Da waren jene Italienurlaube in den 1970er Jahren, als der Vater vor romanischen Kirchen die große Baukunst erklärte. Als der Sohn derweil mit dem Micky-Maus-Heft in eine nochmals andere Welt abtauchte. Die Begeisterung für Architektur sprang zwischen den Sprechblasen dann doch irgendwie über. Später. Ähnliche Szenen fotografierte Hans Haacke 1959 in Kassel auf documenta II: Ein Junge versinkt vor einem abstrakten Gemälde in seiner Comic-Lektüre, ein Mädchen ist mehr von seiner Plüschkatze fasziniert als vom Pollock-Dripping, eine Nonne sucht im Ausstellungsführer verzweifelt nach dem tieferen Sinn der vor ihr aufgebauten Plastik. Jene Fotografien werden aktuell auf der documenta XIV gezeigt. Hier blicken viele zeitgenössische Künstler zurück auf die Entstehungsjahre der documenta, als Kassel selbst gerade wiederaufgebaut wurde. So ist es nur konsequent, dass sie ihre Werke dort auch an außergewöhnlichen Orten der Architekturmoderne zeigen.

Kommen und Bleiben

Kassel kämpft noch immer mit dem Image der “hässlichen”, der kriegszerstörten Stadt. Doch dieses Mal präsentiert sich die nordhessische Metropole auch von ihrer nachkriegsmodernen Seite: Das Kuratorenteam hat die Kunstschau über das ganze Stadtgebiet (und streng genommen auch das von Athen) verteilt. Damit kommen auch einige sonst verschlossene Räume zu neuer Geltung. Der einstige Hauptbahnhof z. B. wird seit der Eröffnung des ICE-Halts Kassel-Wilhelmshöhe noch als Nahverkehrsknotenpunkt und “Kulturbahnhof” bespielt. Doch die dazugehörige U-Bahn-Station, 1968 mit urbaner Geste eröffnet, verlor völlig ihre Funktion und wurde 2005 geschlossen. Zur documenta öffnete man den Zugang wieder und ließ einige Künstler dort ihre Arbeiten inszenieren: Der in Kalkutta geborene Nikhil Chopra schlug als Teil seiner Performance ein Zelt auf, das auf einer Wanderung nach Kassel mit Landschaftsmotiven ausgemalt worden war. Und der Grieche Zafos Xagoraris verwies mit seinem Willkommensschild “Chairete” (Seid gegrüßt!) an den Gleisen auf die deutsche Kriegsgefangenschaft seiner Landsleute im Jahr 1916.

Die Verlockung der Worte

An solchen documenta-Orten rückt die ausgestellte Kunst für manche Besucher fast in den Hintergrund. Zu groß ist die Entdeckerfreude, sei es über das Betonglasmosaik (1968, Dieter von Andrian) im unterirdischen Bahnhof oder die brutalistische Weite der zur “Neuen Neuen Galerie” umfunktionierten Neuen Hauptpost (1975). So lohnt auch ein Abstecher in die zeitgleich geöffneten kirchlichen Ausstellungsprojekte: St. Elisabeth (Armin Dietrich, 1960) am Friedrichsplatz und die Karlskirche (1710, Paul du Ry, 1957 wiederaufgebaut) an der Frankfurter Straße. In St. Elisabeth hatte Stephan Balkenhol schon zur letzten documenta XII mit seinen Holzskulpturen für Gesprächsstoff gesorgt. 2017 spannt Anne Gathmann unter dem Titel “Statik der Resonanz” einen weiten Bogen aus Aluminium-Elementen durch den Nachkriegsraum. In der Karlskirche inszeniert Thomas Kilpper den Glockenturm als “Leuchtturm für Lampedusa!”. Und im Inneren verarbeitet die indische Künstlerin Shilpa Gupta die wortorientierte, die hugenottische Tradition des Kirchenbaus: Eine riesige Traube aus Mikrofonen strahlt die Klangfolge “I keep falling at you” in den Raum.

Räume neu besetzen

Die Installationen in der Kasseler Karlskirche gehören zum umfassenden Ausstellungsprojekt “Luther und die Avantgarde”, das in Kassel, Berlin und Wittenberg zum Reformationsjubiläum zeitgenössische Kunst präsentiert. Gerade in der Lutherstadt kommen dabei unerwartet moderne Orte zum Tragen: das Alte Gefängnis und die Exerzierhalle. Beide Jahrhundertwendebauten am Rand der vielbesuchten Altstadt wurden für kulturelle Anlässe hergerichtet. Im Alten Gefängnis zeigt u. a. der kunstvoll überdrehte Jonathan Meese sein Werk “Die 95 Thesen des Teufels”. Und am überzeugendsten wurde das etwas übergroß angelegte Reformationsjubiläum, wo die Aktionen mit Handfestem, mit Architekturprojekten verbunden wurden. In der Exerzierhalle zeigten das Marburger Kirchbauinstitut und die Wüstenrotstiftung Beispiele und studentische Entwürfe rund um die Kirchennutzung. Einige Studierende nahmen sich zudem leerstehender Ladenlokale (wovon es in Wittenberg erschreckend viele gibt) an. Die studentische Aktion ist mit der (tief Luft holen) “Woche der Spiritualität” zwar abgeschossen, aber die von einer Publikation begleitete allgemeine Ausstellung läuft noch bis zum 5. September 2017. Alle übrigen beschriebenen Installationen können noch bis zum 17. September bewundert werden. (db/kb, 24.7.17)

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