Es wird viel zu viel abgerissen, darin sind sich die Theoretiker:innen heute einig, während in der Praxis weiterhin munter der Neubau regiert. Schuld daran ist das 20. Jahrhundert, das den organischen Bezug zur Umgestaltung gekappt hat – so zumindest eine der Kernthesen des neu aufgelegten Best-Practice-Bands “Umbaukultur”. Um gute Vorbilder zu finden, greifen die Autor:innen bis in die Antike zurück, mit Vorliebe auf den Barock und den Klassizismus-Historismus. Damals habe man den Bestand selbstverständlich und kreativ an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst. Erst mit der Fortschrittsdoktrin der Moderne, spätestens mit der Wiederaufbauwelle nach 1945 wurde Neu das neue Normal. Auch wenn die Autor:innen durchaus anerkennen, dass auch die Alltagsarchitektur des späten 20. Jahrhunderts inzwischen Wertschätzung genießt: Die wahre Umbaukultur wurzelt für sie im Einfühlen in das Wesen jedes Standorts, wie es die alten Meister verstanden.

Energetisch

Im ersten Teil der Publikation, der die Fachbeiträge versammelt, wird der Scheinwerfer von unterschiedlichster, aber immer grundsätzlicher Seite auf das Thema gerichtet. Getragen wird dieser Ansatz vom architektonischen, vom gestalterischen Blick. Die beiden Herausgeber – Christoph Grafe, Professor für Architekturgeschichte und -theorie in Wuppertal, und Tim Rieniets, Professor für Stadt- und Raumentwicklung in einer differenzierten Gesellschaft in Leipzig – beklagen das Auseinanderfallen in Baukunst und Denkmalpflege. Wenn die einen nur noch für die neue Form, die anderen nur noch für den Erhalt zuständig sind, gehe ein hohes Maß an Kreativität und Kultur verloren. Die Argumente, die für die Aneignung des Bestands angeführt werden, sind breit gefächert: von ökologisch (jeder Abriss zerstört die für den Altbau eingesetzte ‘graue Energie’) über ökonomisch (jede Modernisierung spart zwischen 30 und 70 Prozent Kosten gegenüber einem Neubau) bis zu ikonografisch (an historischen Häusern hängen Erinnerungen und Identitäten).

Europäisch

Mit Kurzporträts stellt der zweite Buchteil 29 Beispiele von positiv bewerteten Umbauten vor. Dabei geraten naturgemäß – Baukultur NRW ist Mitherausgeberin des Bands – einige nordrhein-westfälische Objekte in den Blick, daneben kommt das benachbarte europäische Ausland nicht zu kurz. Auch bei den Stilen und Funktionen der Ursprungsbauten wird bunt gemischt, wenn auch die ästhetisch vorzeigbaren Umnutzungen dann doch meist im Kultursegment landen. All das ist nicht neu, aber gut und klug geschrieben und nicht zuletzt ansprechend bebildert. Und die Botschaft kann nicht oft und begründet genug wiederholt werden, solange der Abriss normal zu sein scheint. (kb, 29.10.22)

Auf einen Blick

Grafe, Christoph/Rieniets, Tim (Hg.), Umbaukultur. Für eine Architektur des Veränderns, hg. von Baukultur Nordrhein-Westfalen e. V., Verlag Kettler, Dortmund 2022, 2. überarbeitete Auflage, Softcover, 264 Seiten, 26 x 19 cm, ISBN: 978-3-98741-010-9.

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