Andree Weißert im Gespräch über den “Atomteller” (23/2)

Sollten sich Politik und Energielobby dieses Mal an ihren eigenen Zeitplan halten, sind die letzten drei deutschen Atomkraftwerke bereits Geschichte, wenn dieser Beitrag erscheint. Die Regisseurin und Autorin Mia Grau sowie der Architekt und Gestalter Andree Weißert nahmen diesen Schritt 2015 vorweg: Mit ihrem “futurnostalgischen Atomteller” schufen sie ein Designstück mit Widerhaken. Die 19 Reaktoren, die sie in Kobaltblau auf Porzellan bannten, reichen von Brunsbüttel bis Neckarwestheim, von Hamm-Uentrop bis Greifswald. Auf jeder Rückseite findet sich – als wolle man mit den technischen Daten Quartett spielen – eine ganze Liste mit Details: Koordinaten, Bundesland, Gewässer, Eigentümer, Reaktortyp, elektrische Leistung, Baubeginn, Leistungsbetrieb, Abschaltung und meldepflichtige Ereignisse. In der Kategorie “Rückbau” prangt oft nur ein Strich, zum Selberausfüllen. moderneREGIONAL sprach mit Andree Weißert über die damalige Idee und deren Folgen.

Atomteller in Serie: Siede- und Druckwasserreaktor in Philippsburg, Laufzeiten: Block 1: 1980 bis 2011, Block 2: 1985 bis 2019 (Bilder/Titelmotiv: atomteller.de)

moderneREGIONAL: Den Atomteller gibt es seit 2015. Die Idee soll auf einem Sofa entstanden sein.

Andree Weißert: Das war eine klassische Schnapsidee. Meine Partnerin Mia Grau und ich saßen abends, damals noch ohne Kinder, zusammen auf dem Sofa und sprachen über nostalgische Reflexe. Warum wir historische Windmühlen romantisch verklären, während moderne Windräder so verpönt sind. Dabei waren Mühlen früher genauso unmaßstäblich in der Landschaft, wie es Windkraftanlagen heute sind. Was würde passieren, wenn man sie auf einen dieser blau-weißen Schmuckteller druckt, auf denen alles nostalgisch wirkt? Meist verpuffen solche Ideen sehr schnell wieder. Aber von dieser waren wir noch am nächsten Tag so begeistert, dass wir sie tatsächlich umgesetzt haben.

mR: Aber ohne Windräder?

AW: Ja, als Bildwirkung wären Windkraftanlagen in der Landschaft nur schwierig zu fassen. Daher haben wir uns am Ende für Atomkraftwerke entschieden. Wir kommen beide aus Norddeutschland. Die Kraftwerke an der Elbe waren für uns Wendemarken beim Segeln und Orientierungspunkte auf dem Weg zum Schwimmbad. Viele Menschen verstehen Atomkraftwerke als Markierung ihrer Heimat. Damit sind wir zur Aussage gesprungen, den Begriff der Nostalgie positiv aufzuladen: Wenn wir Atomkraftwerke auf Teller drucken, dann nennen wir das Futurnostalgie. Wir nehmen die Vergangenheit vorweg.

Atomteller im Grünen, links: Druckwasserreaktor Grohnde Laufzeit: 1985 bis 2021 (Bilder: atomteller.de)

Atomteller im Grünen: Druckwasserreaktor Grohnde, Laufzeit: 1985 bis 2021 (Bilder: atomteller.de)

mR: Und wie haben Sie die passende Porzellanmanufaktur gefunden?

AW: Wir haben viel recherchiert. Hier im ostdeutschen Kontext gibt es eine große Porzellantradition. Davon haben wir mehrere Betriebe angesprochen und besucht. Viele von ihnen brauchen große Stückzahlen. Bei Reichenbach hingegen produziert man viel für Künstler und Designer und ist offen für Kooperationen mit Gestaltern und Ideengebern. Die Manufaktur lebt zwar vom Gebrauchsporzellan und hat ein großes Archiv an Gussformen – auch eine Form des kulturellen Gedächtnisses. Doch Reichenbach nutzt auch die Nische der Kleinserien. Wir hatten wahnsinniges Glück, denn dort hat man unsere Idee verstanden.

mR: Konnte sie ihre Idee genauso umsetzen, wie sie auf dem Sofa entstanden war?

AW: Unsere Bilder wurden von der Porzellanmalerin Heike Tropisch wunderbar auf Papier umgesetzt, dann digitalisiert. Daraus entstanden “Abziehbilder”, die auf ganz gewöhnliche Teller aufgebracht werden konnten. Solche Folien werden mit Porzellan- und Keramikfarbe mit Glasanteilen bedruckt, die beim erneuten Brennen mit der Glasur verschmelzen. Alles andere wäre viel zu teuer. An jeder Stelle im Prozess waren wir begeistert, wie weit wir in dieser Kooperation kamen. Wir wollten einen Gebrauchsgegenstand mit nostalgischer Attitüde schaffen, das ist uns gemeinsam geglückt.

Atomteller im Einsatz: Druckwasserreaktor Neckarwestheim, Laufzeiten: Block 1: 1976 bis 2011, Block 2: 1989 bis voraussichtlich April 2023 (Bilder: atomteller.de)

mR: Sie setzen auf den Überraschungseffekt …

AW: … und das gleich zweifach: an der Wand und auf dem Tisch. Wir hatten die ganze Serie bei uns zu Hause an der Wand. Sie wurden dort für ein Fotoshooting aufgehängt und blieben ganze fünf Jahre. Dann haben wir die Wohnung umgebaut und benutzen sie seitdem nur noch als ganz normale Teller. An der Wand brauchten viele Menschen mehrere Besuche, bis sie das Motiv entschlüsselten. Und letztes Silvester, beim Käsefondue, hat es eine ganze Weile gedauert, bis sich eine Bekannte beim Essen wunderte, was da auf dem Teller noch zu finden war. Am Anfang haben wir die Atomteller ausgestellt und diesen Überraschungseffekt oft genossen. Jetzt erleben wir im Alltag nicht mehr so direkte Reaktionen.

mR: Heute, nach acht Jahren, haben sich die Reaktionen verändert?

AW: In der Regel bewegen wir uns in einem Kontext, in dem man davon ausgeht, dass Atomkraftwerke abgeschaltet werden und dass das gut ist. Aber wir werden inzwischen von anderen Menschen auf den Atomteller angesprochen. Am Anfang waren es vor allem Grafiker und Künstler – Menschen, die mit visueller Kommunikation zu tun haben. Dann wurden sie von Museen und Sammlern gekauft, als Designprodukt, das man gut ausstellen kann. In diesem Zeitfenster waren bemalte Teller mit ironischen Motiven allgemein sehr beliebt. Und seit drei Jahren interessieren sich vor allem Menschen aus der Wissenschaft für den Atomteller: aus Architektur, Denkmalpflege und Landschaftsarchitektur. Ihnen geht es um die Symbolkraft und das industrielle Erbe der Reaktoren. Uns macht es weiter Spaß, wenn wir sehen, dass der Teller andere Leute begeistert oder motiviert, mit diesem Denkanstoß auf eine andere Spur zu kommen. Wir verkaufen immer noch das ein oder andere Stück, das ist ein willkommenes Taschengeld. (lacht)

Atomteller im Regal: Druckwasserreaktor Mülheim-Kärlich, Laufzeit: 1987 bis 1988 (Bilder: atomteller.de)

Atomteller im Regal: Druckwasserreaktor Mülheim-Kärlich, Laufzeit: 1987 bis 1988 (Bilder: atomteller.de)

mR: Welche Idee treibt sie heute so um, wie Sie sich 2015 mit den Atomkraftwerken auseinandergesetzt haben?

AW: Die Transformation der Städte, darum wird sich mein nächstes Projekt drehen – aber das ist eine andere Geschichte.

mR: Wie stehen Sie persönlich zur Atomenergie?

AW: Ich bin nie ein Aktivist gewesen, bin nie für etwas auf die Straße gegangen. Ich mag keine großen Menschenansammlungen, die alle in dieselbe Richtung laufen. Bei unserem Projekt geht es um einen Denkanstoß. Deshalb haben wir die Atomkraftwerke bewusst nicht „böse“ genannt, sondern Zeitzeugnis. Aber mit den Tellern verabschieden wir diese Technologie in die Vergangenheit. Auch heute halte ich die Idee, dass wir irgendetwas mit Technologie beherrschen können, für Hybris. Fortschritt und das gute Leben findet in der unendlichen Verfügbarkeit von technischer Energie eine unzureichende Beschreibung. Es ist eigentlich ein riesengroßes Wunder, dass bei der Atomkraft nicht viel mehr passiert ist. Am Ende hängt es doch am Menschen. Schon wenn ich einen Text schreibe und diesen nachher korrigiere, was da alles an Fehlern passiert. Und erst recht beim Betrieb eines Reaktors, beim Abbau von Uran, …

mR: Woraus beziehen Sie selbst Ihre Energie?

AW: Aus positiven Erfahrungen. Dass man Dinge machen kann, dass man mit den Menschen und der Umwelt in Verbindung treten kann. Und dass das oft zu guten Ergebnissen und zu einem guten Sein führt. Wie man in die Welt hinein geht, so ist sie dann. Darum bin ich auch so gerne Gestalter.

Das Gespräch führte Karin Berkemann.

Andree Weißert und Mia Grau (Bild: atomteller.de)

Andree Weißert, geboren 1975, ist ausgebildeter Zimmermann und studierter Architekt. Er schreibt und gestaltet Möbel und Räume, Ausstellungen und Objekte. Mia Grau, geboren 1982, wuchs in Hamburg auf. Sie arbeitet als Regisseurin und Autorin. 2022 hat sie das Onlinemagazin Zucker&Zitrone gegründet – eine Plattform für Kinder- und Jugendliteratur. (Bild: atomteller.de)

Download

Bonusbeitrag

Inhalt

LEITARTIKEL: Energiebauten

LEITARTIKEL: Energiebauten

Michael Hascher zur langen Geschichte der modernen Kraftwerke.

FACHBEITRAG: E-Werk Luckenwalde

FACHBEITRAG: E-Werk Luckenwalde

Ira Mazzoni über ein ehemaliges Kraftwerk, das als Kreativort mit “Kunststrom” reaktiviert wurde.

FACHBEITRAG: Pumpspeicherwerk Niederwartha

FACHBEITRAG: Pumpspeicherwerk Niederwartha

Gunnar Klack über ein Kraftwerk aus dem Jahr 1930, das für die rasante Entwicklung des modernen Stromnetzes steht.

FACHBEITRAG: Müll­verbrennungs­anlage Spittelau

FACHBEITRAG: Müll­verbrennungs­anlage Spittelau

Karin Berkemann über einen Bau der 1970er Jahre und eine Idee von Friedensreich Hundertwasser.

INTERVIEW: "Das war eine klassische Schnapsidee"

INTERVIEW: “Das war eine klassische Schnapsidee”

Andree Weißert über die Idee des Atomtellers und ihre Folgen.

PORTRÄT: Sendungs­­bewusste Kraftwerke

PORTRÄT: Sendungs­­bewusste Kraftwerke

Daniel Bartetzko über Musik als Industriekultur, denn: Waren Pink Floyd Kohlekraft, so sind Kraftwerk Kernenergie.

FOTOSTRECKE: Lollipops

FOTOSTRECKE: Lollipops

Mit langen Belichtungszeiten halten Fotograf:innen die Windräder an, mit einem überraschenden Effekt.

Anmelden

Registrieren

Passwort zurücksetzen

Bitte gib deinen Benutzernamen oder deine E-Mail-Adresse an. Du erhältst anschließend einen Link zur Erstellung eines neuen Passworts per E-Mail.