von Ira Diana Mazzoni (23/2)

Das alte E-Werk von Luckenwalde, ein ursprünglich mit Braunkohle betriebenes Dampfkraftwerk, ist Bau-, Industrie- und Technikdenkmal. Seit es im Besitz des Kollektivs Performance Electrics gGmbH unter Leitung von Pablo Wendel ist, dient die riesige Anlage als experimentelle Produktions- und Forschungsstätte, Bühne, Atelierhaus und Ausstellungshalle für zeitgenössische Kunst. So weit, so üblich. Aber der Performance-Künstler Pablo Wendel, der Elektrizität zu seinem Medium erkoren hat, setzte alles daran, dass das E-Werk 110 Jahre nach seiner ersten Inbetriebnahme und 30 Jahre nach seiner Stilllegung wieder Strom liefert – „Kunststrom“ aus nachwachsenden Rohstoffen. Er vertiefte sich in die alten Werkspläne, holte sich den Beistand der ehemaligen Belegschaft, ließ sich alles zeigen und erklären und gewann damit Achtung und Freundschaften. Über die Internetplattform workaway.com rief er Helfer:innen aus aller Welt nach Luckenwalde. Insgesamt 200 Freiwillige brachten ihre unterschiedlichen Expertisen und Fähigkeiten ein. Die hauseigenen Werkstätten machten vieles möglich. Es wurde geschnitten, geschweißt und gehämmert. Nach einem Jahr liefen die Schaufeln und Bänder wieder.

Luckenwalde, E-Werk (Bild: E-Werk Luckenwalde, Ben Westoby)

Luckenwalde, E-Werk, Haupteingang zur Straße (Bild: E-Werk Luckenwalde, Ben Westoby)

Die Power des Kunstkollektivs

Heute rumpeln im E-Werk tablettengroße Hackschnitzeln aus Restholz über die Förderbänder und werden in einem Pyrolyseverfahren verstromt. Damit wird nicht nur der Energiebedarf des Kunstbetriebs CO2-neutral gedeckt. Der gemeinnützige Stromanbieter Performance Electrics speist den Überschuss ins Netz und liefert Bürgerstrom. Die Einnahmen fließen wieder der Kunstproduktion vor Ort zu. Von der ideellen und praktischen Power des Kunstkollektivs soll bald auch das benachbarte Schwimmbad profitieren, das einst die Abwärme des E-Werks nutzte. Als „Energiecampus“ soll das Denkmal des Neuen Bauens wieder sozio-kulturelles Zentrum der Kreisstadt werden. Es gibt wohl keinen sinnfälligeren Ort, um das Thema Nachhaltigkeit öffentlich und bildwirksam zu inszenieren und die Vorzüge der vielfach geforderten Reparaturgesellschaft vorzuleben. Die konsequente Nutzung Grauer Energie hat bei dem Projekt mindestens den gleichen Stellenwert wie die Erzeugung von Strom und Wärme aus regenerativen Quellen.

Luckenwalde, E-Werk, Fassade (links) und Turbinenhalle, um 1928 (Bild: E-Werk Luckenwalde)

Luckenwalde, E-Werk, Fassade (links) und Turbinenhalle, um 1928 (Bild: E-Werk Luckenwalde)

Eine sprechende Hülle

Wer das erste Mal vor dem E-Werk steht, begreift sofort, warum Pablo Wendel dieses Bauwerk unbedingt für seine künstlerische Produktion und den Standort der Performance Electrics gGmbH erwerben wollte. Das Ensemble aus Verwaltungsbau, Büro- und Werkstatttrakt, Turbinenhalle und Kesselhaus bietet mit 3700 Quadratmetern Nutzfläche und einem 10.000 Quadratmeter großen Grundstück Platz für alle erdenklichen ästhetischen Experimente.

Es ist aber vor allem die sprechende Hülle für die Kernthemen des Kunstkollektivs. Das ehemals städtische Braunkohlekraftwerk gehört zu jenen Bauprojekten des späten Kaiserreichs, die das neue Zeitalter der Elektrizität pompös in Szene setzten. Der dreigeschossige Verwaltungsbau an der Rudolf-Breitscheid-Straße wirkt wie ein herrschaftliches Stadthaus. Ein mit Koniferen bepflanzter Vorgarten schafft Abstand zur Straße. Das hohe Untergeschoss bildet einen mächtigen Sockel, über dem die repräsentativen Geschosse thronen, bekrönt von einem Mansarddach. Monumentale Pilaster und feine Lisenen betonen die Fensterachsen. Der Haupteingang wird durch den Mittelrisalit, flankierende Säulen und ein geschwungenes Dach hervorgehoben.

Eine Freitreppe führt hinauf zur rundbogigen Eingangstür, die von einer Lünette mit Glasmalerei überhöht wird: Diese zeigt – ganz in der Tradition akademischer Emblematik – eine Blitze bündelnde Faust, die sich aus blauen Wolken streckt. Mit diesem Bild ist aber die Inszenierung des neuen elektrischen Zeitalters noch nicht zu Ende. Hinter der Tür führt eine steile Treppe geradewegs ins Hauptgeschoss, überwölbt von einer Kassettendecke, in der 35 Glühbirnen für himmlische Lichtfülle sorgen. Ein langer Gang leitet dann zum Herzstück der Anlage, zur Turbinenhalle. Selbst dieser von den Putzbauten der Verwaltung und der Werkstätten abgerückte, als Stahlbetonskelettbau mit Ziegelausfachung errichtete Trakt ist mit Pilastern, Stuckfriesen und einer Tageslichtdecke baukünstlerisch veredelt. Die auf Hochglanz polierten Turbinen und marmornen Schaltborde sind allerdings längst demontiert. Nur die alte Kranbahn ist noch vorhanden und tut ihren Dienst in der knapp 330 Quadratmeter großen Ausstellungshalle des E-Werks.

Luckenwalde, E-Werk, Kesselhaus (links) und Haupteingang mit Lünette (Bilder: links: E-Werk Luckenwalde, Ben Westoby; rechts: E-Werk Luckenwalde)

Luckenwalde, E-Werk, Kesselhaus (links) und Haupteingang mit Lünette (Bilder: links: E-Werk Luckenwalde, Ben Westoby; rechts/Titelmotiv: E-Werk Luckenwalde)

Unter der Lünette

Pablo Wendel und seine Partnerin, die englische Kuratorin Helen Turner, konnten nicht widerstehen, das Motiv der Eingangslünette – abgespeckt auf eine Umrisszeichnung – zu ihrem Logo zu machen. Umgedeutet als Bild der Selbstwirksamkeit, ziert es inzwischen jedes Programm. Die Botschaft ist klar: Auch die neue Energiewende bedarf der ästhetischen Vermittlung und einprägsamer Geschichten. Dazu zählen selbstverständlich die denkmalgeschützten technischen Anlagen im Kesselhaus, darunter die vier Dampferzeuger aus den Jahren 1913 und 1915. Diese sind zwar für den heutigen Betrieb überflüssig, gehören aber zwingend zum skulpturalen Gesamtkunstwerk E-Werk.

Deswegen führte der Weg zur Ausstellung „Cold light“ von der Hofseite des E-Werks quer durch das Kesselhaus – vorbei an den grünen Relikten des fossilen Zeitalters. Der Ausstellungstitel spielte auf die Ablehnung elektrischen Lichts zu Beginn des 20. Jahrhunderts an. Die Menschen empfanden es als kalt. In Zusammenarbeit mit den britischen Multimediakünstlern Lindsey Seers und Keith Sargent war Pablo Wendel dem utopischen Werk von Nikola Tesla nachgegangen und hatte in den Werkstätten des E-Werks mit alten Maschinen und Materialien eine Tesla-Spule nachgebaut, mit der rein theoretisch drahtlos Energie verschickt werden könnte. Solche wilden Theorien faszinieren den Künstler. Sein Nachbau des „Resonanztransformators“ war dann das einzige, räumlich fassbare und begehbare Exponat in einer Schau virtuell erzeugter Bilder. Gemeinsames Thema war das oszillierende Verhältnis von Wahrnehmung und Bewusstsein.

Luckenwalde, E-Werk, um 1928 (links) und 2022 (Bilder: links: E-Werk-Luckenwalde; rechts: Ira Mazzoni, 2022)

Luckenwalde, E-Werk, um 1928 (links) und 2022 (Bilder: links: E-Werk-Luckenwalde; rechts: Ira Mazzoni, 2022)

Ein eigenes Kraftwerk

Luckenwalde hätte bereits vor 1900 unter den ersten Industriestädten mit eigenem Elektrizitätswerk sein können. 1898 hatte die AEG angeboten, den Kleinbetrieben der Stadt – Tuch- und Hutfabriken, Möbel- und Pianobauern sowie zahlreichen Maschinenbaubetrieben – Elektrizität zu liefern. Doch das Interesse für die Innovation war gering. Es war gerade einmal sieben Jahre her, dass es anlässlich der ersten Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt am Main gelungen war, Strom über eine Strecke von mehr als 150 Kilometern zu transportieren. Damit bahnte sich an, dass nicht mehr jeder Betrieb mit Kohle beliefert werden musste. Teure und betreuungsintensive Dampfmaschinen wurden überflüssig, stattdessen konnten große und kleine Elektromotoren mit „sauberem“ Strom vom entfernten Kraftwerk in Gang gesetzt werden. Für den Standort Luckenwalde kam ein weiterer Vorteil der neuen Technologie hinzu. Das Elektrizitätswerk konnte mit minderwertiger Braunkohle aus der nahen Lausitz arbeiten. Aber der Luckenwalder Magistrat blieb skeptisch und blockierte die Energiewende.

Erst im Januar 1912 fasste die Stadtversammlung den Beschluss zum Bau eines eigenen Kraftwerks. Die Grundsteinlegung erfolgte am 30. Januar 1913 auf einem Grundstück am südlichen Stadtrand, direkt neben den Bahngleisen und mit einem eigenen Gleisanschluss. Bereits am 24. November konnte das E-Werk den ersten Strom liefern. Während des Ersten Weltkriegs erlebte Luckenwalde dann nicht zuletzt aufgrund seines Braunkohlekraftwerks einen enormen Industrialisierungsschub. Als dann das Petroleum knapp wurde, stieg auch in den Privathaushalten die Nachfrage nach Strom. Das E-Werk erhöhte die Zahl der Kessel von zwei auf vier und schloss zwei weitere Generatoren an. 1920 wurde die Feuerung aus Kostengründen von Braunkohlebriketts auf Rohbraunkohle umgestellt. 1923 war das Kraftwerk so weit ausgebaut, dass es eine Leistung von 3,25 Megawattstunden brachte. Luckenwalde entwickelte sich zur „Werkstatt der Moderne“, neben den Fabriken entstanden neue Siedlungen, Schulen, Ämter, Sozial- und Kultureinrichtungen. Am südlichen Stadtrand, unweit des E-Werks, wurde ein neues Industriegebiet ausgewiesen. Dort plante der Architekt Erich Mendelssohn eine Hutfabrik für die fusionierte Firma Steinberg Herrmann und Co.

Luckenwalde, ehemaliges Stadtbad, 2022 (links) und um 1928 (Bilder: links: Ira Mazzoni, 2022; rechts: E-Werk Luckenwalde)

Luckenwalde, ehemaliges Stadtbad, 2022 (links) und um 1928 (Bilder: links: Ira Mazzoni, 2022; rechts: E-Werk Luckenwalde)

Ein Hallenbad

Bei so viel Fortschritt durfte ein Städtisches Hallenbad nicht fehlen. Die Kommune besaß das Grundstück gleich neben dem E-Werk. Es lag nahe, Synergieeffekte zu nutzen und mit der Abwärme aus dem Kühlwasser des Kraftwerks für die Temperierung des Schwimmbads zu sorgen. Für die Finanzierung sorgte ein PPP-Modell mit der Siemens-Bauunion, einem Tochterunternehmen der Siemens-Halske AG. Die Firma finanzierte vor, die Stadt tilgte ihre Schuld aus der Verzinsung der Goldreserven, die beim Bau des E-Werks hinterlegt worden waren. Hans Hertlein, Chefarchitekt der Siemens-Halske AG, setzte sich in einem kleinen, eingeschränkten Wettbewerb durch.

1928 entstand ein klar nach Funktionseinheiten gegliederter, in Höhe und Tiefe gestaffelter Stahlskelettbau mit roten Verblendmauerwerk. Dabei ist die Position des Schwimmbads auf den ersten Blick durch das Stahlbetondach erkennbar, das den flachen südlichen Baukubus überragt. Das Städtische Hallenbad war nicht in erster Linie Sportstätte, sondern sollte der Gesundheitsvorsorge in der verrauchten Industriestadt dienen. Medizinischen Kohlesäure-, Moor-, Schwefel- und Fichtennadelbäder sollten zur Heilung und Vorbeugung von Atemwegserkrankungen oder Rheuma beitragen. Krankenkassen sollten entlastet werden, ein Erweiterungsbau des Krankenhauses erspart bleiben. Auch Erholung und Sonnenbaden waren wichtig. Deshalb wurde das Stadtbad in eine Grünanlage mit Schmuckbeeten eingebettet. Die Flachdächer der Schwimmhalle waren Liegestuhl-Decks. Die arbeitende Bevölkerung sollte dort Energie tanken und sich wertgeschätzt fühlen.

Luckenwalde, ehemaliges Stadtbad, Schwimmhalle (Bild: Irina D. Mazzoni, 2022)

Luckenwalde, ehemaliges Stadtbad, Schwimmhalle (Bild: Ira Mazzoni, 2022)

Ein besonderer Ort

„Das war ja nicht irgendein Ort – da hat man sich getroffen, das war ein sozialer Ort“, erzählt Pablo Wendel. „Unser Campus soll ein solcher sozialer, energiespendender Ort werden, wo auch Kitas und Senioren hinkommen können.“ Einmal schon hat das Team vom E-Werk gezeigt, was im 1991 stillgelegten Schwimmbad möglich wäre: Helen Turner lud die preisgekrönte litauische Biennale-Produktion der Oper “Sun & Sea” ein, nach Luckenwalde zu kommen. Dafür wurde das ehemalige Schwimmbecken von zahlreichen Helfer:innen mit Sand gefüllt. Die perfekte Kulisse für ein Stück, das vom Sommerurlaub am Strand handelt und in all die Sonnen-Routinen und Smalltalks beunruhigende Beobachtungen zur Meeresverschmutzung und Algenwachstum einflicht. Binnen zwei Tagen waren die Inszenierungen 2021 ausverkauft. Das Publikum stand auf der Frauengalerie und beobachtete die Schauspieler:innen und Sänger:innen wie unter einem Brennglas. Noch heute wird in Luckenwalde von diesem Ereignis mit Begeisterung in den Augen gesprochen.

Inzwischen hat die Stadt Luckenwalde die Zusage vom Bund, dass die weitere Sanierung und die Entwicklung des Stadtbades zum „nutzungsflexiblen“ „Kunst- und Ausstellungszentrum“ als „nationales Projekt des Städtebaus“ gefördert wird. Ob daraus der angedachte „Energie-Campus“ wird, entscheiden nicht zuletzt die Bürger:innen, die intensiv an den Planungen beteiligt werden sollen.

Luckenwalde, E-Werk und ehemalige Schwimmhalle (Bild: Ira Mazzoni, 2022)

Literatur und Links

Transferkonzept E-Werk Luckenwalde.

Online-Auftritt des E-Werks Luckenwalde.

Drachenberg, Thomas, Die Baugeschichte der Stadt Luckenwalde 1918–1933, Worms 1999, hierin S. 46–68.

Luckenwalde, E-Werk (Bild: Irina D. Mazzoni, 2022)

Luckenwalde, E-Werk (Bild: Ira Mazzoni, 2022)

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Bonusbeitrag

Inhalt

LEITARTIKEL: Energiebauten

LEITARTIKEL: Energiebauten

Michael Hascher zur langen Geschichte der modernen Kraftwerke.

FACHBEITRAG: E-Werk Luckenwalde

FACHBEITRAG: E-Werk Luckenwalde

Ira Mazzoni über ein ehemaliges Kraftwerk, das als Kreativort mit “Kunststrom” reaktiviert wurde.

FACHBEITRAG: Pumpspeicherwerk Niederwartha

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Gunnar Klack über ein Kraftwerk aus dem Jahr 1930, das für die rasante Entwicklung des modernen Stromnetzes steht.

FACHBEITRAG: Müll­verbrennungs­anlage Spittelau

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