von Ute Reuschenberg

Die „Überbauung Wertherberg“ von Atelier 5 steht in direkter Nachfolge zur berühmten Siedlung Halen des renommierten Schweizer Büros. Während diese als neue Form eines urban verdichteten, gemeinschaftlichen Wohnens Weltruhm erlangte, ist das in Ostwestfalen verortete Beispiel der Nachkriegsmoderne in Vergessenheit geraten. Anders als das Schweizer Vorbild wurde Wertherberg von 1965 bis 1968 mit Mitteln des sozialen Wohnungsbaus errichtet. Dies führte nicht nur zu einem abenteuerlichen Planungs- und Bauprozess, sondern auch zu überraschenden und unerwarteten Strategien der Aneignung durch die Bewohner: innen. Ein an der TU Dortmund (Lehrstuhl Geschichte und Theorie der Architektur, Prof. Dr. Wolfgang Sonne) geplantes Forschungsprojekt möchte die Geschichte dieser Siedlung, die ihrer Zeit weit voraus war, wieder ans Licht holen und auch durch eine Ausstellung im Baukunstarchiv NRW für den aktuellen Diskurs fruchtbar machen.

Siedlung Wertherberg, um 1968 (Bild: Atelier 5)

Werther bei Bielefeld, Siedlung Wertherberg, um 1968 (Bild: Atelier 5)

Impuls Halen

Mit der auf einer Waldlichtung nahe Bern erbauten Siedlung Halen hat das 1955 von fünf jungen Architekten gegründete Atelier 5 neue Maßstäbe im Siedlungsbau gesetzt. Anstelle der üblichen Reihenhäuser schufen die Schweizer von 1957 bis 1961 eine aufsehenerregende modulare Struktur, die einzig und allein ein Ziel hatte: ein urban verdichtetes Wohnen bei größtmöglicher Privatheit. Das Konzept traf ins Schwarze und erlangte Weltruhm. Im Gegensatz zu Halen liegt das hieraus weiterentwickelte Werk des Büros im Siedlungs- und Quartierbau immer noch im Schatten des berühmten Erstlings. So ist kaum bekannt, dass das Atelier 5 bereits in den frühen 1960er Jahren auch in Deutschland gefragt war und dem Siedlungsbau neue Impulse gab.

Siedlung Halen (Bild: Atelier 5)

Siedlung Halen (Bild: Atelier 5)

„Versuche im gemeinsamen Wohnen“ (Jacques Blumer)

Die heute nahezu vergessene, von 1965 bis 1968 realisierte Siedlung „Wertherberg“ in Werther bei Bielefeld ist zusammen mit „Park Hill Village“ in London die zweite Umsetzung des Büros nach Halen. Obwohl ein Projekt des sozialen Wohnungsbaus, findet sich auch in Werther eine autonome verdichtete Struktur aus schmalen Reihenhäusern. Auch sie losgelöst von der gewachsenen Stadt, inmitten einer Landschaft. Vier rautenförmig angeordnete Wohnblocks umschließen einen zentralen Innenhof, lassen so ein „Milieu“, eine fast dörfliche Struktur entstehen, die aber auch immer wieder Bezüge zur umgebenden Landschaft herstellt. Nicht das individuelle Heim steht im Mittelpunkt, sondern die Gemeinschaft. Das Eigenheim tritt zugunsten der Gesamtheit zurück, nimmt im Gegenzug den Charakter des Anonymen, Seriellen an. Betont wurde dies durch die damals gewöhnungsbedürftige Verwendung von Fertigteilen und Sichtbeton (béton brut) – wie die hier ebenfalls anzutreffenden Solarien (Sonnenterrassen)eine Referenz an das große Vorbild Le Corbusier.

Werther bei Bielefeld, Siedlung Werther Berg (Bild: Ute Reuschenberg, 2020)

Werther bei Bielefeld, Siedlung Wertherberg (Bild: Ute Reuschenberg, 2020)

Das „Fremdeln“ der Bewohner:innen

So innovativ wie wegweisend das neue Zuhause war, die Bewohner:innenschaft tat sich schwer. Bereits kurz nach dem Bezug 1967 begann man mit individuellen Eingriffen in die Bausubstanz. Zwar war eine Mitbestimmung und -gestaltung vonseiten des Atelier 5 gewünscht – aber doch nicht so! Vor allem zum zentralen Platz hin, wo die aufgeständerten Vorbauten (anstelle von Vorgärten) ähnlich dem niederländischen Strukturalismus eine Verschränkung von Innen- und Außenraum, privaten und öffentlichen Raum ermöglichten, wurde genau dieses immer wieder rückgängig gemacht. Man schloss Öffnungen, verklinkerte die als unfertig empfundene Sichtbeton-Außenhaut und ersetzte die Betonbretterwände der Hauseingänge durch Glasbausteine. Kurz, es sollte „wohnlich“ werden. Und zwar nach herkömmlichen Vorstellungen – da hatte nackter Beton nichts zu suchen!

Trotz dieser so nicht erwarteten „Verschönerungen“ lässt sich aber auch noch nach über 50 Jahren feststellen: Organisation, Kubatur und Aussage der Siedlung haben sich bis heute erhalten. Die raumgebende und -definierende Struktur hat offensichtlich ein großes Maß vereinnahmender Aneignung vertragen, ohne dass die Siedlung ihre räumlich-ästhetischen Qualitäten eingebüßt hätte. Unverkennbar ist sie noch heute eine Schöpfung von Atelier 5. Nach anfänglichem „Fremdeln“ wohnt man heute gerne am Wertherberg, zieht sogar bewusst hierher.

Werther bei Bielefeld, Siedlung Wertherberg, um 1968 (Bild: Atelier 5)

Werther bei Bielefeld, Siedlung Wertherberg, um 1968 (Bild: Ute Reschenberg)

Forschen in der Lücke

Mithilfe dieses Forschungsprojekts soll eine Lücke in der Architekturgeschichtsschreibung der Nachkriegsmoderne geschlossen werden. Obwohl ein international bekanntes, heute bereits in der vierten Generation tätiges Büro, ist der Beitrag von Atelier 5 zum deutschen Siedlungsbau der 60er Jahre – ausnahmslos im experimentierfreudigen Nordrhein-Westfalen realisiert – nahezu vergessen. Immerhin: Die 1972 fertiggestellte Siedlung Regerstraße in Solingen wurde kürzlich unter Denkmalschutz gestellt. Auch im Falle von Wertherberg wäre dieses wünschenswert. Obwohl sich das Erscheinungsbild seit Fertigstellung verändert hat. Denn die ideelle und architektonische Nähe zur inzwischen als Weltkulturerbe gehandelten Halen-Siedlung wie auch zu ihrem 1967 begonnenen benachbarten Nachfolger Thalmatt1 ist unverkennbar und verdeutlicht noch heute den Schweizer Impuls für den deutschen Nachkriegssiedlungsbau. (23.8.23)

Literatur

Atelier 5, mit einer Einführung von Friedrich Achleitner, Basel 2000.

Georg Jonathan Precht, Die Grammatik der Atelier 5-Siedlungen, Diss., ETH Zürich 2017

Reihenhäuser und Wohnungen Wertherberg in Werther, in: Bauen + Wohnen 23, 1969, 9, S. 312–313.

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