Wo kämen wir denn da hin, wenn die Öffentlichkeit selbst entscheidet, was Denkmal ist und was nicht? Nach Erfurt, nun ja, fast. Denn vor zwei Jahren hat man in der thüringischen Landeshauptstadt ein Experiment gewagt. Anlass war der 30. Jahrestag der Wiedervereinigung, der auch die Architektur der DDR-Zeit neu in den Blick rückte. Begleitend zur Ausstellung „Zwei deutsche Architekturen 1949–1989“ in der Galerie Waidspeicher, wurden die Bürger:innen zu einem, so die Amtssprache, Mitmach- oder Beteiligungsprojekt eingeladen. Im Programm ging es, kürzer ausgedrückt, unter dem Titel “Vote!” um die Wahl zwischen zehn Erfurter Bauten der 1950er bis 1980er Jahre.

Bürger:innennähe in Coronazeiten

Mit der “Vote!”-Aktion wollten die Erfurter Denkmalschutzbehörde und die Bauhaus-Universität-Weimar erstmals eine sonst amtsinterne Frage breit diskutiert wissen. Die Fotografien des Experiments leben von einer guten Retrostimmung: Stellwände, ausgedruckte Fotografien, Klebepunkte in Grün (erhaltenswert) und Rot (nicht erhaltenswert), Post-its in verschiedenen Farben (für einige begründende Worte). All dies bewegt sich ästhetisch irgendwo zwischen der “Lass uns drüber reden”-Kultur der 1980er, einem Vernissage-Abverkauf der 1990er und einer städtebaulichen Beteiligungsaktion der 2000er Jahre.

Nur die Gesichtsmasken der abgelichteten Teilnehmer:innen erinnern daran, dass die Aktion im Coronajahr 2020 stattfand und damit Bürger:innennähe unter sehr erschwerten Bedingungen herstellen musste. Der Kunsthistoriker Michael Grass fand für den gewagten Versuch im Online-Magazin “marlowes,” den Überbegriff des Denkmalpopulismus. Nach den offiziellen Zahlen der Stadt waren immerhin 250 Teilnehmende aktiv diskutierend beteiligt – all dies sei natürlich nicht repräsentativ, aber eine wertvolle Erfahrung und ein guter Anlass, die Debatte um diese Architekturepoche zu vertiefen. Leider fehlt in den offiziellen Äußerungen bislang eine detailliertere Auswertung der Post-it-Kommentare. Die Fotos zeigen Argumente zwischen der Nachhaltigkeit des Bestands und der Furcht vor der mangelnden Qualität bzw. Brauchbarkeit möglicher Ersatzbauten.

Fünf aus zehn

Das Erfurter Experiment fand in zweierlei Weise im geschützten Raum statt: Zum einen stellten die zehn Objekte schon eine sorgfältig abgewogene Vorauswahl aus vier Jahrzehnten und mehreren Gattungen dar, vieles an Mittelmaß oder schlechtem Erhaltungszustand hatten die Expert:innen schon aussortiert. Zum anderen war das Publikum, das eigentlich zur Architekturausstellung in die Galerie gekommen war, grundsätzlich an der Ostmoderne interessiert und in der Tendenz positiv zum Thema eingestellt. Eine ähnliche Abstimmung vor einer Mall in der Haupteinkaufszeit dürfte anders ausfallen. Aber als Geste, künftig mehr Mitsprache zuzulassen – noch dazu für eine Architekturepoche, die selbst erste Formen der Partizipation erprobte – ist das Erfurter Projekt kaum zu überschätzen.

Am Ende stand eine ungewöhnlich hohe Quote: fünf von zehn Bauten erhielten das staatliche Prädikat: das Wohn- und Geschäftshaus Bahnhofstraße 11/13 (1956, Peter Düwel (Entwurfsbüro für Hochbau des Rates des Bezirkes Erfurt)), das Kindergarten/-krippengebäude, Paulinzeller Weg (1966/67, Volker Possardt (Hochbauprojektierung Erfurt), Wandbild: Helmut Steindorf), der Trauerhallenkomplex, Hauptfriedhof (1973–1976, Janos Szabo (Ungarisches Ministerium für Bauwesen, Entwurfsbüro Debrecen), Metallgestaltung: Günter Reichert), das “Modernisierungsgebiet” Auenstraße (Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre, Nitsch, Schulrabe, Lindner, Götze u. a./Büro für Verkehrsplanung und Gartenamt (Saitz, Härschel u. a.) sowie der “Funktions­musterbau” am Johannesturm, Johannesstraße 133–141 (1983–1985, Burkhart Ihlenfeldt, Michael Hardt, E. Nitsch, Ulrich Kraft (Wohnungsbaukombinat Erfurt, Betriebsteil Projektierung), Joachim Stahr u. a.). (kb, 1.6.22)

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