von Johannes Medebach

Etwas abseits, auf dem Campus der Medizinischen Hochschule, findet sich in Hannover ein Juwel spätmoderner Büroarchitektur. Zeittypisch für die 1970er Jahre, mäandert der polygonale dreigeschossige Baukörper – bekleidet mit einer plastisch ausgeformten, schneeweißen Kunststoff-Paneel-Fassade – in seiner locker gegliederten Umgebung. Der Kenner bemerkt sofort die Sorgfalt, die hier in die Entwurfsarbeit geflossen ist. Schon die Eckdetails der Fassade sprechen für sich. Tatsächlich ist der Architekt dieses Bürogebäudes kein Unbekannter, jedoch ein weitgehend Vergessener – zu Unrecht. Der Beginn einer Spurensuche.

Ein Tipp aus Hannover

Als der Architekturfotograf Olaf Mahlstedt moderneREGIONAL auf den Bau aufmerksam machte, lag die genaue Urheberschaft noch im Unklaren. Nach Recherche, Abgleichen und Sichtung von Originalplänen schälte sich heraus, dass sich hinter dem Namen auf dem Plankopf “Prof. Weber + Partner/München” der Architekt Gerhard Weber verbarg. Geboren wurde Weber am 11. Juni 1909 im sächsischen Mylau. Damit gehört er zu jener Generation, die ihre Ausbildung kurz vor der nationalsozialistischen Herrschaft erhielt – noch unter der Fahne der klassischen Moderne. Später sahen sich viele gezwungen, ihre Prinzipien denen der neuen Machthaber unterzuordnen. Nach Kriegsende wiederum oblag ihnen der Wiederaufbau der zerstörten Städte. In den meisten Fällen versuchten sie, dabei eine Brücke zu den Idealen ihrer Ausbildungszeit zu schlagen. Daher kann man durchaus von einer Kontinuität der Moderne sprechen, die so die NS-Zeit “überwinterte”.

Gerhard Weber studierte nach einer Tischlerlehre zunächst Holzbearbeitung an der Akademie für Kunstgewerbe in Dresden. Noch im hohen Alter betrachtete er diese Grundausbildung als prägend und betonte seine Hingabe zum Handwerk. Aus dieser Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass er ab 1931 sein Studium am Bauhaus in Dessau fortsetzte – nun in der Fachrichtung Architektur. Diese wohl berühmteste Ausbildungsstätte der Moderne entstand nicht zuletzt aus dem Reformgedanken, Architektur als handwerkliches Gesamtkunstwerk zu verstehen. In jenen Jahren wurde das Bauhaus unter Mies van der Rohe zu einer der führenden Architekturschulen umgeformt, die freien Künste traten in den Hintergrund. Weber erlebte den Bauhaus-Umzug nach Berlin und die erzwungene Schließung. Danach fand die Lehre bei Mies van der Rohe und Ludwig Hilberseimer im privaten Rahmen ihren Abschluss.

Ausgebildet von den Großen

Anders als seine Lehrmeister, die streng formalistisch dachten und bauten, präsentiert sich Webers späteres Werk überaus vielgestaltig, experimentell und durchaus zeitgeistig. Formal lässt sich keine direkte Linie von Mies zu Weber ziehen, jedoch in der Struktur und Detaillierung eines Bauprojektes. Nach der Machtergreifung konnten modern geschulte Architekten ihre Vorstellungen vornehmlich im Industriebau beibehalten. In einem der größten Büros auf diesem Gebiet machte Weber ab Ende der 1930er Jahre Karriere: als Berliner Büroleiter unter Herbert Rimpl. Zu seinen Kollegen gehörten Persönlichkeiten, die in der Nachkriegszeit zur ersten Riege zählen sollten, darunter Namen wie Bernhard Hermkes.

Nach Kriegsende verlagert sich Webers Schwerpunkt zunächst nach Frankfurt am Main: Er avanciert zu einem der vielbeschäftigtesten Architekten des Wiederaufbaus der zerstörten Mainmetropole. Als Frankfurt noch hofft, zur bundesdeutschen Hauptstadt aufzusteigen, bekommt der junge Architekt einen großen Auftrag: den Plenarsaal für das Parlament, heute genutzt als Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Es folgen mehrere gewonnene Wettbewerbe und prestigereiche Großaufträge – unter anderem die neue Staatsoper in Hamburg und das Nationaltheater in Mannheim. Bei Letzterem kommt es zu einer direkten Konfrontation mit seinem alten Lehrmeister Mies van der Rohe. Dass sich Webers massiver geschlossener Entwurf gegen Mies’ leichten schwebenden Glaskubus durchsetzte, war für viele in der Fachwelt ein Affront. Es wäre allerdings nicht das erste Mal, dass ein Schüler die Antithese zu seinem Lehrer formuliert. 

Aufträge aus der Industrie

1955 wird Weber auf einen Entwurfslehrstuhl an der TH München berufen – und erhält direkt wieder eine staatstragende Aufgabe: Unter seiner Ägide entsteht der erste westdeutsche Atomreaktor in Garching. Wegen seiner ungewöhnlichen Form besser als Atomei bekannt, gilt der Bau heute als Ikone der Wirtschaftswunder-Ära. Selbstverständlich lieferte Weber mit zwei kalifornisch angehauchten Bungalows auch einen Beitrag zur Interbau 1957 in West-Berlin. Hier wurde damals das zeitgenössische Wohnen von der internationalen architektonischen Crème de la Crème durchbuchstabiert.

Mit einem derartigen Portfolio ausgestattet, wird Weber auch von der Wirtschaftselite mit Aufträgen bedacht. Mitte der 1950er Jahre beginnt so eine langjährige Zusammenarbeit mit den Farbwerken Hoechst. In Frankfurt entsteht zunächst in mehreren Abschnitten die neue (inzwischen abgebrochene) Hauptverwaltung, gegenüber vom altehrwürdigen Behrensbau. An dieser Stelle kommt wieder das anfänglich beschriebene Hannoveraner Bürogebäude ins Spiel. Dieses entstand 1974 im Auftrag der Pensionskasse der Hoechst AG als niedersächsische Landesniederlassung. (Neben diesem Kontorhaus stammt noch eine weitere Niederlassung in Hamburg aus Webers Büro.) In Hannover wird deutlich, wie Weber das Image von Hoechst als führenden Chemie- und Pharmakonzern zu inszenieren wusste: Die futuristische Kunststofffassade etwa wurde von einer Tochterfirma ausgeführt und diente somit als Aushängeschild des Bauherren.

Modern und flexibel

Eine Verwandtschaft des Hannoveraner Kontorgebäudes zu Webers zeitgleicher brutalistischer Oberpostdirektion Hamburg (“Postpyramide”) ist nicht zu leugnen. Letzterer ging es 2017/2018 an den Kragen. Häufig steht bei derlei Abrissen das Argument der Unwirtschaftlichkeit im Raum. Darauf angesprochen, winkt Walter Reusch, Besitzer des ehemaligen Kontorhauses in Hannover, ab. Gemeinsam mit seiner Tochter Patricia Reusch erwarb er den Bau in den späten 1990er Jahren, als der Hoechst Konzern umstrukturiert wurde. Heute lobt Reusch die Modernität und Flexibilität des Weber-Entwurfs in den höchsten Tönen. Nicht mehr zeitgemäße Großraumbüros verwandelte er schlicht in aktuelle Arbeitseinheiten. Das Gebäude beherbergt nun das Deutsche Hörzentrum und ist eng verknüpft mit der Medizinischen Hochschule. Von Abriss ist in Hannover also keine Rede. Für Reusch enstand hier – nach der Umnutzung vorhandener Strukturen – vielmehr ein hochaktuelles nachhaltiges Konzept. (13.7.20)

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