Heute gilt Offenbach (zu unrecht) als schmuddeliger Nachbar Frankfurts. Dabei wurden hier In den 1970er Jahren zeitweise sogar die besseren Hochhäuser gebaut. An der Berliner Straße entstanden damals das Bürogebäude des Architekturbüros Novotny Mähner (1969) und schräg gegenüber das 72 Meter hohe Rathaus (1971, AG Maier, Graf und Speidel). Das aufregendste Gebäude der spätmodernen Ära entstand einige hundert Meter weiter westlich: Das 1972-77 errichtete Gothaer-Haus, heute noch benannt nach dem ersten Nutzer, der Gothaer Versicherung. Es gehört zu den erklärten Lieblingen von moderneREGIONAL und auch des DAM-Direktors Peter Cachola Schmal. Bereits 2014 bestaunten wir gemeinsam den skulpturalen Bau, der heute ein wenig wie ein Denkmal der (verpufften) Offenbacher Aufbruchszeiten der 1970er Jahre wirkt. Doch nicht nur wir wissen das noch weitgehend original erhaltene Gothaer-Haus zu schätzen: Das Kollektiv ANA – Architektur Narration Aktion (Jan Engelke, Tobias Fink, Lukas Fink) hat sich von 2018 bis 2022 des Gebäudes Berliner Straße 175 angenommen und ein Buch darüber gemacht: Offenbach Kaleidoskop – Geschichten eines Hauses. Und hier wird weit mehr als der Bau an sich vorgestellt. Gemischt wie die Nutzung mit Ladengeschäften, Büros, Appartements und Mehrzimmerwohnungen (es gab sogar ein Schwimmbad im Dachgeschoss!) sind auch die im Buch behandelten Themen. Gespräche führten die Autoren natürlich mit dem Architekten Peter Opitz (*1938), der damals im Darmstädter Büro von Martin Müller (1921-1993) sein erstes großes Projekt realisieren konnte. Doch auch Bewohner, Wissenschaftler und Mitarbeiter:innen der Offenbacher Stadtverwaltung kommen zu Wort. Und so fragmentarisch wie das an die japanischen Metabolisten erinnernde Gebäude auf den ersten Blick daherkommt, wirkt zunächst auch das Buch. Doch während des Lesens stellt sich Klarheit ein, setzen sich die Interviews, Dokumente und Fotos zu einer umfangreichen Annäherung an den Gesamtkomplex Gothaer-Haus zusammen. Analog dazu, wie man in Realität auch erst die Funktionszusammenhänge des kunstvoll verwirrenden Gebäudes erkunden muss – die teilweise durch Planänderungen während des Bauphase entstanden sind. „Können wir durch die Art der Betrachtung den Wert von Gebäuden im Beziehungsgeflecht ihrer Geschichten sichtbar machen?“ fragen die Autoren im Vorwort. Die Antwort liefern sie auf 192 Seiten: selbstverständlich! Man muss sich nur Mühe geben, die Dinge zu erkennen und sie verstehen zu wollen – aus historischer, soziologischer und eben auch aus heutiger Sicht. Zu zeigen, dass dies keine überkomplexe Aufgabe ist, ist ein Verdienst dieses Buchs.
Am Sonntag, den 14. Mai gehen wir dann noch mal alle in uns – und heraus nach Offenbach, um uns einige Fragen zu stellen: Welchen Wert haben Gebäude? In welcher Beziehung stehen die einzelnen Häuser zur Stadt? Wer plant eigentlich diese Schnittstelle? Und welche Stimme habe ich in diesem Prozess? Das ANA-Kollektiv lädt anlässlich der Präsentation von Offenbach Kaleidoskop alle Interessierten dazu ein, auf dem Karl-Carstens-Platz direkt vorm Gothaer-Haus diesen Fragen nachzugehen. Denn um das Haus verändert sich derzeit viel: Es wird neu gebaut, und bald soll auch der große Parkplatz vor dem Gebäude zu einem öffentlichen, autofreien Raum umgewandelt werden. Früher waren hier auf beiden Seiten der Berliner Straße Tankstellen, dazu gab es ein Parkdeck. Gemeinsam möchte ANA mit allen, die sich für die Zukunft des Ortes interessieren, über die Rolle des Gothaer-Hauses im Verhältnis zum öffentlichen Raum diskutieren. Programm: 11:00 Uhr Eröffnung und Präsentation der Installation ‚Offenbach Kaleidoskop‘; 13:00 Uhr Führung im und um das Gothaer-Haus; 15:00 Uhr Die Zukunft des Karl-Carstens-Platzes: Diskutieren und Zeichnen; 18:30 Uhr Buchpräsentation (mit Buchverkauf durch den Buchladen am Markt), anschließend Getränke und Snacks. Veranstalter: ANA Architektur, Narration, Aktion e.V. // ana.institute (db, 10.5.23)