von Alexandra Klei (Heft 15/1)
Tel Aviv, Sheinkin Street 22 (Bild: A. Klei)
“Laboratorium der Moderne” und “Bauhaus” sind Begriffe, mit denen die Architektur und Stadtplanung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Staates Israels verbunden werden. Sie verweisen auf drei Aspekte: erstens den Einfluss einer europäischen Architekturmoderne, zweitens die Möglichkeit, Theorien und Konzepte zeitnah und umfassend umzusetzen sowie drittens den dabei zum Tragen kommenden experimentellen Charakter.
Die stadtplanerischen Umsetzungen und architektonischen Formen mussten und müssen immer wieder korrigiert und den Bedürfnissen der neuen Bewohner/innen sowie den Witterungsverhältnissen angepasst werden. Begleitet wurden diese Entwicklungen von der Frage nach einer jüdischen, hebräischen bzw. zionistischen Identität in der Architektur. Der folgende Text gibt einen kurzen Einblick in die israelische Architekturgeschichte und ihre Wahrnehmung anhand ausgewählter Architekten, Bauten und Rezeptionsprozesse.
Arieh Sharon – Ankunft der Moderne
Tel Aviv, Cooperative Housing, Frishman Street (1934-36) (Bild/Titelmotiv: Archiv Arieh Sharon)
Mit dem Architekten Arieh Sharon sind zahlreiche Aspekte des Aufbaus und der Architekturgeschichte in Palästina/Israel verbunden: 1900 in einer galizischen Kleinstadt geboren, studierte er 1919 an der Technischen Hochschule in Brünn, bevor er im Frühjahr 1920 nach Palästina auswanderte. Nachdem er hier zu den Mitgründern des Kibbuz Gan Shmuel gehörte, reiste er 1926 nach Breslau, Berlin und Dessau, um hier die aktuellen Tendenzen des Neuen Bauens kennenzulernen.
Ab dem Wintersemester 1927/28 studierte er in der neu gegründeten Bauabteilung des Bauhauses unter Hannes Meyer, in dessen Büro er anschließend arbeitete. Nach der Rückkehr nach Palästina im Jahr 1931 eröffnete Sharon ein erstes eigenes Büro in Tel Aviv. Ein Jahr später gründete er gemeinsam mit anderen die Architektengruppe Chug. Sie war maßgeblich daran beteiligt, die Architekturmoderne vor allem in Tel Aviv durchzusetzen und sie zudem mit dem Begriff Bauhaus zu verknüpfen.
Arieh Sharon – der europäische Einfluss
Die heute inflationäre Verwendung des Begriffs Bauhaus für die 1930/40er Jahre verstellt den Blick darauf, dass die Bauten von Architekten aus ganz Europa errichtet wurden. Sie genossen in verschiedenen Schulen eine Ausbildung und sammelten in den unterschiedlichen Büros Erfahrungen. Dabei hatten sie an diversen Fachdiskussionen teil und die Arbeiten großer Vorbilder wie Erich Mendelsohn und Le Corbusier im Blick. Mit ihrer Ankunft in Palästina verband zudem alle die Erfahrung des Exils: Die zwischen 1919 und 1939 in drei Alijas nach Palästina Eingewanderten stammten vor allem aus Europa.
Kibbuz Givat Hashlosha, Dining Hall (1930er Jahre) (Bild: Archiv Arieh Sharon)
Konzepte moderner Stadtplanung legte Sharon ab 1948 der Entwicklung eines nationalen Bauplans zugrunde. Dieser entstand unter seiner Führung im Physical Town and Country Planning Department und führte dazu, dass bis Mitte der 1960er Jahre 27 Städte entstanden, sowohl durch Neugründungen als auch durch den gezielten Ausbau bereits vorhandener Siedlungen.
Bis zu seinem Tod im Jahr 1984 entwarf Sharon unzählige Wohn-, Verwaltungs- und öffentliche Gebäude sowie Kibbuzim. Immer wieder spielten dabei konzeptionelle und theoretische Konzepte aus Europa eine Rolle. So gehörte er zu den Architekten, die mit einer brutalistischen Architektur unter anderem der Stadt Beer Sheva ihre Erscheinung gaben.
Tel Aviv – Anfänge der Moderne
Zweifellos ist das Tel Aviv, das in den 1930er und 40er Jahren entstand, der Ort, der zuerst mit dem modernen Bauen verknüpft ist. Bereits die 1909 von 60 jüdischen Familien nördlich von Yaffa gegründete Siedlung Achusat Bajit (die Umbenennung in Tel Aviv erfolgte ein Jahr später) war geprägt von den Prinzipien einer europäischen Gartenvorstadt. Sie sollte bessere Lebensbedingungen zur Verfügung stellen als die beengte arabische Hafenstadt.
Zentrum der Anlage war das erste hebräische Gymnasium, benannt nach dem Begründer des modernen Zionismus Theodor Herzl. Das – von Joseph Barsky entworfene – Gebäude war geprägt von orientalisierenden Elementen und sollte als Stil für ein “altneues Hebräertum” stehen. Dieser unterschied sich aber nicht deutlich genug von den lokalen arabisch-islamischen Bauten und blieb deshalb für die Entwicklung einer – um Distinktion bemühten – eigenständigen Identität unbrauchbar. Da es für die Haustypen oder die Gartengestaltung keine Vorschriften gab, wurden sie abhängig von den finanziellen Möglichkeiten und den ästhetischen Vorstellungen ihrer Bewohner/innen errichtet.
Tel Aviv, Pagodenhaus (1924, A. Levy) (Bild: A. Klei)
Die neue Siedlung wuchs rasch, in den vier Jahren nach ihrer Gründung verdoppelte sich die Zahl der Wohnhäuser. Bebauungspläne hatten vor diesem Hintergrund kaum Bestand. Nach dem Ersten Weltkrieg erhöhte sich der Zustrom neuer Einwohner/innen weiter. 1921 wurde Tel Aviv zur eigenständigen Stadt erklärt. Mehrfamilienhäuser in einer eklektizistischen Architektur begannen das Stadtbild zu prägen. Diese löste allerdings die Frage nach einer jüdischen/hebräischen Identität in der Architektur nicht auf, da sie lediglich historische europäische und arabische Elemente miteinander verband.
Tel Aviv – erste Bebauungspläne
Parallel unternahm die Stadt zwei Versuche, Bebauungspläne zu erstellen. Zunächst beauftragte sie den 1920 aus Frankfurt am Main eingewanderten Architekten und Stadtplaner Richard Kauffmann. Obwohl er innerhalb von nur zwei Monaten einen Plan ausarbeitete, wurde dieser nicht umgesetzt. Das Interesse der Stadt bestand eher darin, dass schnell gebaut wurde und weniger darin, langfristige Planungsverfahren umzusetzen.
1925 übertrug sie dann dem schottischen Biologen und Stadtsoziologen Sir Peter Geddes die Aufgabe. Sein Plan sah ein hierarchisches Straßensystem mit breiten Haupt- und ruhigen Wohnstraßen und Wohnblöcken vor, die halböffentliche Einrichtungen für eine soziale Infrastruktur der Nachbarschaftseinheiten umschlossen. Auch dies konnte nicht eins zu eins umgesetzt werden, bildete aber die Grundlage für die heute vorhandene Stadtstruktur. Da Geddes lediglich ein Wachstum auf 100.000 Bewohner/innen angedacht hatte, mussten seine Planungen zwangsläufig überholt werden: Gab es 1932 noch 60.000 Einwohner/innen, waren es drei Jahre später bereits 120.000.
Tel Aviv – “White City”
Tel Aviv, Rubinsky House, Sheinkin Street 65 (1934) (Bild: A. Klei)
Unter ihnen befanden sich zahlreiche Architekt/innen, die geprägt waren von den Vorstellungen des neuen, modernen Bauens in Europa. Sie bekamen hier nun die Möglichkeit, sie umfangreich umzusetzen: Rund 4.000 Bauten in diesem Stil entstanden größtenteils in den 1930er, insgesamt aber bis Anfang der 1950er Jahre. Sie besaßen grell-weiße bis beige Fassaden, tiefe Balkone oder Loggien, begehbare Flachdächer, standen teilweise auf Pfeilern in grünen Gärten, die Treppenhäuser waren durch auffällige vertikale Fenster betont.
Damit beriefen sie sich auf die fünf Punkte – Stützen, Dachgarten, freie Grundriss- und Fassadengestaltung, Langfenster –, die Le Corbusier in den 1920er Jahren als Merkmale der neuen Architektur definiert hatte. Sie wandten diese auf einen mediterranen Raum und dessen Anforderungen an: Die Balkone sollten den Bewohner/innen Schatten spenden. Die Flachdächer sollten ebenso wie die verschatteten Eingangszonen zu halböffentlichen Räumen werden. Und die auf Stützen gestellten Baukörper sollten eine bessere Durchlüftung der Stadt ermöglichen. Wer sich heute die Gebäude ansieht, wird überrascht sein von der Vielfalt architektonischer Lösungen für die immer gleiche Bauaufgabe.
Darüber hinaus war die Bedeutung für den utopischen Gehalt des zionistischen Projekts groß. Mit der funktionalen Architektursprache schien eine Form gefunden, die eine Identität für das zu gründende Land baulich übersetzten konnte. Für die Erfahrungen von Herkunft und Exil konnte sie zudem einen Neuanfang suggerieren. Tel Aviv steht so für eine Entwicklung, welche die Architekturmoderne außerhalb Europas unter sehr spezifischen Voraussetzungen nahm und zu einem eigenständigen Ensemble führte.
Beer Sheva – bedeutendes Architekturerbe
Beer Sheva, erste Häuser einer Nachbarschaft zu ihrer Bauzeit (Bild: Archiv Arieh Sharon)
Erst langsam – und die Anerkennung der White City von Tel Aviv als Weltkulturerbe der UNESCO im Jahr 2003 hat einen wesentlichen Anteil daran – beginnt ein Bewusstsein für die Bedeutung des Architekturerbes jenseits antiker Stätten zu wachsen. Bezogen auf Tel Aviv ist dies u. a. im gestiegenen Interesse an der eklektizistischen Architektur zu sehen. Ein anderes Beispiel ist der Brutalismus, für den aktuell die im Norden des Negev gelegene Stadt Beer Sheva als Zentrum präsentiert wird.
Auch mit ihm führt die Spur zurück nach Europa: zu einem “truth-to-material”-Konzept in der Architektur, zu Le Corbusiers Unité d’Habitation (1952, Marseille), zur Hunstanton School von Peter und Alison Smithson (1954) und zu der – mit dem Begriff New Brutalism verknüpften – Suche nach Wahrheit im Bauen des britischen Architekturtheoretikers und -kritikers Reyner Banham.
Beer Sheva – Zentrum brutalistischer Architektur
Beer Sheva war 1948 eine Siedlung mit 5.000 Bewohner/innen. Im Zuge des Nationalplans sollte sie zu einem D-Zentrum u. a. mit höheren Regierungsbehörden, Krankenhäusern, übergeordneten Bildungs- und Kultureinrichtungen ausgebaut werden. Angedacht waren dafür Nachbarschaften mit eigenen Infrastrukturen, durch Grüngürtel voneinander getrennt. Heute ist Beer Sheva ein sogenannter Zentralort für die Region, in dem knapp 200.000 Menschen leben.
Das Bauen wurde hier von jungen Architekt/innen, die am Technion Haifa ausgebildet worden waren, ebenso geprägt wie von bekannten Architekt/innen, zu denen Ram Carmi, Ada Carmi Melamed, Ze’ev Rechter und wiederum Arieh Sharon gehörten. Sie alle entwickelten individuelle skulpturale Lösungen für öffentliche Bauten, Wohnhochhäuser und Modellnachbarschaften.
Beer Sheva – Bezug auf Region und Zeit
Beer Sheva, Sacta-Rashi Physics Building, Ben Gurion University (2010, D. Lazar/R. Alroey) (Foto: S. Epstein, Copyright: Bauhaus Center Tel Aviv)
Diese Bauten zeugen zum einen von der Kenntnis der europäischen Vorbilder und Debatten um den Brutalismus. Sie lassen daneben die Auseinandersetzung mit den extremen klimatischen Bedingungen der Wüste erkennen und daraus resultierend eine Interpretation der Erfahrungen der Beduinen: Zeltformen, Steinkonstruktionen, Bauten, die interne Plätze umfassten oder schmale, verschattete Durchgänge ausbildeten.
Mit Blick auf die Gegenwart zeigt Beer Sheva, dass hier ein schützenswertes Architekturerbe seiner weiteren Entdeckung und Erforschung harrt. Deutlich ist aber auch, dass das Konzept des Brutalismus heutige Bauten noch beeinflusst. Damit ist er nicht nur in seiner Übersetzung in die regionalen Gegebenheiten historisch von Interesse, sondern auch in seiner Entwicklung und Anpassung an zeitgenössische Ansprüche.
Rundgang
Begleiten Sie Alexandra Klei – mit Aufnahmen von Shai Epstein (Bauhaus Center Tel Aviv) – auf einen Rundgang zu modernen Schönheiten in Beer Sheva.
Beer Sheva, The Drawer Tower. Shimoni 9 (1962, Moshe Lufenfeld/Giora Gammerman) (Foto: Shai Epstein, Copyright: Bauhaus Center Tel Aviv)
Orot Cinema (1963, Zeev Rechter) (Foto: Shai Epstein, Copyright: Bauhaus Center Tel Aviv)
Beer Sheva, Zalman Aranne University Library, Ben Gurion University, Campus (1968, Michael und Shulamit Nadler/Shmuel Bikson/Moshe Gil/) (Foto: Shai Epstein, Copyright: Bauhaus Center Tel Aviv)
Beer Sheva, Common Patio Houses, Ben Yehuda 16,18,20,22 (1972, Arieh Sharon) (Foto: Shai Epstein, Copyright: Bauhaus Center Tel Aviv)
Beer Sheva, Yad Lebanim, Yitzhak Reger Boulevard (Synagoge: 1981, Yochanan Rechter/Mordechai Shoshani; Umbau: Benny Shoshani) (Foto: Shai Epstein, Copyright: Bauhaus Center Tel Aviv)
Beer Sheva, Raffi Hall, Medical Library, Soroka Campus (frühe 1980er Jahre, Arieh und Eldar Sharon) (Foto: Shai Epstein, Copyright: Bauhaus Center Tel Aviv)
Quarter Kilometer House (Avraham Yaski, Amnon Alexandroni) (Foto: Shai Epstein, Copyright: Bauhaus Center Tel Aviv)
Beer Sheva, Sacta-Rashi Physics Building, Ben Gurion University, Campus (2010, Danny Lazar/Ronny Alroey) (Foto: Shai Epstein, Copyright: Bauhaus Center Tel Aviv)
Literatur
Harpaz, Nathan, Zionist Architecture and Town Planning. The Building of Tel Aviv (1919-1929), West Lafayette 2013.
Heinze-Greenberg, Ita, Europa in Palästina. Die Architekten des zionistischen Projekts 1902-1923, Zürich 2011.
Metzger-Szmuk, Nitza, Dwelling on the Dunes. Tel Aviv. Modern Movement and Bauhaus Ideals, Paris 2004.
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Inhalt
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Ulrich Knufinke zu einem der produktivsten Synagogenbauer der deutschen Nachkriegsmoderne: Godschmidt arbeitete in Dortmund, Köln, Bonn, Münster, …
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