Sie wollten nicht weniger als eine neue Welt bauen: In der Ausstellung „Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872-1972“ beleuchtet die Schirn in Frankfurt am Main bis zum 14. Juni 2015 ein unbekanntes Kapitel der europäischen Kunstgeschichte. Sie enthüllt die Wechselbezüge zwischen Künstlern der Moderne und selbsternannten „Propheten“. Anschaulich wird dies anhand von rund 400 Exponaten u. a. von František Kupka, Egon Schiele, Johannes Baader, Heinrich Vogeler, Friedrich Schröder-Sonnenstern, Friedensreich Hundertwasser, Joseph Beuys oder Jörg Immendorff.

Von Kohlrabi-Aposteln und Inflationsheiligen

Im deutschsprachigen Raum bildete sich um 1872 eine Bewegung von Künstler-Propheten – religiöse Abweichler und Sozialrevolutionäre zugleich. Von einer schweren Erkrankung genesen, wandte sich der Maler Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913) einer vegetarischen Lebensweise und freireligiösen Gedankenwelt zu. Der Bart- und Kuttenträger wurde zum „Urvater“ der frühen Künstlerpropheten, die sich in seinen wechselnden Kommunen die Klinke in die Hand gaben: so der von ihm Fidus genannte Illustrator Hugo Höppener (1868-1948) oder der sich selbst inszenierende Wanderprediger Gustav Nagel (1874-1952).

Später trieb die Inflation den neuen Heiligen ihre Anhänger scharenweise in die Arme. Der – anfangs ebenfalls Diefenbach nahestehende – Gusto Gräser (1879–1958) zog sich ins verwunschene Tessin zurück, ließ sich „Gras“ nennen (kein Individuum solle im Plural gerufen werden), verteilte selbstgemalte Sinnpostkarten und hinterließ eine nachhaltige Wirkung in der Künstlerelite, darunter der Dichter Hermann Hesse. Auch Pioniere der modernen Malerei zehrten von der Bilderwelt der Künstlerpropheten – von der Abstraktion eines František Kupka (1871–1957) bis zum Menschenbild eines Egon Schiele (1890-1918). Und Seelenfänger wie Friedrich Muck-Lamberty (1891–1984) zogen mit ihrer „Neuen Schar“ singend und tanzend durch die Republik.

Von Kommunisten und Ökoromantikern

Aus den Anfängen der Künstlerpropheten und ihren skurrilen Blüten in der Weimarer Republik wagt die Frankfurter Ausstellung einen Bogen in die deutsche Nachkriegszeit. Nach dem Krieg positionierte sich der Maler Friedrich Stowasser alias Friedensreich Regentag Dunkelbunt Hundertwasser (1928-2000) als Parade-Ökologe mit der Tendenz zum spiraligen Gesamtkunstwerk. Oder – mit nicht weniger politischem Konfliktpotenzial – inszenierte sich Joseph Beuys als neuer Messias und Träger der einzig wahren Revolution.

Der Ausstellung gelingt ein mutiger Brückenschlag. Man folgt dem nicht enden wollenden Fries von Diefenbachs süßlich-gekonnten Kinderbildern in die nebeldurchzogenen Ägyptenfantasien eines Kupka. Man begreift mit vielen Bild- und Tondokumenten, wie schmal der Grat zwischen skurrilem Nerd und gefährlichem Seelenfänger in der Weimarer Republik verlaufen konnte. Und man steht ebenso belustigt wie fasziniert vor dem hohen Anspruch der kommunistisch-ökologischen Welterneurer eines steif gewordenen Nachkriegsdeutschlands. Eine Fülle an Bildern und Texten, die wohl mehrere Besuche braucht, um sich in all ihren Verästelungen und Verknüpfungen zu erschließen. (kb, 4.4.15)

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