von Peter Liptau und Cora Schönemann (21/1)
Der Schriftzug “Eden” aus dem Jahr 1961 ist bis heute erhalten. Und wenn aufgrund des Corona-Lockdowns nicht gerade die Türen verschlossen wären, würde er in Ulm weiterhin nachts erstrahlen. Nach vielen bewegten Jahrzehnten – vom historistischen Biergarten über die Kriegsruine bis zum freizügigen Cabaret der Wirtschaftswunderzeit – ist das Gebäude immer noch in gastronomischer Hand. Das Besondere am “Eden”: Seine bewegte Architektur- wie Sittengeschichte ist in vielen Details und Dokumenten ablesbar geblieben.
Das “Eden” mit dem Hauptbau (gelb) von 1954 und dem sog. Casino-Anbau (rot) von 1956 (Bild: Peter Liptau, 2020)
Eine Geschichte des Vergnügens
Bevor es schlüpfrig wird, beginnt die Historie des späteren “Eden” zunächst ganz konventionell. Im Norden, vor den damaligen Toren Ulms, entstand vermutlich um 1878 eine Gaststätte: der Pfluggarten, Biergarten der damaligen Brauerei “Pflug”, die ihren Hauptbetrieb in der Kernstadt hatte. Über die Jahre wuchs Ulm durch Zuwanderung und Industrialisierung um den Betrieb herum, vereinnahmte seine Grünfläche und die Außenkegelbahn. Auch die Gaststätte wurde sukzessiv um- und ausgebaut. Um 1900 trug sie die Fassadenmode der Zeit. Bei verheerenden Luftangriffen wurde der Bau 1944 nahezu gänzlich zerstört, lediglich die Kellergewölbe und ein paar Grundmauern blieben erhalten.
Nach 1945 passierte in der Karlstraße 71 erst einmal nichts, nahezu zehn Jahre lang. Im Adressbuch von 1949 findet sich schlicht der Eintrag “Ruine”. 1951 verzeichnete man immerhin einen Besitzernamen: Georg Schöllkopf, Sohn des vorherigen Besitzers Karl Schöllkopf. Erst 1954 wurde damit begonnen, das Trümmergrundstück neu zu beleben. Über dem erhaltenen Kellergewölbe beauftragte Schöllkopf – gemeinsam mit der Bauherrin Anna Lerche, der späteren Betreiberin des Hauses – den Stuttgarter Architekten Theo A. Karbiener mit einem eingeschossigen pavillonartigen Gastraum. Dieser Massivbau auf Beton-Fundament mit Stahl-Beton-Geschossdecke und Pultdach wurde mit Dachpappe eingedeckt.
Ausgestattet war der Gastraum mit einer halbrunden Bierbar (mit zuziehbaren Vorhängen und Séparée), zahlreichen Tischen sowie einer Tanzfläche mit Orchesterpodium. Nach außen zeigte sich das Gebäude nahezu nüchtern und zurückhaltend. Dem Hauptraum mit Panoramafenster zur Straße hin wurde nach Westen ein kleines Foyer vorgesetzt. Es diente zugleich als Zwischenstufe für den Aufstieg von der Bordsteinkante zum hoch gelegenen Gastraum, der auf das historische Kellergewölbe aufgesetzt wurde. Weiter westlich befand sich, wie bereits vor 1945, der Biergarten mit altem Baumbestand.
Die Karlstraße 71 vor und nach dem zweiten Weltkrieg (Bilder: Stadtarchiv Ulm, links: Baugesuch von 1899, rechts: Baugesuch von 1954)
Mit Gastraum und Bierbar
Um die Gaststätte “Atelier” herum entwickelte sich der heutige Stadtteil Ulm-Ost zu einem recht umtriebigen Quartier. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es bereits unter dem Hakenkreuz ein Offizierscasino, das nun die mal mehr, mal weniger willkommenen amerikanischen Besatzer besuchten. Die Nachfrage nach Glücksspiel und Amüsement wuchs in doppeltem Sinne. Im “Blue Byway”, der Bar der US-Unteroffiziere, war Mitte der 1950er Jahre, wie Zeitzeugen versichern, “mächtig etwas los”. Aber das Lokal schloss zu früh, und die einsamen Männer fern der Heimat mussten zu später Stunde nur die Karlstraße überqueren, um den Abend im “Atelier” in netter Gesellschaft zu beschließen.
Das nach außen eher prüde Tanzlokal wurde zunehmend zum Amüsierbetrieb, vorangetrieben auch durch den Marktwert des US-Dollars bzw. der Ersatz-Wertmarken. Der Zugewinn der “Golden Fifties” war im “Atelier” groß genug, um bereits ab 1956 einen Casino-Anbau zu errichten: auf der westlichen Seite, an der Stelle des jahrzehntealten Biergartens mit Baumbestand.
Das “Atelier” wurde ab 1956 um einen Anbau (den sog. Casino-Anbau) erweitert, wenn man auch die Bäume nicht in dieser Form einbezogen hat (Bild: Stadtarchiv Ulm, Baugesuch von 1956)
Ein Anbau entsteht
Erste Pläne des Architekten Hugo Hötzel aus Deggingen (mit dem Innenarchitekten Roland Kühnel) zeigen eine kühne Idee: die Einbindung des Baumbestands in den neuen Gastraum. Die Stämme wären ringsum abgedichtet worden, um auch im Inneren die “Biergarten-Atmosphäre” zu erhalten. Der Entwurf wurde aus unbekannten Gründen nicht genehmigt. Grundsätzlich verwirklichte man den geplanten Anbau in dieser Form, doch der Baumbestand musste der Axt weichen. Da die Erweiterung nicht unterkellert werden konnte, hob ihn ein verhältnismäßig hohes Fundament auf eine Ebene mit dem bestehenden Haus.
Der Anbau blieb mit einer Deckenhöhe von knapp drei Metern etwas hinter dem Lokal von 1954 zurück. Nach den vorliegenden Plänen nutzte man den verbliebenen Biergarten nicht weiter, so fehlte ihm z. B. ein direkter Zugang vom Gastraum. Der Durchlass zwischen beiden Räumen wurde an die Stelle des früheren Biergartenausgangs gelegt – vermutlich sogar mit der Tür, die sich dort heute noch befindet. Nun veränderte sich auch das Innere von 1954: Die Theke wanderte 1956 mehr ins Zentrum.
Einer der Barhocker der 1960er Jahre, die sich bis heute im “Eden” erhalten haben (Bild: privat)
Ein neuer Namen
Den Namen “Atelier” ändert man 1961 in “Eden”, höchstwahrscheinlich in Anlehnung an die von Rolf Eden in Berlin etablierten Varieté-Theater und Nachtclubs. 1963 tritt die Familie Schöllkopf das gesamte Anwesen an Walter Aubera ab, der das Lokal dann gemeinsam mit Anna Lerche betreibt. Im gleichen Jahr werden die Innenräume großzügig umgestaltet: Teile dieser Ausstattung, die einem Entwurf der Stuttgarter Innenarchitektin Hildegard Kühnel folgen, haben sich bis heute erhalten.
Nun sollen Tanzdarbietungen die Kundschaft anlocken. In einem Antrag an die Stadt betont man, dass lediglich in den Tanzpausen der Gäste “von Berufskräften in Gestalt von etwa 3 bis höchstens 5 ausgebildeten Tänzerinnen humoristische, folkloristische oder rein gesellschaftstänzerische gute Darbietungen erbracht werden”. Nicht beabsichtigt seien “Entkleidungstänze, Schönheitstänze und dgl.”. Offenbar hielt man sich nicht immer ganz daran, denn 1971 ersucht man die Kommune um eine Konzession für “Vollakt- und Striptease-Vorstellungen”. Der Antrag wird bewilligt – mit der kleinen Einschränkung: “Die Darbietungen dürfen nicht gegen die guten Sitten verstoßen”.
Im sog. Casino-Anbau des “Eden” sind noch viele Details wie die Strip-Stange erhalten (Bild: Peter Liptau, 2020)
“Neppschuppen und Porno-Pinten”
In den 1970er Jahren geriet das Ulmer Milieu in Schwierigkeiten. Mit internationalen Tanzdarbietungen distanziert sich das “Eden” von üblen Nachrichten über “Bierbars, Neppschuppen und Porno-Pinten”. Am 1. Oktober 1977 titelte die “Südwest Presse”: “Unter dem Strich bleibt nicht viel übrig”. Die Kommune hatte die gesamte Innenstadt bereits 1969 als Sperrbezirk ausgewiesen und setzte diesen nun forcierter durch. Daher legte das “Eden” seinen Schwerpunkt auf ein erweitertes Geschäftsfeld: Im sog. Casino-Anbau wurde Glücksspiel (vorwiegend Roulette) betrieben, im großen Hauptraum verblieb das Tanzlokal. Die Verbindungstür zwischen beiden Nutzungsbereichen wurde geschlossen.
Diese Umwertung fand nach dem überraschenden Tod von Walter Aubera 1973 statt – unter neuen, diffusen Besitzverhältnissen. Der wegen illegalen Glücksspiels zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilte Manfred Hauschild, dem der “Spiegel” den Titel “Casino-Papst Deutschlands” gab, muss das Gebäude bis 1989 in seinem Besitz gehabt haben: In diesem Jahr trennt er sich wegen seiner Haftstrafe vom “Eden”.
Eine pikante Währung – der “Eden-Dollar” (Bild: privat)
Einige wenige verwegene Jahre
Es folgten einige verwegene, doch stillere Jahre mit Striptease-Betrieb. Aus dieser Zeit haben sich noch unterschiedliche Elemente erhalten, inklusive der Strip-Stange und einer originalen Hausordnung. Auf die Rückseite eines Oben-Ohne-Kalenders notiert, wird strikt untersagt, “ohne Slip” zu arbeiten oder sexuelle Beziehungen zu Gästen zu unterhalten. Wichtig: Immer alles „tadellos“!
In den frühen 1990er Jahren werden die US-amerikanischen Truppen aus Ulm und Neu-Ulm abgezogen. Damit verlagert sich die Rotlicht-Meile an den Stadtrand. Auch die aufkommende Digitalisierung macht der Erotikbranche und dem “Eden” zu schaffen. 2007 endet die Strip-Ära des Etablissements, das nach außen immer noch die Gestalt von 1956 zeigt.
Das “Eden” wurde wegen der Corona-Krise im Sommer 2020 als Billardcafé betrieben (Bild: Peter Liptau, 2020)
Im “Lustgarten”
Nach dem Verkauf an das gegenwärtige Besitzerpaar entstand ein populärer Club. Unter dem etablierten Namen “Eden” avanciert das Lokal zur Institution in Ulm und Umgebung. Im Sommer 2020 nutzt man den Bau, um ihn in der Corona-Krise weiterhin offenhalten zu können, als Billard-Café mit Biergarten. Genauer gesagt: Unter dem Betreiber Klaus Erb wird das Außenareal als “Lustgarten” wiederbelebt.
Heute läuft das Quartier, so die Baugutachten von 2016, als zentrale Innenstadtlage mit gemischter, drei- bis fünfgeschossiger Bebauung – inmitten einer wachsenden Stadt. Hier sticht das “Eden” als eingeschossiges Nachkriegslokal deutlich hervor. Es musste bislang nicht den wirtschaftlichen Fantastereien von Investoren weichen. Ein Detail hat übrigens alles von Anfang an miterlebt: Der im Titelbild gezeigte Gartenzaun! Er umsteht den heutigen “Lustgarten”, aktuell frisch lackiert. Schon in den Bauplänen des späten 19. Jahrhunderts lässt er sich ausmachen.
Von den Fenstern am Hauptbau des “Eden” lächeln “Gabriella” und ihre Freundinnen (Bild: Peter Liptau, 2020)
Was bleibt, was kommt?
Ob man 2021 wieder im “Lustgarten” wandeln kann, ob der Clubbetrieb wieder aufgenommen wird, all das steht bei Redaktionsschluss noch in den Sternen. Sicher ist: Das “Eden” bildet ein Zeitzeugnis der besonderen Art, wahrscheinlich eines der wenigen, das in dieser Form überliefert wurde. Geplant ist daher die Anbringung einer Geschichtstafel an der Außenfassade, die dann direkt neben “Gabriella” und ihren Freundinnen auf den Fenstern zu sehen sein soll.
Das Lokal wird 1954 auf dem erhaltenen historistischen Keller neu aufgebaut (Bild: Stadtarchiv Ulm, Baugesuch von 1954)
Noch findet sich neben dem Gastraum ein großzügiger Biergarten (Bild: Stadtarchiv Ulm, Baugesuch von 1954)
Das Lokal wird 1956 um den sog. Casino-Anbau ergänzt (Bild: Stadtarchiv Ulm, Baugesuch von 1956)
Die Theke der 1960er Jahre im Hauptraum hat sich bis heute erhalten (Bild: privat)
Die Kühltheke der 1960er Jahre hat sich bis heute erhalten (Bild: privat)
In den 1980er Jahre will sich das “Eden” mit einem internationalen “Spitzen-Programm” von der Konkurrenz absetzen (Bild: historischer Prospekt)
Die Hausordnung der 1980er Jahre wird auf der Rückseite eines Oben-Ohne-Kalenders notiert (Bild: Peter Liptau, 2020)
In den 1980er Jahren wirbt man offensiver mit “Voll Strip” (Bild: historischer Prospekt)
Titelmotiv: Ulm, “Eden” (Bild: Peter Liptau, 2020)
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Inhalt
LEITARTIKEL: Nomadisierendes Nachtleben
Ulrich Gutmair über einen Mythos und seine Geschichte.
FACHBEITRAG: München leuchtet
Martin Arz über “das wilde München” seit den 1950er Jahren.
FACHBEITRAG: Paul’s Playground
Johannes Medebach über die Party-Penthäuser von Paul Rudolph.
FACHBEITRAG: Das Cabaret “Eden” in Ulm
Peter Liptau und Cora Schönemann über das Nachleben eines Nachtclubs.
PORTRÄT: Ein Musikclub in der Niederlausitz
Johannes Medebach über selbstorganisiertes Nachtleben in der DDR.
INTERVIEW: “What happens in Berghain …”
Thomas Karsten von studio karhard® über eine Berliner Club-Legende.
FOTOSTRECKE: Photos of the Dancefloor
Giovanna Silva porträtiert die Räume des Berliner Nachtlebens.