von Karin Berkemann (21/3)
Das Kreischen der Messerattacke in „Psycho“, das Schwärmen der Vögel im gleichnamigen Hitchcock-Streifen, alles geschenkt. Wirklich schlaflose Nächte verspricht die Endlosspirale von „Vertigo“, dieses Nichts zwischen sich windenden Stufen. Hier sieht der Filmheld mit Höhenangst seine mysteriöse große Liebe in den Tod stürzen. Und hier sucht er immer wieder nach ihr, um ihr Rätsel irgendwo zwischen Trauer und Panik zu lösen. Es macht Sinn, dass die Baufachleute eben jene kunstvoll inszenierte Lücke als Treppenauge bezeichnen, denn es blickt einem tatsächlich entgegen, und das nicht immer freundlich. Dabei war das Entstehungsjahr des Vertigo-Films, 1958, die Blütezeit der luftig-eleganten Konstruktionen. Lauert die Schwere genau dort, wo man sich mit ostentativer Leichtigkeit um eine leere Mitte dreht?
Dortmund, IHK (Bild: PD, via pixabay.com)
Fehlstellen
Es gehört zu den Binsenweisheiten der Architekturgeschichte, dass die 1950er Jahre den Bruch mit ihrer braunen Vergangenheit herbeizubauen suchten. Als man in den bürgerlichen Wohnstuben noch das Spitzendeckchen auf dem Fernsehgerät zurechtzupfte, brachten die Treppenhäuser in öffentlichen Gebäuden möglichst viel Luftraum zwischen sich und den Stahlbeton. Je mehr Lücke, desto lieber. Große Glasflächen versprachen nach außen, dass drinnen alles offen und demokratisch zugehe. Dass durch diese filigranen Treppenhäuser dann doch noch reichlich Amtsträger:innen der NS-Zeit liefen, schien man einkalkuliert zu haben. Das kollektive Gedächtnis war löchrig.
Schaut man genauer hin, ist die Lücke zwischen den 1930er und 1950er Jahren, zwischen dem Tausendjährigen und der Stunde Null, nicht gar so groß, wie es viele Zeitgenoss:innen gerne gehabt hätten. Die stete Suche der 1920er, den Innen- und Außenraum durch viel Glas und große Durchblicke zu verschränken, wussten auch einige NS-Größen in ihren Privatvillen zu schätzen. Aber in den repräsentativeren Bauten des Regimes, gerade in der Zeit nach 1938/40, mochte man es doch lieber neoklassizistisch-blockhaft. Da lag es nahe, dass die bundesdeutsche Architektur den Graben zur Vergangenheit und den Aufschwung zu besseren Zeiten mit Flugdach und Co. inszenierte.
Werbefoto des NSU Ro 80 vor der Akademie der Künste in Berlin, ca. 1969 (Bild: Audi NSU Auto Union AG)
Wunde Punkte
Ab den 1960er Jahren umkreiste man nicht mehr schamhaft den wunden Punkt in der eigenen Geschichte, sondern nahm festeren Boden unter die Füße. Die Treppenhäuser gerieten blockhafter und legten ihre Baustoffe deutlich offen. Über rohe (Wasch-)Betonstufen, die Hand am hölzernen Geländerbrett, machte sich eine neue Generation beherzt auf den Weg zu alternativen Arbeits- und Gesellschaftsformen. Wo immer sich eine Lücke auftat, wurde sie betonplastisch ausgefüllt. Nun traten die Treppenhäuser als massiver Akzent in den Außenraum, führten sichtbar empor zu Stadtautobahn, Parkhausetage oder Fußgängerbrücke.
Von Elefantenklo bis Hochstraße, die Stadtplaner:innen nahmen immer stärker auch den Luftraum in Anspruch. Denn mit einem steigenden Verkehrsaufkommen musste jede Reservefläche genutzt werden. Die monumentalen Infrastrukturen jener Jahre konnten von brutaler Schönheit sein. Doch dass man damit vielen Bürger:innen den freien Blick aus ihrem Wohnungsfenster nahm (von Licht und Luft ganz zu schweigen), wurde billigend in Kauf genommen. Sympathisch wird der Größenwahn der späten Moderne in der Rückschau genau dort, wo er versandet. Wo die Betonbrücke ins Nichts führt, wo die U-Bahnstation für den halbfertigen neuen Stadtteil fehlt. Hier verleiht die unfreiwillige Lücke dem Bauen etwas Menschliches.
#treppenhausfreitag (Bild: Instagram, Screenshot)
Zwischenräume
Inzwischen hat sich das Treppenhaus als höchst social-media-tauglich erwiesen. Unter dem Hashtag #treppenhausfreitag, der über 73.000 Beiträge verzeichnen kann, lässt es sich stilvoll ins Wochenende starten. Mit kaum einem anderen Motiv zeigt sich Architektur derart dynamisch und zugleich ornamental-abstrakt. Manche Bilder spielen lustvoll mit dem Horror Vacui, anderen geht es um die spannungsvolle Lücke zwischen Kommen und Gehen. Doch am schönsten sind Treppenhäuser im Analogen. In Mehrparteienwohnhäusern gehört dieser Bereich laut Gesetz allen. Niemand dürfte hier einfach seine Garderobe aufbauen – schon am Motiv einer Fußmatte können sich nachbarschaftliche Konflikte entzünden. Positiv gewendet, eröffnet sich so ein wertvoller Zwischenraum an der Nahtstelle von öffentlich und privat, und das sogar witterungsgeschützt. Man sollte der Treppe nur nicht zu tief ins Auge schauen.
Vertigo (Bild/Titelmotiv: Filmplakat, Saul Bass, 1958, PD, via wikimedia commons)
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Bonusbeitrag
Inhalt
LEITARTIKEL: Mut zur Lücke
Wer von perfekter Ordnung und glatter Oberfläche genug hat, entdeckt sie und wird sie vermutlich nie wieder los. Die Lücke – eine Liebeserklärung von York Pijahn.
FACHBEITRAG: 50 Jahre Bauen in Baulücken in Köln
Uta Winterhager über charmante Lückenbüßer der Nachkriegsmoderne.
FACHBEITRAG: Mit Minecraft durch den Lockdown
Rebekka Kremershof über virtuelle Baulücken und die Chancen des Digitalen.
FACHBEITRAG: Schminke oder Zeitschicht?
Daniel Bartetzko über die große Leere in der Frankfurter Altstadt.
PORTRÄT: Lückenbüßer
Karin Berkemann über Treppenhäuser und das Nichts, das sie schwungvoll umkreisen.
INTERVIEW: „Manchmal glaubt man nicht an Lücken“
Der Modellbauer und Fotograf Frank Kunert über die Kunst des Weglassens.
FOTOSTRECKE: Maleschka ist dann mal weg
Martin Maleschka suchte mit der Kamera die Zwischenräume der Ostmoderne.