von Andreas Baudisch (Heft 14/3)
Das neue Gesicht des Unternehmens: das Verwaltungsgebäude der Schering AG in der Müllerstraße 170/171 (Bild: Schering Archiv, Bayer AG, um 1965)
In Berlin gehörte die ehemalige Schering AG – nach den umfassenden Kriegszerstörungen und der sich abzeichnenden politischen Insellage – zu den wenigen Unternehmen, die an ihrem Gründungsstandort blieben. Mit alliierter Unterstützung konnte Schering die Produktion früh wieder aufnehmen. Nach Enttrümmerung und Reparaturen begannen im Frühjahr 1950 die Arbeiten für ein neues Fabrikationsgebäude. Und im Spätsommer desselben Jahres wurde bereits der Grundstein für das Verwaltungsgebäude an der Müllerstraße 170/171 gelegt.
1953 – notwendiges Raster
Als neues Gesicht des Unternehmens entstand ein sechs- bis achtgeschossiger Verwaltungsbau: ein verputztes Stahlbetonskelett mit gelblichen Fliesen in den Brüstungen, großzügigen Fensterbändern und zuoberst dem Firmenschriftzug. Unter Heinz Glowinski und Heinz Rausendorff entwarf die hauseigene Bauabteilung eine gegliederte Rasterfassade. Der mittlere Bereich – besonders ausgezeichnet durch dichte senkrechte Bänder – diente im Erdgeschoss als Einfahrt sowie als zentraler Eingang ins Firmengelände.
Reine Funktion: Der Haupteingang des Verwaltungsgebäudes der Schering AG, Aufnahme: 1953 (Foto: Schering Archiv, Bayer AG)
Eine vierstufige Treppe leitet über eine Zweiflügeltür in den kleinen Empfangsbereich. Von dort wurden die Räume horizontal über zweihüftige Flure erschlossen. Vertikal standen ein weiß gefliestes Treppenhaus und ein holzverkleideter Paternoster bereit. Dieser Kern befindet sich bis heute in der ersten Achse nördlich des Mittelteils.
Ausgehend vom konstruktiven Gerüst legt sich die Rasterfassade geschlossen über den Baukörper. Erst auf der Gebäuderückseite, Richtung Firmengelände, zeichnet sich das Treppenhaus durch vertikale Bänder und Glasbausteine ab. Somit ist die innere Erschließung an der Hauptfassade Richtung Müllerstraße nicht abzulesen. Die Bewegungsräume – Eingangsbereich, Treppenhaus und Fahrstuhl – bleiben rein funktionale Zusätze, die nicht besonders inszeniert werden.
1958 – gläserne Offenheit
Gläserne Eleganz: das Treppenhaus des Mikrobiologischen Betriebs im Charlottenburger Schering-Werk (Bild: Schering Archiv, Bayer AG, 1959)
Ganz anders stellt sich das Treppenhaus der Mikrobiologie auf dem Charlottenburger Werksgelände an der Max-Dohrn-Straße 8-10 dar. Zwischen 1957 und 1958 von Gerhard Fritsche errichtet, war das Gebäude Teil einer ursprünglich geplanten Dreiflügelanlage. Ihre Trakte sollten durch zwei große vollverglaste Treppenhäuser miteinander verbunden werden. Nachdem nur ein Teil-Flügel fertiggestellt werden konnte, bildete das Treppenhaus unverhofft eine isolierte prominente Eingangssituation aus.
Eingefasst von hell verklinkerten Wänden, gibt die filigran metallgerahmte Glasfläche den Blick auf die zweiläufige Treppenanlage frei. Verputzte Betondecken, Granitfliesenfußboden, Messingscheuerleisten und weiß lackierte Eisengeländer mit schwarzen Kunststoffhandläufen entsprechen der kühlen Eleganz der Zeit. Dass die Treppenanlage über ihre Funktion hinaus als eigenständiges Bauglied betont wurde, zeugt vom gesteigerten Gestaltungswillen der Berliner Schering AG.
1978 – Organisation der Form
Die zwei Türme am Weddingplatz: Erweiterungsbauten für Forschung und Verwaltung an der Kreuzung Müller-/Sellerstraße (Bild: Schering Archiv, Bayer AG, Postkarte, 1976)
Zwischen 1969 und 1978 wurde das Firmengelände der ehemaligen Schering AG an der Müllerstraße völlig neu gestaltet: Die Architektengemeinschaft Kiemle, Kreidt und Partner verwirklichte Erweiterungsbauten für Forschung und Verwaltung. Zu ihrem Hauptthema wurde die Bewegung. Die beiden weithin sichtbaren Treppenhaus- und Fahrstuhltürme, in die das 15-geschossige Verwaltungshochhaus an der Müllerstraße eingehängt ist, bestimmen den Baukörper. Gleichsam wurde mit dem 13-geschossigen Forschungsgebäude an der Fennstraße verfahren – nur dient das nach außen verlagerte Fluchttreppenhaus nicht der Statik.
Des Weiteren werden die inneren Verkehrssysteme horizontal betont. Das zweite Obergeschoss des Verwaltungsgebäudes sowie die Konferenzetage im achten Obergeschoss sind als “Decks” angelegt – sie finden ein berühmtes Vorbild in der “rue commerciale” der Unité d’Habitation Le Corbusiers. Etwas zurückgesetzt und vollständig verglast, zeichnen sich diese Geschosse als Kommunikations- und Verteiler-Ebenen ab. Richtung Norden überbrückt das zweite Obergeschoss zudem die Fennstraße durch eine sichtbare Stahlfachwerkkonstruktion, die vier weitere Bürogeschosse trägt. Der bandartige Baukörper wird so an das alte Firmengelände angebunden.
1978 – Führung und Leitsysteme
Verteiler für den Personenverkehr: das Foyer des Verwaltungsgebäudes der Schering AG (Bild: Schering Archiv, Bayer AG, 1999)
Seitlich betritt man den quergelagerten Baukörper von der Müllerstraße durch einen kleinen Haupteingang mit zwei Drehtüren. Rolltreppen führen aus einem schmalen Empfangsbereich in ein großzügiges Foyer, das sich über zwei Geschosse erstreckt und als zentraler Verkehrsraum dient. Den Nutzern werden hier die verschiedenen Möglichkeiten der Erschließung zur Wahl gestellt.
Das Foyer wird geprägt von galvanisierten Kunststoff-Paneelen, einem großformatigen Aluminium-Relief und einem von Herbert W. Kapitzki entworfenen Teppich. Letzterer ist abgestimmt auf das – ebenfalls von Kapitzki entwickelte – Corporate Design und das daran angepasste Leitsystem. Über verschiedenfarbig gestaltete Geschosse und eigens entwickelte Piktogramme wird somit die Verkehrsführung im Gebäude geregelt.
Daneben verfügt der neue Firmensitz über eine seinerzeit hochmoderne “Telelift”-Anlage: Sie transportierte Akten und Dokumente zwischen den Abteilungen. Fortschritte in der Firmenlogistik, den Informationswissenschaften und der Organisationstheorie prägen somit – stärker als noch zwanzig Jahre zuvor – die äußere und innere Auffassung des Baukörpers. Das Thema Bewegung wird nun in der Architektur zentral sichtbar.
1953-2014 – vom Funktions- zum Bedeutungsträger
Unterwegs zum Bedeutungsträger: das Treppenhaus der Mikrobiologie des Charlottenburger Schering-Werks (Bild: Schering Archiv, Bayer AG, 1959)
Die nach dem Krieg durchgängig gewachsenen Schering-Werke stehen beispielhaft für die Inszenierung von Erschließungssystemen im Industrie- und Verwaltungsbau. Noch 1953 legte sich der moderne Funktionalismus wie ein starres Gerüst über die innere Struktur der Schering-Bauten. Dies wurde z. B. mit dem Treppenhaus 1958 behutsam aufgelockert. Bis 1978 kehrte Schering dann spätbrutalistisch ihre inneren Verkehrselemente als Bedeutungsträger nach außen.
Bis heute blieben die drei hier vorgestellten Schering-Bauten formal und funktional unverändert. Telelift, Leitsystem und Foyer-Teppich mussten zwar 2005/06 neuen Anforderungen weichen. Dennoch liefern die Bauwerke weiterhin ein reifes Zeugnis für die architektonische Mobilisierung der Nachkriegsmoderne.
Rundgang
Begleiten Sie Andreas Baudisch – mit Bildern von Schering Archiv, Bayern AG – auf einen Gang durch die Bauten der ehemaligen Berliner Schering AG.
Rückseite des Verwaltungsgebäudes der Schering AG (Bild: Schering Archiv, Bayer AG, um 1954)
Treppenhaus des Mikrobiologischen Betriebs im Charlottenburger Schering-Werk, Ansicht von Südwesten (Bild: Schering Archiv, Bayer AG, 1959)
Verwaltungshochhaus an der Müllerstraße kurz nach Fertigstellung des ersten Bauabschnittes (Bild: Schering Archiv, Bayer AG, 1974)
Mitarbeiter an einer Telelift-Box (Bild/Titelmotiv: Schering Archiv, Bayer AG, um 1976)
Literatur
Buttlar, Adrian von u. a. (Hg.), Baukunst der Nachkriegsmoderne. Architekturführer Berlin 1949-1979, Berlin 2013.
Hillmann, Roman, Die erste Nachkriegsmoderne – Ästhetik und Wahrnehmung der westdeutschen Architektur 1945-63, Petersberg 2011.
Pehnt, Wolfgang, Deutsche Architektur seit 1900, München 2005.
Aus Berlin in alle Welt – Die Schering AG 1949-1971, hg. von der Schering Aktiengesellschaft, Berlin 1998.
Banham, Reyner, Brutalismus in der Architektur – Ethik oder Ästhetik? Stuttgart 1966.
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Inhalt
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