von Felix Wellnitz

Wohnhäuser kommen als Fallstudien an der BHT (Berliner Hochschule für Technik) selten in Frage, weil sie für Kurse mit rund 50 Studierenden in aller Regel nicht zugänglich sind. Da macht eigentlich auch die Waldsiedlung keine Ausnahme, die gerade auf die deutsche UNESCO-Vorschlagsliste gesetzt wurde (sie soll das 2008 ausgewiesene Weltkulturerbe „Berliner Siedlungen der Moderne“ ergänzen). Eigentlich, denn hier standen den Studierenden für das ganze Sommersemester 2023 ein Reihenhaus und eine kleine Geschosswohnung, beide entworfen vom Architekten Bruno Taut, für das Modul „Reallabor“ zur Verfügung. Ein Glücksfall, denn ohne Zögern öffnete die Familie Homann-Herterich ihre Türen. Die gerade leerstehenden Häuser werden aktuell restauratorisch erfasst und beprobt, und dabei konnten die Studierenden lernend helfen.

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung: Blick über das durchgrünten Areal (Bild: BHT Berlin, 2023)

Unter Waldkiefern

Die Waldsiedlung, auch unter den Namen Onkel-Tom- oder Papageiensiedlung geführt, ist eine der bekanntesten Berliner Großwohnsiedlungen der 1920er Jahre. Initiiert von Stadtbaurat Martin Wagner als Schlüsselprojekt seiner gemeinwohlorientierten Wohnungsbaupolitik, entwarf Bruno Taut ab 1924 mit Hugo Häring und Otto Rudolf Salvisberg 1100 Geschosswohnungen und 800 Reihenhäuser für die gemeinnützige Heimstätten AG (GEHAG) im Bezirk Zehlendorf. Die damals zwanzigjährige Architektin Ludmilla Herzenstein realisiert ab 1926 als Bauleiterin alle Häuser der Siedlung in rund sechs Jahren, was in der Forschung bisher nur spärlich oder gar nicht zur Sprache gekommen ist. Die Außenraumplanung verantworten die Landschaftsarchitektin Martha Willings-Göhre und ihr Kollege Leberecht Migge.

Trotz der hohen Dichte und der Größe der Siedlung wirken die Baumassen stets angenehm maßstäblich. Große Waldkiefern überragen Häuser und Gärten. Schmale rückwärtige Erschließungswege durchqueren die Grün- und Straßenräume und machen die Siedlung durchlässig. Die Architektur erlaubt eine individuelle Adressbildung, nicht zuletzt durch die farbige Unterscheidung der gereihten Einheiten. Die der Selbstversorgung dienenden Gärten werden über kleine Veranden vom Wohnzimmer aus erschlossen. Auch die Mietwohnungen verfügen alle über Loggien. Die Grundrisse sind auf die wesentlichen Funktionen des Wohnens hin optimiert und bieten eine hohe Funktionalität auf kleinem Raum. Eine schnelle und günstige Errichtung, gute Besonnung und Querlüftung wie auch ein wirtschaftlicher Kohleverbrauch im Betrieb konnten so verwirklicht werden.

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung: Studierende erfassen die bauzeitlichen Details (Bild: BHT Berlin, 2023)

In acht Teams

In drei- bis fünfköpfigen Teams arbeiteten die BHT-Studierenden an den Themen Baugeschichte, Oberflächen und Farben, Dach und Dachraum, Außenwand, Öffnungen und Fenster, Treppenkonstruktionen, Außenraum- und Terrassenkonstruktionen sowie Technik und Energiebilanz im Reallabor Bruno Taut. Mit einer Führung des Nachbarschaftsvereins Papageiensiedlung startete das Projekt im April 2023. Neben fachlichen Inputs und Rückspracheterminen an der Hochschule war das Projekt von regelmäßigen Arbeitsterminen vor Ort geprägt. In Ergänzung zu Foto, Skizzenbuch und Stift standen den Studierenden alle notwendigen Messgeräte zur Verfügung.

Unbestrittenes Highlight des Projekts war die Work-in-Progress-Ausstellung am ersten Juliwochenende nach einer Idee und organisiert von Familie Homann-Herterich. Die Studierenden haben eigeninitiativ ihre Arbeitsstände in Form von Skizzen, Collagen, Farbkarten, und im Garten arrangierten Wandmodellen und nachgestellten Balkenlagen vor Ort präsentiert und in sechs Führungen Methoden, Thesen und erste Ergebnisse persönlich vorgestellt. Interessierte Lai:innen, Nachbar:innen, andere Studierende und Fachkolleg:innen meldeten sich zu den Führungen an, die schnell überbucht waren.

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung: Kastenfenster der Bauzeit lassen sich gut ertüchtigen (Bild: BHT Berlin, 2023)

Baugeschichte und Farbkonzept

Eindrücklich erarbeitete die Gruppe „Baugeschichte“, wie der progressive Stadtbaurat Martin Wagner gegen politische Widerstände im zutiefst bürgerlichen Bezirk Zehlendorf ankämpfen musste. Eigens würdigten die Studentinnen auch das Oevre Ludmilla Herzensteins, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine beeindruckende Karriere als Architektin und Stadtplanerin machte und u. a. das Referat für die Wohnstättenplanung im Ost-Berliner Hauptamt für Stadtplanung leitete. Ein weiteres Team beschäftigte sich mit dem Schwerpunkt „Außenraum-, Terrassen- und Balkonkonstruktionen“: Im untersuchten Reihenhaus konnten sie eine der letzten, bauzeitlich erhaltenen Verandakonstruktionen dokumentieren. Die Gruppe „Oberflächen und Farben“ hat historische Farbtafeln mit heutigen Farbcodes abgeglichen und eigens einen Taut-Farbfächer entwickelt, der bisherige Annahmen korrigierte und bei der laufenden Restaurierung berücksichtigt werden soll.

Das Team „Dach und Dachraum“ beleuchtete beispielhaft die Gleichzeitigkeit von Tradition und Innovation der Bauwende in den 1920er Jahren: Während eine mittelalterlich anmutende Lehmwickeldecke mit Torfoleum-Dämmung die flache Warmdachkonstruktion der Reihenhäuser bildet, tragen industriell gewalzte Stahlprofile die Drahtglasdächer der Veranda oder spannen als Pfetten über weite Distanzen in den belüfteten Kaltdachräume des Geschosswohnungsbaus. Sowohl das Flachdach des Reihenhauses als auch die oberste Geschossdecke im Mehrfamilienhaus lassen sich ressourcenschonend dämmen. Auch für das Warmdach sind erste Dämmstoffe mit Recyclinganteil auf dem Markt. Das studentische Team „Erschließungswege und Treppenkonstruktionen“ konnte aufschlüsseln, worin sich Taut vom repräsentativen Berliner Treppenhaus des 19. Jahrhunderts mit seinen Teppichläufern und gedrechselten Holelementen unterschied: In der Waldsiedlung entstand eine schlichte, gut belichtete und durchlüftete Raumzone mit bestens zu reinigenden Linoleumbelägen und lackierten Stahlrohrgeländern.

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung: Farbzuordnung an der historischen Fassade (Bild: BHT Berlin, 2023)

Wand und Energie

Wahrscheinlich erstmals in dieser Detailtiefe analysierte die Gruppe „Außenwandkonstruktionen“ die innenseitig freigelegten Verbände und verifizierte mit einem Endoskop Hohlräume. Die Studierenden fanden sowohl einschalige als auch zweischalige Wandquerschnitte: Eine 38 Zentimeter starke Vollziegelwand bildet die Außenhülle in den Hauptnutzräumen, während die kleinen Bäder, der Dachraum und der Eingangsbereich von einer 28 Zentimeter schlanken Hohlraumwand vom Außenraum getrennt werden. Kelleraußenwände und innere Trennwandkonstruktionen sind aus dem erst Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten, hochdichten Kalksandstein gemauert. Die Studierenden schlugen zwei Innendämmvarianten vor: eine denkmalplan-konforme, acht Zentimeter starke Dämmplatte und Dämmputz auf Aerogelbasis mit nur einem Zentimeter Dicke.

Gleich zwei Gruppen widmeten sich dem Thema „Öffnungs- und Fensterkonstruktionen“, da deren Aufmaß und Dokumentation im Detailmaßstab besonders zeitaufwändig ist. Die Öffnungen werden von ausgemauerten Stahlprofilen überspannt, die mit Drahtgewebe bewährt und bis heute weitgehend schadenfrei überputzt sind. Die Fenster – in den Reihenhäusern außen bündig, im Geschossbau traditionell im Anschlag eingebaut – sind gut erhalten, gangbar und in vielen weiteren Häusern der der Siedlung noch vorhanden. Die Studierenden haben in den beheizten Wohnräumen und Bädern Kastendoppelfenster vorgefunden, während in den unbeheizten Treppenräumen Einfachfenster eingebaut worden sind. Als Holzkonstruktionen mit ingenieurmäßigen Eckverbindern aus Stahl stellen sie eine Weiterentwicklung des traditionellen Berliner Kastenfensters dar Zur Bauzeit wurde die Holzoberflächen mit Ölen eingefärbt, über die Jahre jedoch vielfach lackiert. Im aktuellen Sanierungsprojekt sollen sie wieder ölbasiert und in den u. a. von der Farbgruppe verifizierten Tönen beschichtet werden. Die Teams schlagen vor, die Kastenfenster mittels einer schmalen Isolierglasscheibe oder Vakuumverglasung in den Innenflügeln, Einbau von Schlauchdichtungen und Beibehaltung des leicht belüfteten, vorgelagerten Zwischenraums auf das Niveau eines neuen Isolierglasfensters zu bringen. Aufgrund der großen Tiefe der historischen Kastenkonstruktion verhält sich die Einbauwärmebrücke im Vergleich zum Einbau eines neuen Fensters unkritisch.

Aufgabe der Gruppe „Technik und Energiebilanz“ war die Erstellung eines digitalen Bestandsmodells mit gleicher Geometrie, Materialien und bauphysikalischen Kennwerten. Darüber hinaus sollte in diesem Modell ein Ertüchtigungskonzeptes entwickelt werden, das künftig einen möglichst CO2-freien Betrieb bei minimalem Ressourceneinsatz gewährleistet – und das auch noch im Einklang mit Denkmalschutz und Welterbestatuten. Dabei sind alle Ergebnisse der anderen Arbeitsgruppen eingeflossen und im wechselseitigen Austausch verschiedene Varianten entstanden. Am Ende war klar, dass die kompakten Wohneinheiten und das moderne Entwurfsprinzip des Reihens und Stapelns eine sehr gute Voraussetzung dafür sind, effizient zu heizen. Auch mit den Einschränkungen aus den Denkmalwerten und der Minimierung des grauen Energieaufwands lassen sich die zu einer Reduktion der CO2-Emissionen um mindestens 50 Prozent reduzieren. Das serielle Bauen erlaubt zudem, die Lösungen aus den Fallbeispielen auf die meisten anderen Siedlungshäuser zu übertragen.

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung: Ausstellung und Diskussion der Gruppenergebnisse (Bild: BHT Berlin, 2023)

Wie vor 100 Jahren

Die Studierenden konnten in der Waldsiedlung viele Qualitäten und Potenziale identifizieren, die gute Voraussetzungen für eine klimaangepasste Ertüchtigung darstellen. Auch einem heißeren Klima und extremen Wetterlagen werden die Großsiedlungen der Moderne standhalten, wenn sie mit dem Wissen um Stärken und Schwächen behutsam weiterentwickelt werden. Die wichtigsten (bau)klimatischen Eigenschaften des historischen Bestands lesen sich regelrecht wie ein Planungsleitfaden für nachhaltiges Bauen im Jahr 2023: Versickerung, Verdunstung und Verschattung. Die Großsiedlung ist eine Gartenstadt – der hohe Anteil an grünen, unversiegelten Flächen und der große Baumbestand verhindern eine Überhitzung durch Verdunstung und Verschattung. Bei starken Niederschlägen kann Wasser versickern, gespeichert und dem Grundwasser zugeführt werden.

Mehrheitlich sind die Gebäude nach Osten und Westen ausgerichtet und bieten private Außenräume als Terrasse, Balkon und Garten. Die gut belichteten und belüfteten Wohnungen, gestaltet als Low-Tech-Konzept im rationalisierten Bauen vor 100 Jahren, erfüllen auch heute alle Anforderungen an ein gesundes Wohnen. Mit wenig Wärmedämmung lassen sich die Heizlasten ausreichend senken und mit Wand-, Decken oder Fußbodenheizung und einer Wärmepumpe betreiben: Durchschnittlich genügt dafür ein Wärmedurchgangskoeffizient der Wände von 0,7 W/m²K (Watt pro Quadratmeter und Kelvin) der Wände, was den Förderstandard „Effizienzhaus Denkmal“ erfüllt. Historische Wandquerschnitte und Fensterkonstruktionen sind aufeinander abgestimmt und lassen sich gut ertüchtigen. Mit neuen Hochleistungsdämmstoffen genügen of schon Stärken von 15 Millimeter, sodass die historischen Proportionen innen und außen erhalten bleiben können. Mittlerweile ist Photovoltaik (PV) auf den flachen Dächern auch im Denkmal erlaubt, was ein hohes Potenzial für die effiziente Nutzung von Umweltwärme mit Wärmepumpen birgt. Als Umweltwärmequellen kommen Geothermie, Außenluft oder Hybridkollektoren (PV und Solarthermie) in Frage. Alternativ dazu sind die Geschosswohnungsbauten der Siedlung schon heute weitgehend an das Fernwärmenetz angeschlossen.

Unter den vielen, bereits durchgeführten Projekte im Modul Bauforschung und Bauwerksdiagnostik nimmt das Reallabor Bruno Taut eine besondere Stellung ein. Neben dem großen Engagement der Studierenden ist die Erkenntnis hervorzuheben, dass diese Bauwende vor 100 Jahren Parallelen zu den heutigen Herausforderungen aufweist. Noch bemerkenswerter ist, dass Ideale des modernen Städtebaus und der Architektur der 1920er Jahre offensichtlich Potenziale für die dringend benötigte klimagerechte Ertüchtigung des Bestandes bieten. Wenn die Zukunft des Bauens im Bestand liegt, dann werden Bauforschung und Bauwerksdiagnostik eine größere Rolle an den Hochschulen wie auch in Praxis spielen müssen. (Dezember 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung: Gruppenbild des Reallabors Bruno Taut (Bild: BHT Berlin, 2023)

Studierende im Reallabor

Außenraum, Balkon- und Terrassenkonstruktionen: Laura Bernholz, CK Carlotta Knossalla, Hanna Beate Witzorkiwitz; Außenwand: Ioana-Andreea Floroiu, Sara Majd, Claudius Pompe, Jonas Schoeller; Baugeschichte I: Angie Forero, Ebru Cakioglu-Yildiz; Baugeschichte II: Jin Hee Chung, Jasmin Wilder; Dach und Dachraum: Julian Götz, Clemens Kampa, Maximilian Kremeskötter; Oberflächen und Farben: Vanessa Beutel, Julia Boldin, Timon Fenske, Katrin Schneider; Technik und Energiebilanz: Maram Abou Rass, Meike Riebesell, Carolin Rodes, Anna-Sophie Schröder, Tobias Zander; Öffnungen und Fenster I: Nick Blum, Amal El-Khatib, Isabel Masri, Saleh Vaseghi; Öffnungen und Fenster II: Anna Doerr, Charlotte Habermann, Milena Hübner, Federica Rentsch; Treppenkonstruktionen I: Solveig Boog, Fatemeh Sarcheghaei, Melina Scholz; Treppenkonstruktionen II: Anna Kovandzic, Nils Rieger, Mareike Ruhnke, Max Tegler.

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung: 1:1-Modelle der vorgefundenen Mauerwerksverbände aus historischen Reichsformatsteinen (Bild: BHT Berlin, 2023)

Literatur

Homann, Shirin, Gefährdet der Zehlendorfer Fassadenstreit potenzielles Welterbe?, in: Bauwelt 2023, 12, S. 68-71.

Taut, Bruno, Zum Problem des Wärmeverlustes (1925), in: Huse, Norbert (Hg.), Vier Berliner Siedlungen der Weimarer Republik, Berlin 1987.

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung: Ergebnisse der Farben-Gruppe in bewegten Bildern (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung: Ausstellung der Gruppenergebnisse (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung (Bild: BHT Berlin, 2023)

Berlin-Zehlendorf, Waldsiedlung: Dokumentation aus allen Perspektiven (Bild: BHT Berlin, 2023)

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