Selten wurde Baukunst so instrumentalisiert wie in den 1950er Jahren. Die Diskussionen um die passende Architektur für eine neue Gesellschaft standen inmitten einer Abgrenzung von Nationalsozialismus und dem jeweils anderen politischen System im Kalten Krieg. So liegt es nahe, diese Aushandlungsprozesse anhand des Schulbaus zu untersuchen – zielte doch die amerikanische Unterstützung des westdeutschen Wiederaufbaus auf eine Re-Education. 2016/17 erschien zu diesem Thema das Buch “Testfall der Moderne – Diskurs und Transfer im Schulbau der 1950er Jahre” der Architekturhistorikerin Kerstin Renz.
Instantheimat
Nicht nur Architekten, auch Politiker, Pädagogen und Soziologen äußerten sich in Fachbeiträgen zum Schulbau. Trotzdem war die Form der in den 1950er Jahren publizierten Schulen oft fortschrittlicher als ihr Inhalt. “Die öffentliche Bauaufgabe Schule hatte multiplikatorische Wirkung für die Ideen der Moderne”, stellt Renz fest. Anhand einiger Tagungen und Ausstellungen zum Thema sowie verschiedener Biografien wichtiger Architekten porträtiert sie die komplexen und teils widersprüchlichen Debatten: die Diskussion um den Schulbau als politische Disziplin, wie sie so offen, leidenschaftlich, staaten- und länderübergreifend seitdem kaum wieder geführt wurde.
Dass die Neue Schule im Gegensatz zu ihren teils massiven Vorgängerkonzepten keine städtegestaltende Rolle neben Rathaus und Kirche mehr spielen sollte, tat ihrem repräsentativen Anspruch nur bedingt Abbruch. Der Flachbau im Grünen war zwar nicht dominant, dafür diente er als Nachbarschaftszentrum. Dieser Idealtyp der westdeutschen Nachkriegsschule geht auf die CIAM in den 1930er Jahren zurück. Auf einer Schulbautagung 1952 in Kiel wurde er als amerikanisch vorgestellt, war aber, wie die Autorin erkennt, gerade in Verbindung mit einer gewünschten Natur- und Heimatnähe, auch in der völkischen Siedlungszelle der Nazis vertreten. Auf einer Tagung in Fredeburg sah man jedoch die Schule 1959 als “geistige Mitte” der Gemeinde, in der sich „auch die Eltern zu Rat und Feier sammeln“ sollen und “in das Schulfenster ein Stück Heimat” blickt. Im Sinne der Re-Education wollte man die “Kinder zur Natur und damit zur Menschlichkeit” führen.
Beamtenschule
Die “vor und nach 1945 tätige Baubeamtenschaft” mag, wie Renz schreibt, flächendeckende “Reformen erschwert” haben. Zumindest sollte jedoch im Bestand das “Pult, dieses stärkste Wahrzeichen jeder autoritären Pädagogik” verschwinden, wie der Pädagoge Fritz Behrendt 1953 ausführt. Zudem empfiehlt er Blumen, farbige Vorhänge und eine “schöne bunte Kuckucksuhr”. Im Auftrag Rudolf Hillebrechts baute auch Paul Bonatz 1956 noch eine “normale Volksschule” mit “normalen Klassen”. Zugleich gehörte Hillebrecht jedoch u. a. mit Hans Scharoun und dem Dresdner Architekten Heinrich Rettig der “Gesellschaft für Freilufterziehung” an – was für einen Austausch über die deutsch-deutsche Grenze und über unterschiedliche Architekturauffassungen hinweg spricht.
Fachveranstaltungen hatten eine politische Agenda: Wenn Otto Bartning in einer Stuttgarter Ausstellung mit dem Titel “Meisterarchitektur” Schulentwürfe u. a. von Hans Scharoun, Rudolf Schwarz, Franz Schuster, Hans Schwippert, Max Taut präsentiert, will er die Übertragung öffentlicher Bauaufgaben an Privatarchitekten fördern. Bartning sieht in Scharouns Plänen eine Überinterpretation in Form eines “gebauten Gesellschaftsmodells”. Renz bewertet den Entwurf jedoch sehr positiv als versuchte “Humanisierung der Moderne”: Im Gegensatz zu vielen Entwürfen dieser Zeit rücke er die kindliche Wahrnehmung in der Vordergrund. Scharoun sollte sich mit Walter Gropius als Fürsprecher von Ost- nach Westdeutschland orientieren. Dabei habe er – so schreibt Renz – in seinem Entwurf “neue Identitätsangebote für eine demokratische Gesellschaft” entwickelt.
Völkerverständigung
Obwohl auch Scharoun zahlreiche Diagramme zu seinem Schulentwurf vorstellt, offenbart sich die Verwissenschaftlichung der Architektur öfter in einer sehr theoretischen Herangehensweise: Der eigentlichen Nutzer gerät eher in den Hintergrund. Hans Schwippert zeigt in Darmstadt 1960 einen sehr flächenintensiven Pavillonkomplex, der als “additive Großform, den Strukturalismus der 1960er Jahre vorwegnimmt”. Gleichzeitig gewinnt die Präsentation über Fotografien und Publikationen an Bedeutung. Dieses Zusammenspiel illustriert Renz an der Hanstanton High School von Alison und Peter Smithson, die auf Wunsch der Architekten nur ohne Nutzer fotografiert werden darf. Programmatisch ist auch das vom Schweizer Architekten Alfred Roth konzipierte Buch “The New School”. In englischer, französischer und deutscher Sprache werden Beispiele aus der Schweiz, England, USA, Niederlande, Schweden, Dänemark mit professionellen Fotos inszeniert, die wiederum die Perspektive des Kindes in den Vordergrund rücken. Durch diese vergleichende Schau wird der “Schulbau als Projekt der Völkerverständigung” vorgestellt.
Praxistest
Das Buch bietet einen guten Überblick über die damals für Westdeutschland relevanten Schulbaudiskurse. Zudem wird die Debatte mit einer ausführlichen Vorgeschichte und Exkursen in die Schweiz, USA und Großbritannien in einen sinnvollen Kontext gestellt, der die Ideengeschichte wie auch die persönlichen Motive bestimmter Schulbauer nachvollziehbar macht. Die andere Seite des Eisernen Vorhangs wird dabei nur angedeutet. Neben den bereits erwähnten Verbindungen werden Ressentiments gegenüber wichtigen Schulbauarchitekten wie Ernst May und Wilhelm Schütte aufgrund ihrer politischen Orientierung bzw. ihrer Arbeit in der Sowjetunion erwähnt. Der Blick in die DDR bleibt unvollständig, was sicher vor allem dem bisherigen Forschungsstand geschuldet ist. Wenn zu dieser “anderen Seite” ähnlich umfassende, fundierte Betrachtungen vorliegen, wird sich die politische Bedeutungsaufladung dieser Bauaufgabe noch klarer darstellen. Auch wenn in den 1960er und 1970er Jahren weniger breit und offen über Schulbaukonzepte debattiert wurde, wäre es interessant zu erfahren, welche Ideen der Moderne sich ggf. erst dann in der Praxis durchsetzen konnten. (6.8.18)