von Elisa Lecointe (17/1)
Das Label Neues Frankfurt umschrieb in den 1920er Jahren ein allumfassendes städtebauliches Projekt. Beachtet werden heute zumeist die damit verbundenen sozialpolitischen Aktionen, wie der Wohnungs- und Siedlungsbau unter Stadtbaurat Ernst May. Weniger Aufmerksamkeit findet dagegen die Funktionsarchitektur für die städtische Infrastruktur und Administration, wie Verwaltungsgebäude, Jugendhäuser, Brücken und Industriebauten. Unter dem Begriff Neues Frankfurt ist aber mehr zu verstehen, beeinflusste das Programm doch die gesamte gestalterische Planung. Vom Kleingarten bis zur Parkanlage, vom Industriebau bis zur Leuchtreklame sollte eine ästhetische Einheit im Sinn des Neuen Bauens entstehen. Damit setzte sich Frankfurt deutlich von anderen Metropolen der Weimarer Republik ab und nahm eine Vorreiterrolle im modernen Städtebau ein. Ernst May wurden dafür mehr Befugnisse übertragen als jedem seiner deutschen Kollegen. Ihm unterstand das gesamte Dezernat für Hochbauwesen, das sich aus Hochbauamt, Siedlungsamt und Baupolizei zusammensetzte. Lediglich die künstlerische Leitung wurde Baudirektor Martin Elsaesser überlassen, der sich sämtlicher städtischer Großbauten annahm. May hingegen trat hauptsächlich im Wohnungsbau auf. Zu seinem festen Mitarbeiterstab gehörte auch der renommierte Architekt Adolf Meyer.
Adolf Meyer und die „Abteilung B“
Adolf Meyer (Quelle: Das Neue Frankfurt 9, 1929, Universitätsbibliothek Heidelberg, CC BY SA 3.0)
Adolf Meyer war von 1925 bis 1930 als Leiter der „Abteilung B“ für die städtische Bauberatung zuständig und verwirklichte als entwerfender Architekt mehrere Großprojekte wie die Kokerei des Gaswerks Ost und Neubauten der städtischen Elektrizitätswerke. Durch seine Berufung zum Leiter der Bauberatung strebte das Dezernat nach einem ästhetisch einheitlichen Stadtbild. Zugleich beeinflusste das Baudezernat mit seinem Angebot die Gestaltung aller privaten Bauwerke, das erzieherische Moment ist hierbei also nicht außer Acht zu lassen. Dies betraf vor allem den privaten Wohnungsbau, der ohne kommunale Unterstützung wenig lukrativ war. Die städtische Vergabe von Darlehen war streng daran gekoppelt, dass die vorgelegten Entwürfe auf ästhetische Richtlinien hin geprüft wurden. Adolf Meyer akquirierte hierfür ein ganzes Team junger Mitarbeiter und angehender Architekten, die er als Lehrer an der Frankfurter Schule für freie und angewandte Kunst kennengelernt hatte.
Meyer und seine Mitarbeiter überprüften innerhalb der Bauberatung nicht nur die Pläne privater Investoren, sondern erarbeiteten auch viele Entwürfe für verschiedenste Projekte und stellten sie privaten Investoren wie auch städtischen Organen für eigene Vorhaben zur Verfügung. Dieses Beratungsangebot wurde auch von privaten Bauherren und Baugenossenschaften in Anspruch genommen. So prägen das Frankfurter Stadtbild noch heute einige Mehrfamilienhäuser und Wohnkomplexe, die nicht unter May und dem Hochbauamt, sondern mit Unterstützung der Bauberatung von anderen Bauträgern verwirklicht wurden – und dennoch eindeutig die Handschrift des Neuen Frankfurt erkennen lassen.
Jugendheim Westend
Als erstes Bauprojekt Meyers für das Neue Frankfurt entstand 1926 das Jugendheim Westend. Wegen Baufälligkeit musste die Institution aus ihren angestammten Räumlichkeiten – einer ehemaligen Perlenfabrik – ausziehen und die Stadt entschied sich für einen Neubau. Auf dem Areal eines alten Krankenhauses am Ginnheimer Hang entstand ein eingeschossiger Flachdachbau, der zwei großen Schlafsälen, Garderoben, Waschräumen und einem Speisesaal mit kleiner Bühne Raum bot.
Das Jugendheim Westend, das heute nicht mehr erhalten ist, war eines der ersten Probebauten für das Frankfurter Montageverfahren. Es handelte sich dabei um eine Plattenbauweise, die mit Bimsbeton die Konstruktion ganzer Häuser innerhalb weniger Tage ermöglichte. Das Jugendheim steht außerdem beispielhaft für den engen Austausch zwischen Meyer und seinen Studierenden. Dem ersten Jahrgang seiner Architekturklasse stellte er die Aufgabe, Normgrößen für das Frankfurter Montageverfahren zu erarbeiten. Auch wenn das Jugendheim Westend formal Adolf Meyer zugeschrieben ist, findet sich auf einigen der Entwurfszeichnungen die Signatur seines Schülers Karl Göth.
Kokerei, Gaswerk Ost
Frankfurt am Main, Kokerei, Gaswerk, Kohlenturm (Quelle: Das Neue Frankfurt 9, 1929, Universitätsbibliothek Heidelberg, CC BY SA 3.0)
Parallel zum Jugendheim Westend erhielt Meyer den Auftrag für die Erweiterungsbauten am Frankfurter Gaswerk Ost. Das moderne Gaswerk am Osthafen entstand bereits in den Jahren 1910 bis 1912 durch Meyers Lehrer Peter Behrens. Mit den Erweiterungsbauten von 1926 sollte die Anlage um eine Kokerei ergänzt und so die Produktivität gesteigert werden.
Meyers Erweiterungsbauten – das Kohlensilo, die Mahlanlagen und Kohlenbehälter sowie die Förderbänder und Laufkatzen – sind um den futuristisch anmutenden, gewölbten Kohlenturm im Zentrum der Anlage gruppiert und ästhetisch ihrer jeweiligen Funktion zugeordnet. Schon die unterschiedlichen Materialien verkörpern die Aufgaben der einzelnen Bauten innerhalb des Produktionsprozesses: Für alle Behältniskonstruktionen verwendete Meyer Eisenbeton, für alle nicht prozessgebundenen Bauten wie Treppenhäuser und Maschinenräume Klinker, für die Förderbänder und Laufkatzen Eisenfachwerk.
Meyer sah die Anlage als Abbild der Kohleumwandlung vom Rohzustand zum fertigen Produkt. May adelte Meyers Anlage als große Verschmelzung von Zweck und Form, die sie zum Symbol des modernen Industriezeitalters werden lasse. 1945 wurde das Gaswerk zerstört. Dass Frankfurt bis in die 1930er Jahre ohne Ferngas auskam, ist sicherlich der Erweiterung des Gaswerkes Ost um die Bauten Meyers zu verdanken.
Städtische Elektrizitätswerke, Prüfamt 6
Frankfurt am Main, Prüfungsamt 6 (Quelle: Das Neue Frankfurt 9, 1929, Universitätsbibliothek Heidelberg, CC BY SA 3.0)
Den zweiten großen Auftrag für ein Industriegebäude erhielt Meyer 1927 noch während der Arbeiten am Gaswerk Ost. Der Ausbau der städtischen Stromversorgung war zu dieser Zeit überfällig. Während sich in Europa längst der Drehstrom etabliert hatte, wurde Frankfurt noch mit Wechselstrom versorgt. Gleichzeitig entstand in der Römerstadt die erste vollelektrifizierte Siedlung Deutschlands und diverse andere Haushalte harrten des Anschlusses an das Netz.
Die Elektrifizierung Frankfurts ging mit der Aufstellung zahlreicher Elektrizitätszähler einher. Da das alte Prüfamt in der Neuen Mainzer Straße dem nicht mehr standhalten konnte, wurde nach den Entwürfen Meyers 1928 das Prüfamt 6 in der Gutleutstraße errichtet. Neben der von Fensterbändern gezierten Betonfassade des Hauptgebäudes war die auf acht Stützen ruhende Kuppel mit einer Spannweite von 26 Meter prägend. Die Kuppelkonstruktion, die auf einem gewagten Verhältnis zwischen Wandstärke und Krümmungsradius beruhte, galt in den 1920er Jahren als Revolution im Betonbau.
Mit der nüchternen und klaren Formensprache seiner Fassade gehört das Prüfamt 6 zweifellos zu den bekanntesten Werken Meyers. Auch wenn es nicht über die Eleganz des Fagus-Werks mit seiner berühmten Glasvorhang-Fassade verfügt, ist der Wiedererkennungswert nicht zu leugnen. Für Meyer gab es grundsätzlich zwei Formen industrieller Anlagen – diejenigen, bei denen die einzelnen Baukörper selbst Träger des industriellen Prozesses sind (siehe Gaswerk Ost) und diejenigen, bei denen das architektonische Gehäuse den industriellen Betrieb aufnimmt (siehe Prüfamt 6). Bis heute ist das Prüfamt erhalten und wird vom Energieversorger Mainova betrieben.
Funkstelle auf dem Rebstockgelände
Frankfurt am Main, Funkstelle auf dem Flugplatz auf dem Rebstockgelände (Quelle: Nachlass Heinrich Helbing)
Die Funkstelle des Flugplatzes auf dem Rebstockgelände ist heute ebenso wenig erhalten wie der Flugplatz selbst. In den 1920er Jahren galt er nach Berlin als zweitgrößter deutscher Flughafen. 1928 wurde er um eine Funkstelle erweitert, die gemeinsam von Meyer und seinem jungen Mitarbeiter Heinrich Helbing entworfen wurde.
Das T-förmige Gebäude wurde als eingeschossiger Flachbau errichtet und umfasste eine Wohnung für den angestellten Funker, einen Sende- und Maschinenraum sowie zwei Funktürme jeweils an der nördlichen und südlichen Seite der Anlage. Bemerkenswert war die großzügige Verglasung: Sie überspannte das Dach von einer Hauswand zur gegenüberliegenden Hauswand und sorgte dabei für optimale Lichtverhältnisse im Inneren.
Entlang der Nidda
Frankfurt am Main-Rödelheim, Niddabrücke (Quelle: Nachhlass Heinrich Helbing)
Die größten Siedlungen, die unter Ernst May in Frankfurt gebaut wurden, entstanden im Niddatal im Norden der Stadt. Dieses Vorhaben setzte voraus, den Fluss zu regulieren, Überschwemmungen vorzubeugen und damit Bauland zu gewinnen.
Die Stadt beauftragte Meyer mit der Errichtung von Wehren, um den Flussstrom besser kontrollieren zu können. Damit einher ging der Bau neuer Brücken, um den Straßenverkehr zu erweitern und den Tramverkehr zu trassieren. 1928 entstanden vier Wehre in den Stadtteilen Rödelheim, Hausen, Praunheim und Eschersheim nach Entwürfen Meyers. Sie dienten später als Vorlage für weitere Wehre in Höchst und Sossenheim.
Die Nidda-Regulierung diente auch dem Ausbau der Grün- und Erholungsflächen. Die hierbei entstehenden Altarme und Inseln sollten teils den Naturschutz fördern, aber auch als Licht-, Luft- und Sonnenbäder müde Großstädter zur Entspannung einladen. Auf Meyers Planung geht das Naturschwimmbad im Brentanopark zurück. Der Altarm im Park wurde leicht begradigt und als Freibad genutzt, während auf dem restlichen Areal Umkleidehallen und Gebäude mit großen Terrassen für den Restaurantbetrieb entstanden.
Milchhäuschen und Spielplätze
Frankfurt am Main, Brunnen (Quelle: Das Neue Frankfurt 9, 1929, Universitätsbibliothek Heidelberg, CC BY SA 3.0)
Die Vielseitigkeit Meyers schlägt sich auch in kleinen Funktionsbauten zur Belebung der Parkanlagen nieder. In seinem Nachlass finden sich Entwürfe der für Frankfurt charakteristischen Milch- und Wasserhäuschen sowie für kleine Kioske. Für einen Auftrag des Gartenbauamts, die Wallanlagen um den Altstadtring zu gestalten, entwickelten Meyer und seine Mitarbeiter außerdem Typen von Brunnen, Planschbecken, Unterstandshallen und Parkmöbeln – darunter Bänke und Kinderspielgeräte. Das Leben und Wirken Meyers endete 1929 tragisch bei einem Badeunfall in der Nordsee. 1930 beschloss der Weggang Mays und vieler seiner Kollegen in die UdSSR das avantgardistische Städtebauprojekt in Frankfurt.
Literatur
Jaeggi, Annemarie, Adolf Meyer. Der zweite Mann. Ein Architekt im Schatten von Walter Gropius, Ausstellungskatalog Bauhaus-Archiv, Berlin 1994.
Risse, Heike, Frühe Moderne in Frankfurt am Main 1920-1933, Frankfurt am Main 1984.
Das neue Frankfurt. Internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung 9, 1929.
Titelmotiv: Frankfurt am Main, Rebstockgelände, Infrastrukturbauten des Flugplatzes, 1929 (Quelle: Nachlass Heinrich Helbing)
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Inhalt
LEITARTIKEL: Vernetzungen
Dirk van Laak beschreibt das unsichtbare Nervensystem unserer Gesellschaft: die moderne Infrastruktur, die uns oft erst auffällt, wenn sie ausfällt.
FACHBEITRAG: Stadt-Autobahnen
Julius Reinsberg folgt der modernen Schnellstraße durch ihre Geschichte: von den Gedankenspielen der 1920er Jahren bis zum Wiederaufbau der Nachkriegszeit.
FACHBEITRAG: Staudämme
Benjamin Brendel untersucht diese funktionalen Symbole – prestigeträchtige Ingenieurbauwerke, die wenig von ihrem Ewigkeitsanspruch eingebüßt haben.
FACHBEITRAG: Funktionsbauten
Elisa Lecointe durchstreift das Neue Frankfurt der 1920er Jahre nach den wegweisenden Infrastrukturbauten von Adolf Meyer.
FACHBEITRAG: Autogerechtigkeiten
Paul Zalewski zeigt Hannover als „autogerechte Stadt“ von Modellcharakter für die 1950er Jahre – und den heutigen Umgang mit dem gebauten Ergebnis.
INTERVIEW: Werner Durth und die unterirdische Stadt
Der Architekturhistoriker spricht über den Reichturm der Infrastruktur und ihre Rolle im Wiederaufbau deutscher Städte nach 1945.
FOTOSTRECKE: Untergründe
Der Verein Berliner Unterwelten präsentiert exklusiv Bilder von Holger Happel und Frieder Salm aus Luftschutzbunkern, Brauereikellern und U-Bahnhöfen.
PORTRÄT: Rundlokschuppen
Daniel Bartetzko besucht in Berlin einen „verlorenen“ Ort der Eisenbahngeschichte, der schon lange auf seine zweite Chance wartet.