinn und in seinem organischen Schwung offensichtlich Laune. Damit wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um sich vom Mainstream abzusetzen, den kommenden Klassiker Octime anzukaufen und sich als Geschirrkenner:in zu outen. Und, sollte einmal ein Elefant durch Ihr Porzellanlager stürmen, Sie wären auf der sicheren Seite.

Arcoroc, Octime – alle Stücke (hier der Eierbecher) waren auch in transparentem Glas erhältlich (Bild: ebay)

Arcoroc, Octime – neben transparenten Stücken wurde das Designgeschirr ebenso in den Glastönen Schwarz und Weiß produziert (Bilder: ebay)
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