von Ulrich Coenen
Es fühlt sich an wie ein Keulenschlag: Wer die ehemalige katholische Pfarrkirche St. Rochus im Jülicher Heckfeld betritt, ist zunächst fassungslos. Weil der Sakralbau außen völlig unverändert ist, reagieren Besucher:innen auf die riesige Menge Fahrräder, die dort, wo früher Kirchenbänke standen, in zahlreichen Reihen eng beieinander aufgestellt sind, ungläubig überrascht. Sofort drängen sich Fragen auf – nach dem würdigen Umgang mit einem sakralen Raum, nach der angemessenen Umnutzung eines Baudenkmals und was der Architekt Gottfried Böhm zu all dem sagen würde.
Was würde Böhm dazu sagen?
Der Autor dieses Beitrags erlebte Gottfried Böhm, den Architekten von St. Rochus, in der ersten Hälfte der 1980er Jahre noch als Professor für Stadtbereichsplanung und Werklehre an der RWTH Aachen. Beim Interview, das er 2015 mit Böhm in seinem Büro in Köln für die Badischen Neuesten Nachrichten (Karlsruhe) geführt hat, äußerte sich der Pritzker-Preisträger dezidiert zur Frage der Umnutzung: „Von meinen Kirchen erhielt bisher nur St. Ursula in Kalscheuren eine neue Aufgabe als Galerie. Diese Nutzung geht sehr gut mit dem Raum um. Angesichts der zahlreichen Kirchen ist es oft schwierig, neue Aufgaben zu finden. Wenn viele Menschen heute weniger glauben, ist es trotzdem schön, wenn wir in unseren Städten Zeichen haben, die unser Leben auf eine höhere Stufe stellen. Das fehlt mir beispielsweise in Amerika, wo es Ortschaften ohne Kirchturm gibt, die nichts zu sagen haben, was den Menschen etwas höher hinaufhebt.“
Böhm war also nicht nur die Würde des Raums, sondern auch der christliche Glaube wichtig. In Jülich ist davon sehr viel mehr geblieben, als der erste Eindruck beim Betreten von „Toms Bike Center“ mit der Adresse “An der Lünette 7” vermuten lässt. Als Thomas Oellers 2022 die Pfarrkirche vom Bistum Aachen erwarb, war das sogar der nicht unbedingt architekturaffinen Bild-Zeitung eine Schlagzeile wert. „Hier wird bald gekauft statt getauft“, titelte sie.
Die Qual der Wahl
Das rheinische Jülich ist eine Mittelstadt mit rund 35.000 Einwohner:innen: 16 katholische Kirchen vom Mittelalter bis in die Nachkriegszeit gibt es im Stadtgebiet. Die Zahl der Gläubigen und damit auch die Kirchensteuereinnahmen sinken wie überall in Deutschland seit vielen Jahren. Diese Entwicklung hat durch den Missbrauchsskandal dramatische Formen angenommen. Bereits 2013 wurde die Großpfarrei Heilig Geist gegründet, die 14 zuvor selbstständige Pfarrgemeinden und zwei Filialkirchen zu einem Großverband zwangsvereinigt hat. Von historischen Pfarrhäusern trennte sich die Gemeinde Heilig Geist zunächst. Nun sollen 14 Kirchen folgen. St. Rochus ist der erste Jülicher Sakralbau, der an einen privaten Investor verkauft wurde. Lediglich vier „Themenkirchen“ will die Pfarrgemeinde behalten.
Wieso ausgerechnet diese Sakralbauten ausgewählt wurden, ist nur zum Teil nachvollziehbar. Unstrittig ist lediglich die Propsteipfarrkirche St. Mariä Himmelfahrt von Peter Salm (1951/52), der den romanischen Westturm des 12. Jahrhunderts integriert hat. Die Jülicher Hauptkirche im Stadtzentrum wurde wie die gesamte Innenstadt bei einem Luftangriff am 16. November 1944 fast vollständig zerstört. Der große hohe Saalbau Salms orientiert sich mit seinen drei Quertonnen an der Dreischiffigkeit des neuromanischen Vorgängerbaus (Heinrich Wiethase) und zitiert diesen bewusst formal. Der Sakralbau fügt sich gut in den von der Heimatschutzarchitektur geprägten Wiederaufbau der 1950er Jahre ein.
Als Jugendkirche bleibt St. Franz Sales im Nordviertel erhalten. Der achtseitige Zentralbau aus Ziegeln mit Eckstützen aus Stahlbeton entstand 1970/71 als Hauptwerk des Jülicher Architekten Helmut Rademächers. St. Andreas und Matthias im neuen Stadtteil Neu-Lich-Steinstraß, der unmittelbar an die Kernstadt grenzt, soll nach einem Bericht der Kirchenzeitung für das Bistum Aachen von 2021 als Familienkirche dienen. Das Dorf Lich-Steinstraß, das dem Braunkohle-Tagebau weichen musste, wurde ab den 1980er Jahren dorthin umgesiedelt. Die Saalkirche mit Gemeindezentrum ist ein Werk des Mönchengladbacher Architekten Heinz Döhmen und entstand von 1986 bis 1988 in Skelettbauweise als ideelles neues Dorfzentrum. Spolien der alten Dorfpfarrkirche wie das Blausteinportal fanden im Neubau Verwendung.
Die einzige Kirche außerhalb der Kernstadt, welche die Pfarrgemeinde in Zukunft nutzen will, ist die neugotische Pfarrkirche St. Stephanuns in Selgersdorf. Die ehemals dreischiffige kreuzrippengewölbte Halle nach einem Entwurf von Wilhelm Sültenfuß von 1913/14 wurde nach Kriegszerstörungen als Saalbau mit einer entstellenden Flachdecke wieder aufgebaut. Sie schlichte späthistoristische Sakralbau soll laut Kirchenzeitung die Aufgabe einer Trauerkirche erhalten.
Ein Bindeglied
Die übrigen Kirchen der Pfarrgemeinde sollen verkauft werden, darunter nicht nur St. Rochus. Auch für die spätgotische Hallenkirche St. Philippus und Jakobus in Güsten und die romanisch-gotische Staffelhalle St. Martinus in Barmen aus dem 12. bis 16. Jahrhundert mit ihrer wertvollen Innenausstattung werden Investor:innen gesucht. Erstaunlich ist, dass sich das Bistum damit von seinen drei architekturgeschichtlich bedeutendsten Sakralbauten trennen will, während – abgesehen von der Propsteikirche – drei vergleichsweise uninteressante Kirchen weiterhin genutzt werden sollen. Auch St. Rochus, 1961 geweiht, gehört nicht zu den sakralen Hauptwerken von Gottfried Böhm und nicht zu seinen bekanntesten. Doch die Kirche ist ein interessantes Bindeglied zwischen den skulpturalen Betonfelsen des Architekten und den ziegelsichtigen Bauten, die meist jüngeren Datums sind. Es handelt sich um eine dreischiffige flachgedeckte Basilika mit einem Campanile an der Westseite. Die kubische Formensprache lässt an das Frühwerk Böhms denken, die plastische Ausbildung des Betons fehlt in Jülich völlig.
Das hoch aufragende Mittelschiff und der Turm werden von Waschbeton geprägt, die niedrigen Seitenschiffe, die im Osten über den Rechteckchor hinausragen, sind aus roten Ziegeln gemauert. Besucher:innen betreten die Kirche im Westen durch ein überdachtes Bronzeportal. Das hohe Mittelschiff wird von zwei niedrigen Seitenschiffen flankiert. Prägend für den monumentalen kubischen Raumeindruck des Mittelschiffs sind die Holzbalkendecke und die umlaufenden Fensterbänder nach einem Entwurf von Hubert Spierling. Der Rechteckchor in voller Breite des Mittelschiffs erhebt sich drei Stufen über dem Kirchenraum. Beton und Ziegelmauerwerk sind sowohl im Inneren als auch außen sichtbar belassen.
Mit wenigen Eingriffen
Die Eingriffe in den Bestand für den 2023 eröffneten Fahrradladen sind bewusst gering. Die Werkstatt wurde in der Sakristei eingerichtet, im nördlichen Seitenschiff ist mithilfe von Einbauwänden das Büro von Thomas Oellers entstanden. Der Mitfünfziger wurde in St. Rochus getauft, ging dort zur Kommunion und zur Firmung. Für ihn ist die Kirche ein Stück Heimat und entsprechend sensibel geht er mit dem Bestand um. Nirgendwo am Außenbau lässt sich ablesen, dass St. Rochus eine neue Nutzung hat, keine Firmenschilder und keine Werbung verweisen auf das Fahrradgeschäft. Die Werktagskapelle von St. Rochus, die durch einen separaten Eingang von außen betreten werden kann, steht den Gläubigen weiterhin zur Verfügung.
Oellers ist seit drei Jahrzehnten in der Branche, hat das Fahrradgeschäft ursprünglich in einem Laden in Heckfeldstraße 46 betrieben. Dort führten bereits seine Eltern ein Lebensmittelgeschäft mit Bäckerei. Weil es dort eng wurde, brauchte Oellers einen Verkaufsraum mit mehr Fläche und fand ihn in St. Rochus. „Es war schwer, die Banken von diesem Projekt zu überzeugen“, berichtet er. Die Eingriffe, die er im Innenraum vorgenommen hat, sind so gering, dass man die Kirche innerhalb weniger Tage wieder in einen sakralen Raum verwandeln könnte. Auch ein Nachfolger für das Geschäft steht bereit. Die Zukunft von St. Rochus ist also gesichert. Oellers ist ein Glücksfall für die Böhm-Kirche und die Stadt.
Eine Frage der Alternativen
Es hätte Alternativen zur Umnutzung von St. Rochus gegeben. Seit dem Abriss der Stadthalle 2021 verfügt Jülich über keinen entsprechenden Veranstaltungsraum in der Innenstadt. Doch an eine öffentliche Nutzung der Kirche durch die Kommune hat offensichtlich niemand gedacht. So bleibt für eines der bedeutendsten Gebäude im Stadtgebiet nur eine kommerzielle Verwendung.
Auch die katholische Kirche entzieht sich mit dem Verkauf bedeutender Sakralbauten ihrer Verantwortung. Während in Deutschland die Zahl der Pfarrgemeinden immer stärker reduziert wird, bleibt die Zahl der 27 Bistümer unverändert. Die Kirchenfürsten halten Hof, als ob nichts geschehen wäre. Dabei sind die Diözesen längst nicht alle historisch. Das Bistum Essen wurde beispielsweise 1958 errichtet, Aachen 1930. Es wäre sinnvoller, die Zahl der Diözesen deutlich zu reduzieren und Pfarrkirchen und Pfarrgemeinden für die Arbeit an der Basis zu erhalten.
Die Lösung in Jülich ist unter den gegebenen Umständen die bestmögliche und man muss Thomas Oellers dankbar sein. Man darf vermuten, dass auch Gottfried Böhm damit leben könnte. (September 2024)
alle Aufnahmen von St. Rochus in Jülich: Ulrich Coenen, 2024
mehr zum Thema noch bis zum 6. Oktober 2024in der Wanderausstellung “Kirchen als Vierte Orte” in Essen