Wie wohnen? Die Leitfrage der weltberühmten Bauausstellung am Stuttgarter Weißenhof 1927 hat auch nach knapp 100 Jahren nichts an ihrer Aktualität eingebüßt. Seit dem 19. Jahrhundert formulieren Stadtplaner:innen und Architekt:innen systematisch Antworten auf das ureigene Bedürfnis, eine angemessene behagliche Behausung zu haben. Über die Jahrzehnte und historischen Verwerfungen hinweg entstand so bis heute ein bunter Teller an Konzepten und Ideen – immer auch in Abhängigkeit von der politischen Großwetterlage. Wer sich einen übersichtlichen Querschnitt durch knapp 130 Jahre Siedlungsbaugeschichte wünscht, der bekommt diesen in der Publikation „WohnOrte²“, herausgegeben von Christina Simon-Philipp. Am Beispiel Stuttgarts kann hier die Entwicklung des deutschen Wohnungsbaus seit der späten Industrialisierung nachvollzogen werden. Der Katalog bietet kompakt verpackte Informationen, zusammengetragen von mehreren Autor:innen. Neben Essays und thematischen Einführungen werden einzelne Objekte anhand von Daten und einer Einordnung in den Gesamtkontext vorgestellt. Neben dem Bildmaterial befördern auch die beigefügten Pläne sowie aktuelle Datensätze das Verständnis.

Willi Baumeister: Einladungskarte zur Ausstellung "Die Wohnung" in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, 1927 (Bild: Druck auf Papier, 10,3 x 14,8 cm)

Willi Baumeister: Einladungskarte zur Ausstellung “Die Wohnung” in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, 1927 (Bild: historische Abbildung)

Weltklasse am Weißenhof

Das „Tal der Architekten“, wie Stuttgart aufgrund seiner lebhaften und geschichtsträchtigen Tradition als Hochschul- und Bürostandort auch genannt wird, stellt folgerichtig einen spannenden Ausgangspunkt zur Erforschung des Siedlungsbaus dar. Ab der Gründerzeit hatte die württembergische Metropole mit denselben Problemen zu kämpfen wie alle jungen Industriezentren: Landflucht, Umweltverschmutzung und unhygienische Lebensbedingungen. Die Idee der Gartenstadt schwappte aus Großbritannien in den Südwesten Deutschlands. Erste Arbeitersiedlungen entstanden in und um Stuttgart. Von da an hieß es: „Licht, Luft und Sonne“ seien der Garant für ein würdiges Leben. Die Gemeinschaft stand nun im Vordergrund, das Genossenschaftsmodell machte schnell Schule.

Seinen Höhepunkt fand diese Entwicklung freilich in der Bauausstellung am Weißenhof im Jahre 1927. Unter der Leitung Mies van der Rohes errichtete die Crème de la Crème der modernistischen Architekten ihre Vorstellung vom zeitgenössischen Wohnen. Die ansässige Industrie, u.a. die Firma Daimler, nutzte diese fortschrittlichste aller Siedlungen werbewirksam für ihre Automobile. Das Wohnhaus als durchdacht funktionales Objekt – dem Kraftwagen in nichts nachstehend – entsprach ganz dem Ideal des prominenten Teilnehmers der Schau Le Corbusier.

Stuttgart, Kochenhofsiedlung, zwei Holzhäuser (Haus 2+3, 1933) von Paul Schmitthenner (Bild: Thomas Fütterer)

Das private Glück?

Man sollte sich allerdings davor hüten, durch die strahlend weißen Fassaden schneeblind zu werden. Die sog. Stuttgarter Schule – an der ortsansässigen TH vor allem vertreten durch Paul Bonatz und Paul Schmitthenner – stand für eine hervorragende Architektenausbildung, allerdings nicht für Progressivität. Im Gegenteil: Unter der Federführung der Protagonisten entstand zu Beginn der 1930er Jahre die Kochenhofsiedlung. Eine spitzgiebelige Antithese zur weißen Moderne am Weißenhof. Die Rivalität der Weltanschauungen, offenbart in diesen Projekten, sollte bald in die große Katastrophe führen. Stuttgart erlitt enorme Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Doch wie ein Stehaufmännchen entwickelte sich die Stadt danach abermals zu einem experimentellen Zentrum der Architektur und Stadtplanung. Die zweite Stuttgarter Schule hielt Einzug.

Stuttgart-Rot, Hochhäuser Romeo und Julia (Hans Scharoun, 1957/59) (Bild: ptj56, CC BY SA 3.0, 2012)

Stuttgart-Rot, Hochhäuser Romeo und Julia (Hans Scharoun, 1957/59) (Bild: ptj56, CC BY SA 3.0, 2011)

Suburbanisierung

Dieses Mal geriet die Stuttgarter Moderne nicht schwer und blockig, sondern geschwungen, organisch und leicht. Folgerichtig steuerte auch Hans Scharoun einige Wohnhäuser in den neu entstandenen Siedlungen am Stadtrand bei. Dennoch führte das blinde Vertrauen in den Technizismus der Moderne und die funktional getrennte autogerechte Stadt in Sackgassen. Spätestens in den 1970er Jahren fand auch hier der Paradigmenwechsel hin zur Reparatur im Herzen der Stadt statt. Dichte war nun wieder angesagt. Nichtsdestotrotz wurde der Trend zur Suburbanisierung weiter befeuert. In den 1980ern und 1990ern vernahm man den Abgesang auf den Sozialen Wohnungsbau. Das kleine private Eigenheim im Grünen kam wieder groß in Mode. Rund um Stuttgart entstanden unzählige Neubaugebiete für die Häuslebauer. Und heute? Befinden wir uns wieder auf dem Rückweg in die Innenstadt – allerdings fest in privater Investor:innenhand. Gerade in Stuttgart, eine Stadt die mit die teuersten Lebenshaltungskosten aufweist, steht immer mehr die Frage im Raum: Wer soll das bezahlen? Diese Entwicklungsgeschichte lässt sich im hier vorgestellten Katalog bestens nachvollziehen. (jm, 20.4.21)

Christina Simon-Philipp, Christina (Hg.), WohnOrte². 90 Wohnquartiere in Stuttgart von 1890 bis 2017. Entwicklungen und Perspektiven, Stuttgart 2017, Kraemer-Verlag, 480 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Pläne, ISBN: 978-3-7828-1325-9.

Titelmotiv: Stuttgart, Weißenhofsiedlung (Bild: jaime.silva, CC BY NC SA 2.0, 2009, via flickr.com)

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