Es ist eine Debatte, wie sie schon leidentschaftlich rund um die Postmoderne geführt wurde. Meint das „post“ ein „nach“ im Sinne von vorbei und überwunden? Oder geht es um eine Veränderung des Bisherigen unter anderen Vorzeichen? Genau an dieser Nahtstelle treffen sich die beiden Spielarten von Architekturgeschichte, die mehr wollen als den bekannten westlichen Blick: postkoloniale und dekoloniale Forschung. Im frisch erschienenen Aufsatzband „Architectures of Colonialism“ rollt die Architektur- und Stadthistorikerin Itohan Osayimwese das Feld dafür von hinten auf. Sie fragt nach den Vertreterinnen der frühen postkolonialen Architekturgeschichte, wie sie von nicht europäischen, nicht-US-amerikanischen Immigrantinnen in den 1980er Jahren geschrieben wurde, allen voran die Doktorand:innenschulen von Berkeley und Binghamton. Zwar sei die heutige, dekolonial geprägte Forschung weitaus aktivistischer und in ihren Themen breiter gestreut unterwegs. Aber sie solle nicht denselben Fehler begehen, den sie der klassischen Forschung zu Recht vorwerfe: Stimmen auszublenden, weil sie nicht ihrem eigenen Blick entsprechen.
Anlass dieser Spurensuche, wie sie die Publikation aus unterschiedlichen Perspektiven heraus zusammenbindet, war eine internationale Tagung in Brandenburg im Jahr 2021, deren Beiträge nun gesammelt vorliegen. In unruhigen Jahren, als Denkmale kolonialer Zeit wortwörtlich vom Sockel gestoßen wurden, wollte man Architekturgeschichte und den Umgang mit Archivalien neu beleuchten. Jede:r Forscher:in wird in die Pflicht genommen, die eigene Position, die eigenen Diskriminierungserfahrungen (oder deren Fehlen) transparent zu machen. Dem gesamten Band liegt die These zugrunde, dass Geschichte nicht einfach entsteht, sondern gemacht wird. Entsprechend gilt es, das bauliche Erbe kritisch zu hinterfragen, für wen es von Bedeutung ist, welche gesellschaftliche Gruppen es sich teilen und wo es Konfliktflächen bietet. Spätestens mit dem Sturz von Denkmälern hat diese Diskussion über die Architekturgeschichte hinaus ganz handfesten Einfluss auf die deutsche Debatte gewonnen. Unter diesem gedanklichen Dach gliedert sich das Buch in zwei große Kapitel: „Archives and Histories“ und „Heritage and Memories“.
Dass der Aufsatzband zunächst einen weiten Bogen mit (aus deutscher Perspektive) ausländischen Beispielen (von der Eisenbahnarchitektur des 19. Jahrhunderts in Bombay bis zur Basílica do Bom Jesus in Goa) schlägt, ist Teil des methodischen Ansatzes. Und es entpuppt sich gegen Ende des Buchs als gelungener Aufbau. Denn so kann man sich als deutsche:r Leser:in lange in Sicherheit wiegen: Kolonialismus und dessen Erbe, das scheint ein Problem der „Anderen“ zu sein. In den letzten beiden Beiträgen rückt die Erkenntnis näher, dass die Spuren deutscher Großmannssucht auch hierzulande greifbar sind. Als Vertreter der vorderasiatischen Archäologe wirft Reinhard Bernbeck einen langen Blick auf ein 1915 begründetes Kriegsgefangenenlager vor allem für Muslime im brandenburgischen Wünsdorf, samt eigener Moschee. Die Architektin und Kuratorin Anna Yeboah hingegen dekliniert das Thema am Berliner Stadtbild durch, von Straßennamen über die Potsdamer Garnisonskirche bis zum Wiederaufbau des Stadtschlosses. Und kommt zu dem Schluss, dass das Erbe des Kolonialismus in Deutschland gegenwärtig ist und nicht länger geleugnet werden kann. Daher lohnt schon allein aus heimatkundlichem Interesse das Stöbern in den Aufsätzen, die immer wieder augenöffnend wirken. Wer es digital mag, kann auf die Aufsätze im Open Access zugreifen. Und wer lieber blättert, kann das Werk als broschierten Band bestellen. (kb, 12.8.24)