von Matthias Ludwig (15/4)
Fährt man durch das bewegte „Hessische Hinterland“, bietet sich um die Kleinstädte Biedenkopf und Gladenbach eine vielfältige Kulturlandschaft dar: Besonders ältere Häuser sind in Schiefer gedeckt und oft damit verkleidet. Die Kirchen zeigen ihre Entstehung ab dem Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert: größere Stein- und kleinere Fachwerkkirchen – und etliche Bauten der Moderne. Mitten im Hinterland liegt die Evangelische Kirche zu Obereisenhausen: auf den ersten Blick ein Bruchsteinbau mit östlichem (Chor-)Turm und angebautem Längsschiff.
Die Evangelische Kirche im hessischen Obereisenhausen – mitten im und über dem Ort, zwischen Alt und Neu (Bild: Matthias Ludwig)
Alt gegen Neu?
Von Ferne gut sichtbar, versteckt sich die Kirche (obwohl höher gelegen) in dem kleinen Ort mit ca. 600 Einwohnern zwischen ihn umgebenden (Fachwerk-)Häusern. Vom Ortsmittelpunkt, heute eine Kreuzung mit Bushaltestelle, Backhaus und Brunnen, steigt man durch eine kleine Gasse bergan – und nimmt erst unmittelbar vor der Kirche ihre Fremdheiten wahr. So weist der Turm mit seinem Helm von 1805 auf einen im Grundbestand romanischen Steinbau. Das ebenfalls steinsichtige Schiff lässt sich mit seinen flachen Segmentbogen-Fenstern dagegen nur schwer einordnen.
Nach außen gut verborgen: Auf den historischen Turm folgt ein modernes Schiff (Bild: Hydro, CC BY SA 3.0)
Betritt man die Kirche durch die (in die 1950er Jahre deutende) Haupteingangstür auf der Westseite, ist man erneut überrascht: eine helle postmoderne Farbgestaltung und eine Ausstattung, die wiederum auf die 1950er Jahre verweist. Längsgerichtet führt der mit einer flachen Tonnendecke überspannte, asymmetrische Ram (an Nord- und West-Seite ist eine zweiseitige Empore, im Süden ein mit flachen Arkaden abgegrenztes Seitenschiff angeordnet) zu dem im Turm verorteten Altar.
Endlich nimmt man auch die Kunst wahr: Neben dem Kupferbeschlag der Haupteingangstür im Westen schuf Hermann Tomada auch den im Altarraum hängenden Auferstandenen und das zweiseitige Altarkreuz. Die großteils abstrakten Fenster stammen vom überregional bekannten Helmut Lander, wie Tomada in Darmstadt ansässig und Mitglied der Neuen Darmstädter Sezession. So zeigt der auf den ersten Blick eher unscheinbare, dann schwer einzuordnende, schließlich überraschende Bau am Ende auch außergewöhnliche Kunst – in einer Region eher abseits großer Verkehrsströme.
Für eine zukunftsfähige Kirche
Als Renovierungsmaßnahmen für den ebenso bedeutenden wie kaum bekannten Bau anstanden, suchte die Kirchengemeinde um Beratung. Der angefragte Verfasser schlug – nach einem Ersttermin vor Ort – einen dreistufigen Beratungsprozess vor. Darin ging es zunächst um eine Bestandsaufnahme, beginnend mit einer Wahrnehmung und Aneignung von Bau und Raum. Einbezogen wurden 15-20 Personen – aus Kirchenvorstand und Bauausschuss, gemeindliche Mitarbeiter und auch kommunale Vertreter.
Innen erschließt sich ein moderner Raum – hier vor dem Beratungsprozess (Bild: Matthias Ludwig)
Im Verlauf des ersten, 1,5-tägigen Workshops beschrieben die Teilnehmenden die Wirkung des Bauwerks sehr verschieden: Außen erschien es ihnen etwas düster und geschlossen, während man ihm innen Weite und Helligkeit beschied. Bei der anschließenden „Stärken-Schwächen-Analyse“ wurden positive wie problembehaftete Raumbereiche festgestellt. Während die Altarzone wesentlich Zustimmung erfuhr, benannte man andere Raumteile (wie die Eingänge), einzelne Ausstattungsstücke oder die Technik als stärker überarbeitungsbedürftig.
Im Weiteren wurden Überlegungen zur Zukunft von Gemeinde und Gebäude angestellt. Man bedachte absehbare Erwartungen an und kommende Herausforderungen für Kirche/Gemeinde – und leitete daraus Bedürfnisse und Anforderungen an einen zukunftsfähigen Kirchenbau ab. Bei einem Gemeindegottesdienst wurde der Kirchenraum schließlich auch in seinen liturgischen Funktionen erfahren und kritisch begutachtet. Deutlich zu erkennen war schon beim ersten Workshop, dass die Gemeinde grundsätzlich positiv zu ihrem Bau steht – insbesondere zum Innenraum mit seiner künstlerischen Gestaltung und Ausstattung.
Den Raum besser verstehen
Der Darmstädter Bildhauer Hermann Tomada schuf das Altarkreuz und den filigranen Auferstandenen (Bild: Matthias Ludwig)
So wichtig und nötig eine Veränderung erschien, wollten alle Beteiligten nun zunehmend sorgsam mit der überkommenen Bau- und Raumgestalt umgehen, ihre Qualitäten herausarbeiten – und stärken. In den beiden folgenden Arbeitseinheiten ging man an einzelne Problempunkte heran und erarbeitete mögliche wie nötige Änderungen. Der Verfasser rahmte diese Elemente, indem er modellhafte Vergleichsbeispiele für architektonische bzw. künstlerische Eingriffe oder auch technische Innovationen vorstellte.
Außerdem wurden die Baugeschichte und vor allem die Entstehung des jetzigen Kirchenschiffs durch ältere Fotos, Pläne und Berichte (etwa aus dem Gemeindearchiv) einbezogen. Demnach legte man den – wohl als erneuerungsbedürftig, zu eng und dunkel empfundenen – Vorgängerbau in den 1950er Jahren nieder, trotz Protesten der Denkmalpflege. Nach Plänen des Architekten Martin Leipold (Ortenberg) entstand ein neues Kirchenschiff.
Die auffallend klare Struktur des 1956 eingeweihten Kirchenraums entspricht den damaligen Vorstellungen – etwa den verbreiteten „Grundsätzen für die Gestaltung des gottesdienstlichen Raumes der evangelischen Kirchen“ (Rummelsberg 1951). Nicht gewagt hat man es wohl, die innere Modernität auch außen zu zeigen und den Neubau vom überkommenen Turm abzusetzen. Man verbarg ihn vielmehr unter einer ihm angepassten steinernen Hülle – und schuf damit eine Spannung zwischen der Innen- und Außensicht.
Neue Klarheit gewinnen
Die Fenster in Schiff und Turm gestaltete der Darmstädter Glaskünstler Helmut Lander (Bild/Titelmotiv: Matthias Ludwig)
Wichtig war der Blick auf nach 1956 eingetretene Veränderungen: Die Farbgestaltung wurde erneuert und fortentwickelt. Wie vielerorts waren diverse Zutaten unterschiedlicher Qualität zugewachsen – vom Schirmständer und Beistelltisch bis zu Lesepult und Kerzenständer. Je näher die Teilnehmenden den Ideen der Erbauer kamen, desto stärker wollten sie die einstige Ausdruckskraft des Raums zurückholen. So wurden einige Zutaten (soweit reversibel) schon versuchsweise entfernt und dem Raum wieder neue Klarheit verliehen.
Für ein zukunftsweisendes Gestaltungskonzept bevorzugte man bald eher vorsichtig verbessernde, der Raumqualität entsprechende Maßnahmen. Die eingewanderten Zutaten wurden überprüft – und teils ihre qualitative Verbesserung angestrebt. So entstand eine Liste des gemeinsam erfassten und abgewogenen Handlungsbedarfs: von Fensterreinigung und Neuanstrich über (Teil-)Erneuerung in Beleuchtung und Technik bis zu Neuordnung der Sakristei, neuen Paramenten oder der Einrichtung sanitärer Anlagen. All dies soll etappenweise, aber immer ins Gesamtkonzept eingebunden (mit Fachleuten in Bau, Architektur und Kunst sowie in Abstimmung mit Landeskirche und Denkmalpflege) umgesetzt werden.
Zugänge erleichtern und Offenheit zeigen
Auch die Zugänglichkeit der Kirche in Obereisenhausen wurde überprüft und über gezielte Verbesserungen (etwa der Beschilderung) nachgedacht (Bild: Hydro, CC BY SA 3.0)
Ein weiteres Ziel war, die Kirche dauerhaft zu öffnen und zu erschließen. Die damalige Vikarin hatte (im Rahmen eines Ausbildungsprojekts) ein Gutachten zum Thema „Offene Kirche“ erarbeitet. Einige Ergebnisse wurden in das angestrebte neue Öffnungs- und Erschließungskonzept einbezogen. Die Eingangsbereiche etwa sollen entwickelt sowie eine raumerschließende Besucherlenkung/-information bereitgehalten werden. Und wie sah es mit der Zuwegung aus, war die Kirche z. B. an das Wander- oder Radwegenetze angeschlossen? Hier wurde auch die (bereits in Umsetzung befindliche) Erneuerung des Außengeländes der Kirche (mit dem dafür beauftragten Landschaftsarchitekt) einbezogen.
Mit dem (im Prozess entwickelten) Grundkonzept erhofft sich die Gemeinde gleichsam eine stärkere gottesdienstliche Gemeinschaft und eine stärkere Präsenz ihres Kirchengebäudes – und damit eine gute Zukunft evangelischer Kirche in Ort und Region. Auch dem Verfasser, der den Prozess entwickelte und begleitete, hat das Verfahren gezeigt, dass gerade moderne Kirchen (in intensiver Auseinandersetzung vor Ort) in ihrer Wertigkeit neu erfasst und auf breiter Basis (wieder) angeeignet werden können.
Einstige Fürsprecher gingen verloren
Auch die kupfernen Türbeschläge entwarf Tomada (Bild: Matthias Ludwig)
Häufig wurden Kirchen der 1950er bis 70er Jahre in ihrer Wertigkeit, Bedeutung, Gestaltung und auch ihren Potenzialen vergessen – von der Gemeinde bis zur örtlichen Gesamt-Bevölkerung, aber auch in Pfarrerschaft und auf kirchenleitenden Ebenen. Beispiele wie Obereisenhausen zeigen jedoch, dass sich die heutige und kommende Generation auch Räume der Nachkriegsmoderne wieder aneignen und ihre Erneuerung einleiten kann. Daher ist es unerlässlich, (in Kirche wie Gesellschaft, in Theologie, Kunst, Architektur und Denkmalpflege) gemeinsam neues Bewusstsein zu schaffen – und solche oder ähnliche Prozesse zu ermöglichen.
Damit können Bauten (nicht nur dieser Zeit) wieder zu Ansehen gebracht – und so dem vielerorts schleichenden Niedergang entgegengewirkt werden, der auch wertvolle Bauten kirchlicher Moderne bedroht. Schließlich sind oft nicht nur Nutzer, sondern vor allem auch Fürsprecher (angefangen von einstigen Planern und Erbauern) über die Jahre verloren gegangen. Einstige Programme und Ideen sind immer weniger bekannt oder werden nicht mehr verstanden. Dem entgegenzuarbeiten, hilft nicht nur den Bauten, sondern auch ihren Gemeinden: Diese wissen häufig nicht (mehr), welchen Schatz sie ihr eigen nennen, mit dem sie eigentlich positiv werben und Anziehungskraft auslösen könnten.
Die Kirchen-Moderne neu stärken
Beispielhaft wurde 2011 das „Kapellenbauprogramm“ in Schleswig-Holstein erfasst und damit (wieder) neu in seinem Wert entdeckt – hier die evangelische Kapelle in Bliesdorf (O. Andersen, 1966) (Bild: Matthias Ludwig)
Dazu gehört auch, Kirchbaulandschaften der Moderne (wieder) stärker zu erschließen – neben orts- oder regionalräumlichen bzw. personenbezogenen Übersichten müssen etwa umgesetzte Bauprogramme erfasst werden. Immer wieder erlebt der Verfasser (auch bei Vorträgen zu Baujubiläen, Ausstellungen oder anderen Anlässen): Staunend entdeckt man oft vom gleichen (Bau-)Künstler oder aus gleicher Zeit Ähnliches, Vergleichbares oder Gegensätzliches in der direkten Nachbarschaft.
Das ermutigt, hebt manchen eher bescheiden oder gar negativ gesehenen Bau wieder heraus – und eröffnet Chancen auf Zukunft für Gebäude wie Gemeinde. Und selbst wenn Alles verloren scheint, Aufgabe und Umnutzung oder gar Abriss drohen, lohnen Prozesse, mit denen moderne Kirchen in ihrer (ursprünglichen) Gestalt wiederentdeckt werden können. Neue wie auch bisherige Nutzer haben sich manchen gefährdeten Raum wieder oder ganz neu angeeignet und ihn (zuweilen überraschend) „re-vitalisiert“.
So heißt es, geradezu Schätze zu heben – und Aktivitäten zu veranlassen und zu unterstützen: von Wahrnehmungs- und Aneignungsprozessen über Öffnungs- und Erschließungskonzepte bis zu vielfältigen Öffentlichkeitsprojekten für moderne Kirchen. Denn es gilt, bedeutende wie jetzt vielleicht noch unscheinbare Zeugnisse einer immer „historischer“ werdenden Zeit in eine gute, erhaltende wie bewahrende, allerdings auch genutzte Zukunft zu führen – bevor die Verluste unter ihnen immer größer werden.
Literatur
Ludwig, Matthias, „… viele kleine Kirchen“. Das Kapellenbauprogramm der 1960er Jahre in Schleswig-Holstein (Beiträge zur Denkmalpflege in Schleswig-Holstein 2), Kiel 2011.
Rudolph, Frank W., Evangelische Kirchen im Dekanat Gladenbach (Großer DKV-Kunstführer), Berlin/München 2010.
Zahner, Walter/Berkemann, Karin (Hg.), Schätze! Kirchen des 20. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, DG Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst, München, in Verbindung mit dem EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg und dem Deutschen Liturgischen Institut, Trier, Lautertal 2007.
Opatz, Wilhelm E. (Hg.), Einst gelobt und fast vergessen. Moderne Kirchen in Frankfurt a. M. 1948-1973, hg. vom Deutschen Werkbund Hessen, Sulgen (Schweiz) 2012.
Ludwig, Matthias, Denken oder Bauen? Zur Nutzungsentwicklung von Kirchengebäuden, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz / Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Kirche leer – was dann? Neue Nutzungskonzepte für alte Kirchen. Tagungsdokumentation 2.-4. April 2009 Mühlhausen/Thüringen (Berichte zu Forschung und Praxis der Denkmalpflege in Deutschland 17), Petersberg 2011, S. 88-95.
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Inhalt
LEITARTIKEL: Glaube an die Moderne
Ruben Donsbach über die Sehnsucht nach Räumen, die offen sind für andere Erfahrungen.
FACHBEITRAG: Ökumenische Zentren
Philipp Stoltz über eine besondere Nachbarschaft in München.
FACHBEITRAG: Straße der Moderne
Andreas Poschmann über ein Projekt, das verbindet – Kirchenbauten werden virtuell und analog zur Straße verknüpft.
FOTOSTRECKE: „Ich war eine Kirche“
Lichtbilder über das, was nach Abriss, Entwidmung oder Verkauf kommt: Daniel Bartetzko und Karin Berkemann auf Fototour zu Frankfurts verlorenen Kirchen.
FACHBEITRAG: Kirchen unter Honecker
Verena Schädler über katholischen Kirchenbau im Osten Deutschlands.
FACHBEITRAG: Erneuerung
Matthias Ludwig über seine Beratungsarbeit mit Gemeinden und ihren modernen Kirchenräumen.
INTERVIEW: Kirche und Denkmalpflege, Hannover
Rocco Curti und Martin Krause über Gerichtsverfahren, Gespräche und gemeinsame Ergebnisse. Ein Interview über Kirche und Denkmalpflege in Hannover.
PORTRÄT: Meine Kirchen
Karin Berkemann über ihre erste „sakrale“ Liebe – und was danach kam.