von Daniel Bartetzko (21/3)

Nüchterne Zahlen reichen, um zu verdeutlichen, was Krieg heißt: Am 18. und am 22. März 1944 kamen bei Luftangriffen auf die Frankfurter Altstadt mehr als 1400 Menschen ums Leben. Sie sind im Feuersturm verbrannt oder in den Gewölbekellern erstickt. Alleine am 22. März gingen 500 Luftminen, 3.000 Sprengbomben und etwa eine Million Brandbomben auf das Kerngebiet nieder. Zwei Nächte genügten, um 1000 Jahre Stadtgeschichte zu vernichten. Was wörtlich zu verstehen ist, denn außer einigen Brandmauern blieb von der gotischen Altstadt zwischen dem Kaiserdom und dem Rathaus Römer nicht ein Gebäude übrig. Die Alte Nikolaikirche gegenüber des Römers überstand die Angriffe mittelschwer beschädigt. Unversehrt waren nur das etwas abseits stehende Fachwerkhaus Wertheim und das barocke Haus Freudenberg. Sie säumten den Rettungsweg Richtung Main und durften nicht in Brand geraten. Der Wasserschleier, mit welchem die Feuerwehr den Fluchtkorridor sicherte, schützte auch diese beiden Häuser. Trotzdem: Frankfurt am Main war seines Herzens beraubt. Eine Lücke, die jahrzehntelang Bestand haben sollte.

Frankfurt, die Altstadt aus dem Luftschiff heraus fotografiert, 1911 (Bild: gemeinfrei)

Frankfurt, die Altstadt aus dem Luftschiff heraus fotografiert, 1911 (Bild: gemeinfrei)

Ein wenig pathetisch

Zugegeben, das klingt pathetisch. Städtebaulich trifft es jedoch zu. Frankfurt in seiner heutigen Größe hat sich rund um den Dom-Römer-Bereich entwickelt, und dieser war tatsächlich das Herz der Innenstadt. Erst im 19. Jahrhundert wuchs das Zentrum immer schneller Richtung Norden, die Geschäftsstraßen verlagerten sich. Zurück blieb die Altstadt als pittoresk-angegrautes Arme-Leute-Viertel, das durch Straßendurchbrüche um 1900 erste Abrisswellen zu verkraften hatte. Gleichwohl wurde sie zu jener Zeit schon romantisch verklärt, ebenso wie sich Bürger für Erhalt und Denkmalpflege einsetzten. Der Kunsthistoriker Fried Lübbecke (1883-1965) gründete 1922 den „Bund tätiger Altstadtfreunde“, welcher sich für die Dokumentation des historischen Erbes engagierte und bei der Sanierung einiger Bauten mitwirkte. Die Nationalsozialisten erkannten ebenso die identitätsstiftende Wirkung der Altstadt, und so kam es nach 1933 zu weiteren Umbauten und Sanierungsprogrammen, um die beklemmende Wohnsituation zu verbessern. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg waren die Liebhaber:innen der Altstadt eine heterogene Gruppe; die immer aktuelle Frage „Wem gehört die Stadt“ ließ sich an diesem Ort bereits vor seiner Zerstörung stellen.

Als nach 1945 das Dom-Römer-Areal neu gestaltet werden sollte, galt es folglich möglichst viele Interessen, Bedürfnisse und Empfindsamkeiten unter einen Hut zu bringen. Ein eigentlich unmögliches Unterfangen in einer schon damals emotional aufgeladenen Debatte: Wiederaufbau oder Neubau? Auf der einen Seite standen die Altstadtfreunde um Fried Lübbecke, auf der anderen die Frankfurter Stadtplaner Blanck, Boehm und Hebebrand. Sie waren als ehemalige Mitarbeiter von Ernst May dem Neuen Bauen verschrieben und sahen die Tabula Rasa als Chance. Die Fronten waren klar und schnell verhärtet. Zeitweilig herrschte im Altstadtbereich eine Bausperre, so heftig geriet der Interessenkonflikt. 1950/51 kam es schließlich zum Architekturwettbewerb für die Römerberggestaltung und – davon abgekoppelt – für die Gestaltung des Altstadtkerns. Unter anderem beteiligte sich der mittlerweile bei der Stadt ausgeschiedene Werner Hebebrand, dazu auch das Büro Giefer/Mäckler, Johannes Krahn und Walter Schwagenscheidt (der später die moderne Nordweststadt entwarf).

Es gab insgesamt 71 (!) Einreichungen zur Neugestaltung, von denen keine die Stadt vollends überzeugen konnte. Auch der fast zeitgleiche Römerbergwettbewerb erbrachte nicht den „Großen Wurf“. Davon, wie ebenjener aussehen sollte, hatte ohnehin jeder eine eigene Vorstellung. Auf dem ab 1953 enttrümmerten Areal entstanden vis-à-vis des Römers schließlich zwei moderat moderne Satteldach-Gebäude nach Plänen der zweitplatzierten Wettbewerbsteilnehmer Franz Hufnagel und Rudolf Dörr. Zudem blieb das in den Trümmerbergen entdeckte Erdgeschoss des „Schwarzen Stern“, eines Renaissance-Fachwerkhauses von 1610, zunächst (ungenutzt) erhalten. Weiter wurde nicht gebaut, der Rest des Areals wurde asphaltiert und entwickelte sich zum Volksfest- und Parkplatz. Die Freifläche an Stelle der Altstadt sollte vorerst Bestand haben.

Frankfurt am Main, Kirchentag (Bild: Bundesarchiv B 145, Bild-F003822-0008, CC BY SA 3.0)

Frankfurt am Main, Evangelischer Kirchentag 1956 auf dem Römerberg (Bild: Bundesarchiv B 145, Bild-F003822-0008, CC BY SA 3.0)

Und wieder ein Wettbewerb

1962/63 kam es zum erneuten Wettbewerb. Jetzt mit klareren Vorgaben: Die geplante U-Bahn sollte Berücksichtigung finden, zudem der Erweiterungsbau des Rathauses untergebracht werden. Den Wiederaufbau-Freunden erteilte der damalige Planungsdezernent Hans Kampffmeyer (SPD) direkt eine Absage: Enges Wohnen und kleine Ladengeschäfte waren nicht gefragt, ebenso wenig die Manifestierung des Kriegsverlusts durch eine Grünfläche. Die eingereichten Entwürfe entsprachen der Ära der groß gedachten, autogerechten Stadt – gipfelnd im Vorschlag, den gesamten Bereich mit einem (!) riesigen Gebäude zu bebauen, das bis zum Main verläuft und sogar die Uferstraße überragt hätte. Wettbewerbssieger wurde die Architektengemeinschaft Bartsch/Thürwächter/Weber vor unter anderem Hans Scharoun und Otto Apel mit Hansgeorg Beckert. Es entstanden von 1971 bis 1974 das Technische Rathaus samt der U-Bahn-Station Dom/Römer, eine Tiefgarage und ein Sockelgeschoss, auf dem die spätere Neubebauung des Altstadtbereichs folgen sollte. Das Haus Freudenberg, der Rest des Schwarzen Sterns und auch die kaum 15 Jahre alten Häuser am Römer hatte man zuvor abgerissen. Doch wieder blieb eine Lücke, diesmal mit Betonsockeln versehen und durch dezentes Grün aufgelockert, denn die weiteren Gebäude wurden aufgrund eines Beschlusses von 1978 nicht realisiert. Die parkenden Autos waren immerhin weg. Die letzten Fundamente der Altstadt auch.

Frankfurt/Main, Saalgasse 16 Detail Erker (Bild: Daniel Bartetzko)

Frankfurt/Main, Saalgasse 16 (Bild: Daniel Bartetzko)

Verpönte Spätmoderne

Wenige Jahre darauf war die Spätmoderne verpönt. Rettung versprach die zitierfreudige, verspielte Postmoderne – und die Rekonstruktion. Der nächste Dom-Römer-Wettbewerb 1980 sollte die städtebauliche Lösung bringen, nun war der historisierende Wiederaufbau der Römerberg-Ostzeile erlaubt und erwünscht. Hinter ihr entstanden zwei PoMo-Gebäuderiegel, dazu die „Schirn“-Kunsthalle, und auch der Schwarze Stern kehrte zurück. BJSS (Bangert, Jansen, Scholz und Schultes) entwarfen die umgesetzte Planung. Auf den Plätzen landeten unter anderem Charles W. Moore, Hermann und Christoph Mäckler, ABB Architekten sowie Gerkan, Marg und Partner. Sie durften neben der Schirn, zur seitlich gelegenen Saalgasse, eine Zeile postmoderner Giebelhäuser bauen, die heute zu den Höhepunkten jener Ära in Deutschland zählen. Das Gesamtprojekt war und blieb umstritten: In der neuen Schirn erkannten viele einen Rammbock vorm Dom. Der farbenfroh und mangels historischer Befunde teils in Fantasiefachwerk gestalteten Ostzeile hafteten Etikettierungen wie „Disneyland“ und „Geschichtsrevisionismus“ an wie Klebstoff. Der Modellbahnhäuschen-Hersteller Faller hat die Häuserreihe passend zu ihrer Fertigstellung 1982 im Maßstab 1:87 ins Programm genommen … Der historisierende Römerberg entwickelte sich erwartungsgemäß zur Touristenattraktion.

Mitte der 2000er schließlich sollte dem brutalistischen Technischen Rathaus der Garaus gemacht werden. Es wurde ob seiner Dimensionen längst als Bausünde empfunden. Wieder traten die Befürworter einer Rekonstruktion auf den Plan. Dieses Mal engagierter denn je, denn der parteiübergreifende Wunsch, an diesem Ort wieder eine kleinteilige, gemischt genutzte Bebauung zu realisieren, hatte sich bereits herauskristallisiert. Die Zeit war reif, der Zeitgeist auch. Denn der Identität stiften sollende Rückgriff aufs Vergangene war von rechtskonservativen Kreisen übernommen. Das war nicht ganz neu: Schon zu Zeiten von Fried Lübbecke waren die Frankfurter Altstadtfreunde nicht dem progressiven Spektrum zuzuordnen, doch von den populistisch-reaktionären Tendenzen mancher ihrer Erben waren sie deutlich entfernt.

Der Architekturtheoretiker Stephan Trüby hat im Arch+-Heft „Rechte Räume“ (2018) die durchaus bemerkenswerte Vorgeschichte zum finalen Frankfurter Lückenschluss aufgezeigt: Der erste Antrag auf eine Rekonstruktion möglichst vieler Altstadthäuser in einem traditionell-kleinteiligen Viertel stammte von den freien „Bürgern für Frankfurt“ (BFF), formuliert 2005 vom neurechten Publizisten Claus Wolfschlag. Zwar wurde er im Stadtparlament abgelehnt, doch in den Folgejahren schwenkte die Politik immer stärker auf die Rekonstruktions-Linie. Der Siegerentwurf des ersten Wettbewerbs 2004/2005 von KSP Engel und Zimmermann wurde ad acta gelegt, stattdessen 2007 im Grunde der Vorschlag der BFF beschlossen: 15 Rekonstruktionen („Schöpferische Nachbauten“) und 20 Neubauten unter traditionsorientierten Gestaltungsvorgaben sind ab 2012 entstanden. Sie sind nur aufgrund ihrer Vorgeschichte nun gewiss nicht „rechts“, ebensowenig wie ihre Architekt:innen. Darunter sind die Frankfurter Büros Jourdan & Müller, Michael Landes sowie D.W. Dreysse, alle seit Jahrzehnten mit dem Dom-Römer-Areal vertraut. Ein Geschmäckle hat im „Rechte-Räume“-Kontext freilich die Beteiligung von Hans Kollhoff, der 2000 ein antisemitisches Zitat von Ezra Pound auf dem von ihm gestalteten Walter-Benjamin-Platz in Berlin installieren ließ.

Frankfurt am Main, der Dom-Römer-Bereich als Bauplatz (Bild: Simsalabim, CC BY SA 4.0, 2015)

Frankfurt am Main, der Dom-Römer-Bereich als Bauplatz (Bild: Simsalabimbam, CC BY SA 4.0, 2015)

Die Neue Altstadt

2018 wurde die „Neue“ Altstadt eingeweiht, die einst brachial hineingeschlagene Lücke am geschichtsträchtigsten Platz Frankfurts ist geschlossen. Und die Mehrheit der in Massen durchströmenden Touristen interessiert die Authentizität weniger. Ob alt oder neu spielt wohl bald keine Rolle mehr, Hauptsache es ist „schön“. Vielleicht wird sogar eher die Frage gestellt, ob das einzig originale Haus Wertheim eigentlich auch eine Rekonstruktion sei. Der wahrhaftigste Ort in dieser Gegend ist nicht erst seit Einweihung der Altstadt das Mosaik am von 1951 bis 1955 modern wieder aufgebauten Salzhaus, dem nördlichen Abschluss der Römerzeile: der Frankfurter Stadtadler, der sich als Phönix aus der Asche über Trümmern und Gräbern erhebt. Der Glaskünstler Wilhelm Geißler hat ihn zu einer Zeit geschaffen, als Wunden bewusst nicht überschminkt wurden. Ob die Neue Altstadt Schminke oder Zeitschicht ist, muss sich noch zeigen.

Frankfurt am Main, Neue Altstadt (Bild: Simsalabimbam, CC BY SA 4.0)

Frankfurt am Main, Neue Altstadt am Hühnermarkt (Bild: Simsalabimbam, CC BY SA 4.0)

Frankfurt am Main, Technisches Rathaus, 2007 (Bild: I. Dontworry, GFDL, CC BY SA 3.0 oder CC BY SA 2.5/2.0/1.0)

Titelmotiv: Frankfurt am Main, Technisches Rathaus, 2007 (Bild: I. Dontworry, GFDL, CC BY SA 3.0, 2007)

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