„Das braucht Offenheit und Vertrauen“
Vergessen Sie für die nächsten 5.000 Zeichen, was Sie über Hannover zu wissen glauben. Es steht der Verfasserin nicht zu, ein Urteil über die dortigen Menschen, Manager oder Fußballer zu fällen. Aber die Nachkriegskirchen von Hannover gehören zum Besten, was wir bundesweit zu bieten haben. Heute stehen sie (wie vielerorts) im Umbruch: Die Gesamtbevölkerung schrumpft, so auch die Zahl der Kirchenmitglieder. Daher wird auf allen Ebenen fusioniert, gespart – und der Bestand an Nachkriegskirchen überprüft. Eine von ihnen, die evangelische Corvinuskirche (Roderich Schröder, 1962) brachte es kürzlich zu überregionaler Bekanntheit. Darüber (und über vieles mehr) sprach moderneREGIONAL mit Rocco Curti, Leiter des Regionalreferats Hannover im Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, und Martin Krause, Leiter des Amts für Bau- und Kunstpflege Hannover der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.
Hannover-Stöcken, Corvinuskirche, Blick zum Altarraum, 1964 (Bild: Roderich Schröder (Archiv Roderich Schröder, FAL)
Herr Krause, Herr Curti, die Corvinuskirche ging in den letzten Monaten mehrfach durch die Presse. Worüber wurde gestritten?
Martin Krause: Strittig war für die Eigentümerin, die Evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Ledeburg-Stöcken, wie sie beim notwendigen Gebäudemanagement mit der Corvinuskirche umgehen soll: Einige wollten den Standort aufgeben, andere wollten ihn erhalten – und letztere wandten sich an die Denkmalpflege.
Rocco Curti: In diesem Jahr hatte man gerade das Denkmalschutzgesetz geändert, seitdem können Gebäudeeigentümer gegen Feststellungsbescheide klagen. Die Corvinuskirche war für uns 2011 der erste Bau überhaupt, der nach der neuen Gesetzeslage als Kulturdenkmal ausgewiesen wurde.
MK: Und genau diese Denkmaleigenschaft war für die Landeskirche strittig.
Unter Denkmalschutz, seit 2012 entwidmet: Hannover-Stöcken, Corvinuskirche, Entwurf des Kirchenbaus, Roderich Schröder, 1960 (Bild: Roderich Schröder (Archiv Roderich Schröder), FAL)
Unter Denkmalschutz, seit 2012 entwidmet: Hannover-Stöcken, Grundsteinlegung zur Corvinuskirche am 19. Juni 1960 (Bild: Börner (Archiv Börner), FAL)
Unter Denkmalschutz, seit 2012 entwidmet: Hannover-Stöcken, Corvinuskirche, Außenbau (Bild: Klaus Littmann, CC BY SA 3.0)
Unter Denkmalschutz, seit 2012 entwidmet: Hannover-Stöcken, Corvinuskirche, Blick zur Orgelempore, 1964 (Bild: Roderich Schröder (Archiv Roderich Schröder, FAL)
Und der Streit ging vor Gericht weiter …
MK: Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers sah keine ausreichende Grundlage: Eine übergreifende Inventarisation der zahlreichen Nachkriegskirchen gab es noch nicht. Die Kirchengemeinde klagte gegen die Unterschutzstellung, das Verwaltungsgericht Hannover gab der Klage statt, das Landesamt legte Berufung ein und das Oberverwaltungsgericht Lüneburg bestätigte 2014 die Denkmaleigenschaft der Corvinuskirche.
RC: Dazwischen lagen fast drei Jahre, in denen wir von außen immer wieder gefragt wurden: Welche Nachkriegskirche ist denn jetzt Denkmal – und welche nicht? Daher haben wir uns intensiv um ein abgestimmtes Verfahren mit den kirchlichen Stellen bemüht.
Dann hatte die – juristisch begleitete – Auseinandersetzung letztlich etwas Gutes?
MK: Sie hat uns bewusst gemacht, dass wir für das Gebäudemanagement auch die Denkmaleigenschaften kennen müssen. Daher hat die Landeskirche – in Abstimmung mit dem Stadtkirchenverband und der Landeshauptstadt – das Landesamt gebeten, die Nachkriegskirchen in Hannover zu inventarisieren und hat ihre Unterstützung angeboten.
RC: Bis 2014 untersuchten wir mit einer Arbeitsgruppe aus Landesamt, Landeskirche, Landeshauptstadt und Stadtkirchenverband 38 evangelische Nachkriegskirchen, diskutierten die Denkmaleigenschaften – und stritten uns darüber auch schon mal im Detail.
MK: Diese Arbeitsweise braucht viel Offenheit und Vertrauen – auf beiden Seiten.
Unter den 11 geschützten Nachkriegskirchen: Hannover-Linden, St. Martin (neugotischer Turm mit modernem Schiff von Dieter Oesterlen aus dem Jahr 1957) (Bild: AxelHH, via Wikimedia Commons)
Unter den 11 geschützten Nachkriegskirchen: Hannover-Südstadt, Bugenhagenkirche (Werner Dierschke, 1962) (Bild: Christian A. Schröder, CC BY SA 4.0)
Unter den 11 geschützten Nachkriegskirchen: Hannover-Linden, Gerhard-Uhlhorn-Kirche (Reinhard Riemerschmid, 1963, seit 2012 entwidmet) (Bild Axel Hindemith, via Wikimedia Commons)
Unter den 11 geschützten Nachkriegskirchen: Hannover-Vahrenwald, Heilig-Geist-Kirche (Siegfried Laessig, 1976) (Bild: Gerd Fahrenhorst, GFDL oder CC BY 3.0)
Herr Krause, seit Napoleon/Bismarck/Ebert haben wir in Deutschland grundsätzlich die Trennung von Kirche und Staat. Trifft das auch für die Denkmalpflege an kirchlichen Bauten zu?
MK: In Niedersachsen regelt der Loccumer Vertrag von 1955, dass die Landeskirche für die Denkmalpflege an ihren Kulturdenkmalen selbst zuständig ist. Die Landeskirche hat das „Benehmen“ mit der staatlichen Denkmalpflege herzustellen.
Herr Curti, mit welcher „Brille“ schauen Sie als staatlicher Denkmalpflege auf eine Kirche?
RC: Grundsätzlich mit derselben Brille, mit der ich als Denkmalpfleger einen Hochbunker oder ein Hochhaus betrachte. Und doch habe ich gerade bei unseren Kirchenbesichtigungen viel Neues gelernt. So konnte z. B. der Stadtkirchenverband zu jedem Gottesdienstraum auch die Gemeindegeschichte einbringen. Am Ende mussten wir bewerten: Was bedeutet dieser konkrete Raum für „den“ evangelischen Kirchbau in Hannover? Zusammen erzählen die 11 Bauten, die wir dann tatsächlich unter Schutz gestellt haben, wieder eine eigene Geschichte: von der Notkirche über die moderne Ergänzung einer älteren Kirche bis zum Gemeindezentrum.
Eine der vier nach 1980 entstandenen Kirchen, die für eine spätere Bewertung “vorgemerkt” wurden: Hannover-Oderbruch, Dietrich-Bonhoeffer-Kirche (Gudrun und Klaus Vogel, 1981) (Bild: Burzgojv, CC BY SA 4.0)
Eine der vier nach 1980 entstandenen Kirchen, die für eine spätere Bewertung “vorgemerkt” wurden: Hannover-Davenstedt, St. Johannes (Karl-Heinz Mutz, 1989) (Bild: Gerd Fahrenhorst, GFDL oder CC BY 3.0)
Eine der vier nach 1980 entstandenen Kirchen, die für eine spätere Bewertung “vorgemerkt” wurden: Hannover-Mühlenberg, Bonhoefferkirche im Ökumenischen Kirchenzentrum (Patschan-Werner-Winking, 1982) (Bild: Axel Hindemith, via Wikimedia Commons)
Eine der vier nach 1980 entstandenen Kirchen, die für eine spätere Bewertung “vorgemerkt” wurden: Hannover, Kirchenzentrum Kronsberg (Bernhard Hirche, 2000, errichtet im Rahmen der Expo) (Bild: Axel Hindemith, via Wikimedia Commons)
Wissen wir denn schon genug über unseren modernen (kirchlichen) Baubestand?
RC: Schon 2013 haben sich die Denkmalbehörden mit dem Bistum Hildesheim die katholischen Nachkriegskirchen in Wolfsburg angesehen. Für Hannover kennen wir jetzt den Bestand der Landeskirche. Was uns hier immer noch fehlt, sind die Kirchenräume der katholischen Gemeinden, der kirchlichen Stiftungen, Orden, Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten …
MK: Nach Hannover werden aktuell die evangelischen Nachkriegskirchen in Osnabrück untersucht, weitere Regionen sollen folgen. Auch wenn eine Gebäudedatenbank in der Landeskirche weiterhin fehlt, wissen wir hier viel über die jüngeren Gebäude. Es bleibt aber Aufgabe des Landesamts, zu inventarisieren und die Denkmaleigenschaft zu beurteilen. Dafür bieten wir weiterhin gerne unsere Unterstützung an.
Nach all dem Ortsterminen und Gesprächen, als 2014 ihre gemeinsame Kirchenauswahl in Hannover positiv durch alle Gremien war: Wie haben Sie das in der Arbeitsgruppe gefeiert?
RC: Es gab Kaffee (lacht) – und natürlich einen Pressetermin. Schön wäre es sicher, wir könnten das Ergebnis unserer Inventarisation noch publizieren. Und unsere gemeinsame Arbeit für den Erhalt dieser Kirchen geht ja gerade erst los.
Entwidmung und geänderte Weiternutzung: Hannover-Südstadt, Athanasiuskirche (1964, entwidmet 2013, weiterhin genutzt für Gemeindeveranstaltungen bzw. als “Haus der Religionen”, kein Denkmalschutz) (Bild: AxelHH, via Wikimedia Commons)
Umnutzung: Hannover-Leinefelden, ehemalige Gustav-Adolf-Kirche (1965, seit 2009 Synagoge der Liberalen Jüdischen Gemeinde, kein Denkmalschutz) (Bild: Ulrich Knufinke)
Teilabriss und Umnutzung: Hannover-Hainholz, ehem. Ansgarkirche (1965, Turm niedergelegt 2001 und in der Folge als landeskirchliches Außenmagazin genutzt, kein Denkmalschutz) (Bild: Gikripolk, CC BY SA 4.0)
Abriss für Neubau: Hannover-Vahrenwald, Vahrenwalder Kirche (1950, entwidmet 2013, bis 2015 Abriss und Neubau eines Kirchen- und Gemeindezentrums, kein Denkmalschutz) (Bild: Axel Hindemith, via Wikimedia Commons)
Zu den Personen
(R. Curti (links) und M. Krause (rechts), Fotos: Lars Landmann/Netzwerk Baukultur in Niedersachsen)
Rocco Curti, Dipl.-Ing. (FH) Architektur, M. A. Denkmalpflege, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege. Schreinerlehre und anschließendes Architekturstudium in München. 2003 freie Mitarbeit in Architekturbüros. Studium in Bamberg. 2006 Abschluss im Masterstudiengang Denkmalpflege. 2006-08 wiss. Volontär, ab 2008 Gebietsreferent im Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie. Ab 2011 Gebietsreferent im Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, seit 2014 Leiter des Regionalreferats Hannover. Sprecher des Arbeitskreises AK 1960+ im Netzwerk Baukultur Niedersachsen.
Martin Krause, Dipl.-Ing. Architekt, Leiter des Amts für Bau- und Kunstpflege Hannover der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Die Landeskirche unterhält fünf regionale Bauämter, die Kirchengemeinden und -kreise in Fragen der Bau-, Kunst- und Denkmalpflege beraten und regelmäßig Baubegehungen durchführen. Zur Betreuung von Baumaßnahmen erbringen die Bauämter die erforderlichen Architektenleistungen. Bei kirchenaufsichtlichen Genehmigungsverfahren sind baufachliche bzw. denkmalpflegerische Stellungnahmen abzugeben. Die Bauämter beraten die Kirchengemeinden bei der Abfassung von Architekten- und Ingenieurverträgen.
Das Gespräch führte Karin Berkemann (15/4).
Literatur
Zukunft Baukultur 1960 +. 12. Forum des Netzwerk Baukultur in Niedersachsen (netzwerkDOKUMENTATATION 8), Hannover, Historisches Museum, 14. April 2015, hg. vom Netzwerk Baukultur in Niedersachsen, Hannover 2015.
Grosse, Heinrich u. a. (Hg.), Kirche in bewegten Zeiten. Proteste, Reformen und Konflikte in der hannoverschen Landeskirche nach 1968, Hannover 2011.
Puschmann, Wolfgang (Hg.), Hannovers Kirchen. 140 Kirchen in Stadt und Umland, Hannover 2005.
Kirchliches Bauen in der Ev.-lutherischen Landeskirche Hannovers, gestaltet vom Landeskirchlichen Amt für Bau- und Kunstpflege Hannover, hg. vom Landeskirchenamt anlässlich der 13. Tagung für evangelischen Kirchenbau vom 3. bis 8. Juni in Hannover, Hannover 1966.
Titelmotiv: Hannover-Stöcken, Corvinuskirche, Entwurf des Kirchenbaus, Roderich Schröder, 1960 (Bild: Roderich Schröder (Archiv Roderich Schröder), FAL)
Download
Inhalt
LEITARTIKEL: Glaube an die Moderne
Ruben Donsbach über die Sehnsucht nach Räumen, die offen sind für andere Erfahrungen.
FACHBEITRAG: Ökumenische Zentren
Philipp Stoltz über eine besondere Nachbarschaft in München.
FACHBEITRAG: Straße der Moderne
Andreas Poschmann über ein Projekt, das verbindet – Kirchenbauten werden virtuell und analog zur Straße verknüpft.
FOTOSTRECKE: „Ich war eine Kirche“
Lichtbilder über das, was nach Abriss, Entwidmung oder Verkauf kommt: Daniel Bartetzko und Karin Berkemann auf Fototour zu Frankfurts verlorenen Kirchen.
FACHBEITRAG: Kirchen unter Honecker
Verena Schädler über katholischen Kirchenbau im Osten Deutschlands.
FACHBEITRAG: Erneuerung
Matthias Ludwig über seine Beratungsarbeit mit Gemeinden und ihren modernen Kirchenräumen.
INTERVIEW: Kirche und Denkmalpflege, Hannover
Rocco Curti und Martin Krause über Gerichtsverfahren, Gespräche und gemeinsame Ergebnisse. Ein Interview über Kirche und Denkmalpflege in Hannover.
PORTRÄT: Meine Kirchen
Karin Berkemann über ihre erste „sakrale“ Liebe – und was danach kam.