Der Osteuropawissenschaftler Karl Schlögel nannte Charkiw einen Pilgerort für alle, die wissen wollten, wie die Welt von morgen aussehen sollte. Er meinte das Charkiw der Zwischenkriegszeit, das schon vor der bolschewistischen Revolution ein wohlhabendes Zentrum war und das ab 1919, als Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, zu einem architektonischen und städtebaulichen Vorzeigeobjekt der sowjetischen Moderne wurde. Die gigantischen Gebäude im konstruktivistischen Stil waren nicht nur für die Ukraine einzigartig und stellten die zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichteten Häuser des Historismus und des Jugendstils in den Schatten, sondern sie sind ein wertvoller Teil des gemeinsamen europäischen Erbes. Im Zweiten Weltkrieg wurde Charkiw zerstört und danach wieder aufgebaut. Derzeit erfolgt die zweite Zerstörung: Nur 27 Kilometer von der russischen Grenze gelegen, war die mit mehr als 1,4 Millionen Einwohner*innen zweitgrößte Stadt der Ukraine eines der ersten Ziele russischer Angriffe. Sie verwandelte sich in ein Schlachtfeld. Viele Bewohner*innen flohen.

Die Ausstellung „Charkiw-Requiem“ zeigt nun in Berlin die Chronik dieser Zerstörung aus der Perspektive des bekannten ukrainischen Fotografen Stanislav Ostrous, der vor dem Krieg an der Staatlichen Kulturakademie Charkiw Fotografie lehrte und sich mit konzeptioneller Fotografie beschäftigte. Seit dem 10. März 2022 dokumentiert er forografisch die Vernichtung seiner Heimatstadt. Ostrous durchstreifte die leeren Straßen, betrat die Ruinen der gerade zerstörten Gebäude und suchte bei Sirenenalarm Schutz in behelfsmäßigen Luftschutzkellern oder in solide aussehenden Vorräumen der Häuser. Der Fotograf hat nicht die Absicht, seine Heimatstadt zu verlassen und will die tragische Chronik ihrer barbarischen Zerstörung fortsetzen. Die Bilder zeigen den hilflosen Blick des Fotografen auf einstürzende Mauern, auf leere Fensteröffnungen, die an die Augenhöhlen menschlicher Schädel erinnern, auf die Ruinen zerstörter architektonischer Pracht – und sie erzählen uns die Geschichte. Charkiw Requiem – bis 21. August an der TU Berlin; Sockelfenster Gebäude für Bergbau- und Hüttenwesen, Ernst-Reuter-Platz 1, 10587 Berlin (db, 2.7.22)

Charkiw, Verwaltungsbau um 1930 (Bild: Stanislav Ostrous)

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