Während sich Bauten der Nachkriegsjahrzehnte in den abrissfreudigen Nachcorona-Zeiten gerade warm anziehen müssen, ist das Reiseverhalten unversehens in die 1970er Jahre zurückgekehrt. Der öffentliche Nah- und Fernverkehr erscheint durch die Maskenpflicht aktuell wenig gastlich. Stattdessen findet man im Auto oder auf dem Fahrrad einen mobilen Rückzugsraum. Mit dem Picknick im Kofferraum oder auf dem Gepäckträger ist man autark. Der Ausflug in die nähere Umgebung wird oft von einem wohligen Nostalgiegefühl begleitet. Nicht umsonst verbrachte man viele Stunden der Kindheit auf der Rückbank des Volvo oder VW, um sonntags – nicht immer ganz freiwillig – bei Kaffee und Kuchen an der Rheinpromenade ausgelüftet zu werden. Oder auf Bildungsbürgertour vor Schlössern und in Kirchen. Nun gewinnt selbst das innerdeutsche Feriendorf wieder an Reiz. Wo sich einst Westberliner im Harz einen Rückzugsort für den Fall der russischen Invasion schufen, finden jetzt lockdowngeplagte Familien überschaubaren Auslauf.

Michelstadt-Vielbrunn, Parkhotel 1970 (Bild: D. Bartetzko)

Michelstadt-Vielbrunn, Parkhotel 1970 (Bild: D. Bartetzko)

Manche Orte unterstützen das Gefühl der Zeitreise ganz handfest: In Vielbrunn bei Michelstadt wurde vor 20 Jahren ein Hotel stillgelegt. Die Ausstattung blieb – von der Deckenverkleidung über die Sitzgruppe bis zum Handtuchhalter – liebevoll gepflegt erhalten. Erst seit 2010 können die Räume wieder unter dem Namen Parkhotel 1970 für Übernachtungen, Feiern und Fotoshootings gebucht werden. Das Ursprungshaus, mitten im malerischen Fachwerkdörfchen, stammt aus dem 17. Jahrhundert. Im Jahr 1870 wurde erstmals eine Gastwirtschaft angemeldet – und das Hotel nach dem Krieg Stück für Stück erweitert. Vor einigen Jahren wurde das Anwesen aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Inzwischen ist das Parkhotel 1970 beliebt für Oldtimerausfahrten und Fotoshootings.

Phantasialand, Gondelbahn “1001 Nacht”, 1984 (Bild: Stefan Scheer, CC BY SA 3.0 oder GFDL)

Auch andere Anbieter der Naherholung wollen sich die neue Häuslichkeit zu Nutze zu machen – darunter Freizeitparks wie das Phantasialand, das sich ab 1967 aus einem Märchenpark heraus zur Parallelwelt entwickelt hatte. Seit den 1980er Jahren boten Themenfahrten wie die Gondelbahn “1001 Nacht” die Illusion einer Weltreise zum Tageseintritt. Im Sommer-Werbespot 2020 sieht man nun begeisterte Familien, adrett mit Mundnaseschutz ausgestattet, auf der Wildwest-Achterbahn oder im chinesischen Dorf. Hier könne man “Corona entfliehen” und den Kurzurlaub sogar im Themenhotel genießen. Wem die bundesdeutsche Variante von Disneyworld nicht behagt, der kann es im heimischen Freibad oder auf Brutalismus-Fototour versuchen. Es ist an der Zeit, eine neue Kindergeneration mit Kaffee-und-Kuchen-Ausflügen zu traumatisieren. (13.7.20)

Karin Berkemann

Titelmotiv: Wolfshagen, Nurda-Ferienhäuser (Bild: historische Postkarte, wohl 1970er Jahre)

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