Jacques Blumer (Atelier 5) spricht mit Ute Reuschenberg über die “Überbauung Wertherberg”

Die “Überbauung Wertherberg” von Atelier 5 steht in direkter Nachfolge zur berühmten Siedlung Halen des renommierten Schweizer Büros. Während diese als neue Form eines urban verdichteten, gemeinschaftlichen Wohnens Weltruhm erlangte, ist das in Ostwestfalen verortete Beispiel der Nachkriegsmoderne in Vergessenheit geraten. Anders als das Schweizer Vorbild wurde Wertherberg von 1965 bis 1968 mit Mitteln des sozialen Wohnungsbaus errichtet. Der Schweizer Architekt Jacques Blumer (Atelier 5) spricht mit Ute Reuschenberg über diese “Überbauung Wertherberg”, eine schwierige Bauphase in der westfälischen Provinz der 60er Jahre und überraschende Strategien der Aneignung.

Werther bei Bielefeld, Siedlung Wertherberg, um 1968 (Bild: Ute Reuschenberg)

Werther bei Bielefeld, Siedlung Wertherberg, um 1968 (Bild: Ute Reuschenberg)

Ute Reuschenberg: Herr Blumer, mit der 1961 fertiggestellten Siedlung Halen wurde Atelier 5 über Nacht weltberühmt – trotzdem gab es in der Schweiz zunächst keine Folgeaufträge.

Jacques Blumer: Das ist richtig. Das Feld für den Wohnungsbau im großen Maßstab war in Bern wie in den anderen Schweizer Städten von den Wohnbaugenossenschaften und ihren Hausarchitekten oder von den finanzstarken örtlichen Platzhirschen besetzt. Auch wenn das Experiment Halen durchaus mit Interesse angesehen wurde, so fehlte in der damaligen konservativen Stimmung die Lust, sich auf ein Experiment einzulassen.

UR: Stattdessen erhielten Sie in den frühen 60er Jahren Wettbewerbs-Einladungen aus Deutschland. Die “Überbauung Wertherberg” wurde nach einem ersten Preis ab 1965 in Werther bei Bielefeld umgesetzt und baute direkt auf den Grundideen der Halen-Siedlung auf …

JB: In Halen finden wir zwei Grundrisstypen mit wenigen Varianten, dazu fünf besondere Häuser und einige spezielle Wohnstudios. Die Häuser sind dreistöckige Reihenhäuser mit tragenden Wandschotten. Das Angebot für den unterschiedlichen Bedarf sowie die Möglichkeit der Anpassung waren eingeschränkt. Diese Einschränkung wurde in der Folge als solche empfunden und es zeigte sich, dass bereits in Halen der Bedarf nach unterschiedlich großen und strukturierten Wohntypen und Formen sichtbar wurde. In Werther waren daher die Möglichkeiten zur Anpassung bereits von Anfang an im Programm enthalten. Dieses hatte gezwungenermaßen einen großen Einfluss auf Struktur, Konstruktion und Materialisierung des Baus. Zusätzlich musste in Werther der Kostenrahmen des sozialen Wohnungsbaus eingehalten werden, was die Wahl der Baumaterialien und somit das Aussehen der Anlage stark bestimmte. Werther sieht sehr anders aus, ist dennoch aus dem Versuch, Halen weiterzudenken, entstanden.

UR: Wie sah dieses ganz konkret aus?

JB: Im Laufe der Zeit sollten die Häuser in der vorgegebenen Struktur den wechselnden Anforderungen angepasst und ausgebaut werden können. Dementsprechend wurden der Innenausbau und dessen Materialien konzipiert. Die inneren Trennwände waren aus Holz, die Abgrenzungen nach außen übernahmen Betonbretter. Die platzseitig vorgelagerten Terrassen wurden als Stützenstruktur, die Abschottung zum Nachbarn nicht als feste Mauer, sondern als ausgefüllter Raster ausgeführt. So waren auch hier Veränderungen möglich. Der auf den Platz gerichtete gedeckte, offene Außensitzplatz konnte so z.B. “aufgerüstet” werden. Da das Wann, Wo und Wie der Ergänzungen und Änderungen nicht abzusehen war, sollten keine strikten Anforderungen an deren Form und Aussehen gestellt werden. Wohin das allerdings führte, damit hatte man nicht gerechnet.

Werther bei Bielefeld, Siedlung Werther Berg (Bild: Ute Reuschenberg, 2020)

Werther bei Bielefeld, Siedlung Wertherberg (Bild: Ute Reuschenberg, 2020)

UR: Bereits kurz nach Fertigstellung 1967 erfolgten in Werther bauliche Veränderungen, etwa das Verblenden der Betonbrettwände nach allen Regeln der Heimwerkskunst … Was führte Ihrer Ansicht nach zum “Fremdeln” der Bewohner:innen?

JB: Das Ungewohnte des Vorschlags, die lokale Umsetzung sowie die Vorstellungen wie auch Interessen der in Werther am Vorhaben Beteiligten machten die Realisierung schwierig. Zudem führte, geografisch bedingt, die beschränkte Anwesenheit der Architekten und deren Unkenntnis der besonderen Wetterlagen – es regnet bekanntlich in Werther bei bestimmten Windverhältnissen sozusagen ‘von unten’ – zu ungenügenden konstruktiven Details und lästigen Baumängeln. Der echte Grund für das Fremdeln der Bewohner war meiner Meinung nach allerdings ein anderer. Trotz der Vorgabe des sozialen Wohnungsbaus und eines daraus folgendem Kostendrucks erwarteten die künftigen Bewohner in ihren Vorstellungen das gängige Bild des Einfamilien-, resp. Reihenhauses. Erwartet wurden unausgesprochen alle für diese Bauformen dazugehörigen Vorstellungen von Konstruktion, Materialien und Aussehen; also Ziegelmauern, Naturholztüren, Zierleisten, solide Gartenmauern. Damit wurden die rohen Betonsäulen, Betonbretter oder simplen Türblätter als sozial degradierend empfunden – ein Zustand, den es schleunigst zu verbessern galt. Denn schließlich wohnte man im Eigenheim!

UR: Wie hat Atelier 5 den Prozess dieser so nicht erwarteten “Aneignung” aufgenommen?

JB: Es geht auch anders, aber so geht es auch. Mit “Wertherberg heute” hatte man nicht gerechnet, auch wenn die Möglichkeit der Veränderung, wie gesagt, eingeplant war. Nach einem Besuch der Siedlung kurz nach deren Vollendung und den ersten ‘Verbesserungen’ habe ich für das Büro eine längere Stellungnahme in der Zeitschrift “archithese” verfasst. Quintessenz: Trotz ‘Make up’ wird Wertherberg als strukturierte Wohnsituation, als komplexe Organisation von Gemeinschaft und Privatheit, heute noch ebenso erlebt wie gerade nach der Fertigstellung.

rechts: Siedlung Wertherberg (Bild: Ute Reuschenberg, 2020); rechts: Wertherberg auf dem Titel der “Bauen+Wohnen” im September 1969 (Bild: Titelcover)

Werther bei Bielefeld, links: Siedlung Wertherberg (Bild: Ute Reuschenberg, 2020); rechts: Wertherberg auf dem Titel der “Bauen+Wohnen” im September 1969 (Bild: Titelcover)

UR: Wie Halen verfügte übrigens auch Wertherberg ursprünglich über begrünte Dächer – ein früher Beitrag zur Stärkung der Klimaresilienz?

JB: Die Siedlung als Rahmen einer sozialen Gemeinschaft, verwachsen und verflochten mit ihrer natürlichen Umgebung, mit Gärten, Wiesenflächen, Bäumen und Büschen im öffentlichen Raum oder mit begrünten Dächern – so wurde Halen gedacht und anschließend Wertherberg. Dabei sollten die begrünten Dächer nicht nur Insekten, Käfern, Würmern und Vögeln ein eigenes Territorium anbieten, sie sollten auch zur Wärmeisolation der Häuser beitragen. Dieser Faktor wurde in Wertherberg durchaus in Rechnung gesetzt, wenn auch vor 60 Jahren die Biodiversität stärker im Fokus stand als heute der diese bedrohende CO2-Ausstoß und der oft vernachlässigte Wärmehaushalt.

UR: Mittlerweile sind bald 60 Jahre seit dem Bezug dieses damals aufsehenerregenden verdichteten Wohnkonzepts vergangen. Sind die hier zugrundeliegenden Vorstellungen von Wohnen und Zusammenleben heute noch aktuell?

JB: Nun, in 60 Jahren hat sich vieles im Wohnen und Zusammenleben verändert. Auffallend ist allerdings, dass viele Grundüberlegungen des Atelier 5 der 60er/70er Jahre heute zu einem guten Teil selbstverständlich geworden sind. Zum Beispiel, dass das Haus ein Teil der auf Gemeinschaftlichkeit ausgerichteten Anlage ist, dass der gestaltete öffentliche Außenraum, eine Fortsetzung von Wohnung und Haus, eine Bühne der Gemeinschaft sein muss, dass die anpassbare und ergänzbare Wohnung eine Basis für unterschiedliches Zusammenleben darstellt …

UR: Was wünschen sie sich für das zukünftige Wohnen?

JB: Eigentlich nur zwei Dinge. Erstens: Dass die Architekten sich für das Wohnen Gebilde ausdenken, in denen sich’s wohl sein lässt. Das heißt, Möglichkeiten zur Befriedigung von Grundbedürfnissen zu schaffen und damit einen höheren Grad von Gemeinsamkeit zu provozieren, ohne dass dieser schon vorhanden wäre. Zweitens: Dass sich die Architekten nach der Realisierung ihres Entwurfes fragen: “Was hätte man besser machen können und was noch dazu?” Und danach: “Wenn uns das da schon gelungen ist, dann könnte man doch …”

Das Gespräch führte Ute Reuschenberg (5.10.23).

Jacques Blumer (Bild: Atelier 5)

Jacques Blumer (Bild: Atelier 5)

Jacques Blumer, Dipl. Arch. ETH., Jahrgang 1937, studierte von 1956 bis 1962 an der ETH Zürich Architektur. 1958 kam er als Praktikant zu Atelier 5, arbeitete dort für zwei Jahre und blieb dann bis zum Ende seiner Studienzeit für das Büro tätig. Nach einer Zeit als Architekt in Rom und Helsinki war er fünf Jahre Professor an der University of Ilinois at Chicago Circle sowie Partner bei den “Chicago Associated Architects and Planers”, bevor er 1971 als Partner zu Atelier 5 zurückkehrte. Bis 2007 trug er zum wachsenden Erfolg des Büros bei. Blumer, der als ordentlicher Professor für Städtebau auch mehrere Jahre an der Universität Genf lehrte, steht noch heute in engem Kontakt mit dem Büro, das mittlerweile in der vierten Generation tätig ist. Die Fragen eines gemeinschaftlichen Wohnens treiben ihn, der seit 1974 in der Siedlung Thalmatt 1 unweit der Halensiedlung wohnt, noch immer um.

Literatur

N. N. (Jacques Blumer), Überbauung Wertherberg vier Jahre später … oder über Schwierigkeiten bei der Mitbestimmung im Bauen, in: Das Werk 1973, 3, S. 348–350.

Blumer, Jacques, Atelier 5: 1955–1975. Versuche im gemeinsamen Wohnen, in: archithese 1975, 14, S.37–44.

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