SSP Architekten Ingenieure und soll sasse architekten BDA über die Sanierung der Stadthalle Göttingen (23/3)

Rund 55 Jahre hat die am 1. September 1964 errichtete Stadthalle Göttingen als Veranstaltungsort gedient. Entworfen hat sie der Architekt Rainer Schell (1917–2000). Der Meisterschüler von Egon Eiermann zeichnet auch für das Wilhelm Morgner Museum Soest (1961–1962), das Rheinische Landesmuseum Bonn (1965–1967) und mehrere evangelische Kirchen im Großraum Rhein-Main verantwortlich. Der konsequent modern gestalteten Göttinger Halle wurde einst durchaus mit Skepsis begegnet. Dafür sorgte auch das im Außenbereich angebrachte Bronze-Relief „Die Stadt“, ein Werk des Braunschweiger Bildhauers Jürgen Weber (1928–2007). Die Darstellung der Menschen – nackt und sexualisiert – wurde seinerzeit von Kritikern als zu drastisch empfunden. Über die Jahrzehnte hinweg hat man sich mit der Halle und ihrer baubezogenen Kunst indes angefreundet. Der gelegentlich angewandte Spitzname „Kachelofen“ ist eher liebevoll denn spöttisch gemeint, das 2019 demontierte Relief wird auch in Zukunft wieder an der Fassade zu sehen sein.

Seit Beginn der 2010er Jahre wurde über die Zukunft des Stahlbeton-Baus diskutiert, auch ein Abriss stand lange Zeit im Raum, ehe die Entscheidung für die Sanierung fiel: Ende 2018 wurde die Stadthalle vorerst geschlossen, kurz darauf fand ein Flohmarkt statt, auf dem große Teile des Inventars verkauft wurden, ehe die Bauarbeiten starteten – mitten hinein in große, unerwartete Krisen und ihren Folgen: die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine. Am Ende wird die neue alte Stadthalle auch krisenbedingt etwa 43,5 Millionen Euro gekostet haben. Das Dortmunder Büro soll sasse architekten BDA hat die Neugestaltung der Fassade und der Anbauten übernommen. Der Kooperationspartner SSP Architekten Ingenieure (Bochum) gestaltet Innenräume, Foyer und Saal neu. Obwohl nicht denkmalgeschüzt, hat der Bau auch seine zwischenzeitlich demontierte Keramik-Fassade (nun vorgehängt) wieder erhalten. Daniel Bartetzko (mR) sprach mit Matthias Kraemer (SSP) sowie Inga Soll und Heiko Sasse (soll sasse) über Bauen in der Krise, klimagerechte Vorgehensweisen und den Respekt vor stadtbildprägenden Gebäuden.

Göttingen, Stadthalle 2009 (Bild: Kresspahl, CC BY-SA 3.0)

Göttingen, Stadthalle 2009 (Bild: Kresspahl, CC BY-SA 3.0)

moderneREGIONAL: Allgemein werden öffentliche Gebäude der 1950er-1980er Jahre gerne als kaum sanierungsfähige, asbestverseuchte „Problembären“ dargestellt. Die Stadthalle Göttingen hat fast 60 Jahre als Veranstaltungsbau funktioniert. Ist sie eine Ausnahme, weist sie besondere Qualitäten auf – oder wird über die Hallen jener Ära zu schnell der Stab gebrochen?

soll sasse architekten BDA: Die negative öffentliche Wahrnehmung der Bauten aus der Nachkriegszeit ist wirklich ein Problem. Es werden immer noch zu viele Bestandsbauten sorglos abgerissen. Der entstehende Müll und die zu erzeugende Energie sind ein Teil des Problems, ein weiteres, dass bereits aufgewendete Energie zur Errichtung der Gebäude (sog. Graue Energie) ebenso in die negative Bilanz einzurechnen ist. Bleibt der Bestand stehen, wird diese Graue Energie nicht noch zusätzlich verbraucht. Was zudem oft völlig ignoriert wird, ist die soziokulturelle Bedeutung von Bestandsgebäuden, sind diese doch vielmals identitätsstiftende Bauwerke für Generationen. Diese Identitäts-Qualität liegt sicher auch zu einem gewissen Teil in der Ästhetik was die Gestaltung und Materialität der alten Gebäude betrifft. Die Stadthalle Göttingen ist hierfür ein sehr gutes Beispiel. Für uns galt es, ihre Qualität zu bewahren und weiterzuführen. So entstand das prämierte Konzept zur Fassadenneugestaltung (Wettbewerb, erster Preis 2018).

SSP AG: Die Bestandsbauten aus dieser Zeit haben ihre Tücken, was deren Substanz und die möglichen Schadstoffe anbelangt. Das klein zu reden wäre falsch. Gleichwohl gibt es hier keine pauschale Antwort bezüglich der Bauten aus der angesprochenen Zeit. Es gibt hier alles: von guter Bausubstanz bis hin zu einer Ansammlung unglücklicher Voraussetzungen. Hier in diesem Fall stand eindeutig die Betonsanierung im Mittelpunkt. Sie waren umfangreicher, als es die Stichprobenuntersuchung im Vorfeld des Bauvorhabens prognostizierte. Eine gründliche Voruntersuchung mit einer Vielzahl von Untersuchungspunkten wäre bei dieser Art von Gebäuden angeraten. Das findet jedoch oft nicht statt, weil bis zum letzten Tag vor der Bauphase die Nutzung des Gebäudes gewünscht wird.

Göttingen, Stadthalle am Albaniplatz während des Umbaus im Sommer 2020 (Bild: GeorgDerReisende, CC BY-SA 4.0)

mR: Die Sanierung startete 2018, Anfang 2024 wird die Stadthalle wiedereröffnet. In die Bauphase fielen die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg, verbunden mit teils inflationären Preissteigerungen in vielen Bereichen. Wie schwierig war es, mit diesen außergewöhnlichen Schwierigkeiten und der Preissteigerung umzugehen?

SSP: Das war zugegebenermaßen sehr herausfordernd. Dies gleich aus mehreren Gründen: Zum einen starteten wir in eine Vergabe- und Bauphase mit stark steigenden Baupreisen, also die Angebots- und Nachfrageseite verschob sich zu Ungunsten des Auftraggebers, als auch die Lieferzeiten von Bauprodukten/-elementen nach Beginn des Ukraine-Kriegs waren zum Teil unkalkulierbar. Damit auch die Kosten- und Terminplanung. Zu guter Letzt, nicht unwichtig, leiden die Firmen zunehmend unter dem Arbeitskräftemangel, was vorgenannte Auswirkungen verschärft. Immer wieder mussten wir, Auftraggeber, Architekten und Ingenieure, Gespräche mit den Firmen suchen, um überhaupt gangbare Wege zu finden.

soll sasse: Wir können uns glücklich schätzen, dass wir dem Büro SSP AG einen erfahren Partner für die hinteren Leistungsphasen (LPH 6 bis 9) an der Seite hatten. So konnten wir uns ganz auf unsere Stärken, den Entwurf und die Ausführungsplanung, konzentrieren. Aber ein Beispiel wollen wir noch nennen, das u. U. Vorbildcharakter hat: Die Stadt Göttingen hat – nach der Anmeldung von zu erwartenden Mehrkosten wegen der fast wöchentlichen Preissteigerungen – sämtliche Stahltüren weit im Voraus bestellt und bis zur Montage eingelagert. So konnten zumindest diese Mehrkosten abgefedert werden.

Göttingen, Stadthalle Konzept (Piktogramm soll sasse architekten)

Göttingen, Stadthalle Konzept (Piktogramm soll sasse architekten)

mR: Ihre Büros sind mit der Sanierung von Bestandsbauten vertraut. Liegt in derartigen Projekten die Zukunft des klimagerechten Bauens? Könnte es bei derart umfangreichen Sanierungen bei geschützten Bauten Diskussionen mit den Denkmalämtern geben?

soll sasse: Die Halle ist zwar denkmalwürdig, aber nicht denkmalgeschützt. Insofern hatten wir hier keine Anknüpfungspunkte mit der Denkmalbehörde. Es wurden aber die Erben des Urprungsarchitekten, Rainer Schell, in den Gestaltungsprozess im Rahmen des Wettbewerbs zur Neugestaltung der Fassaden eingebunden. Sie sprachen sich deutlich für unseren Beitrag aus, da dieser die Ursprungsgestaltung nicht negierte, sondern aufgriff und neu interpretierte: Die einzigartige Fassadenbekleidung aus dreidimensionalen keramischen Kacheln wurde behutsam demontiert, gereinigt und zur Wiederverwendung gelagert. Auf Grund von Größenänderung durch die energetische Sanierung und gestalterischen Entscheidungen (weiße Kacheln nur für additive Elemente), mussten ergänzend neue Kacheln produziert werden. Die Neugestaltung der Fassade ergänzt das bestehende Vokabular, unter Verwendung zweier neuer Kachelfarben mit nur einer Reliefgeometrie (Quadrat). Die neue Komposition erzeugt ein differenziertes Erscheinungsbild mit Flächenwirkung von Weitem und heterogenem Farbspiel aus der Nähe. Der südliche Ersatzneubau präsentiert sich als Stadtterrasse mit Blick auf den Cheltenham-Park und den Albaniplatz. Aus unserer Sicht ist dieser klimagerechte Umgang mit dem Bestand beispielhaft. Das Bewahren der Bestandsgebäude, und im besten Fall Ihrer Qualitäten, ist ganz sicher die Zukunft des Bauens.

SSP AG: Das Wichtigste nach der Gebäudeanalyse ist die Aufstellung von Sanierungskonzepten und deren dabei zugrunde liegenden Ideen sowie der ausführlichen Durchspreche mit allen am Bauvorhaben Beteiligten. Hier gilt es, dem bereits erstellten Gebäude mit Achtung und Respekt zu begegnen sowie den Kern der Eigenschaften und Ausprägungen zu erforschen und zu erkennen. Im Gebäudeinnern war es der Saal und die umliegende Foyer-Situation. Bei Letzterem gefiel uns die skulpturale Erscheinung, die wir weitgehend erhalten haben. Dazu kam eine leichte Aufhellung, eine veränderte Saal-Außenwand aus Holz, die auch die neue innere Struktur des Saal wiedergibt, und eine einladende Beleuchtung, die mehrere Lichtatmosphären abbilden kann. Das Herzstück der Planung und Umsetzung war der Saal, die Saalnutzung, bei der es ja in der Stadthalle geht. Hier sind wird deutlich von einer 1:1-Sanierung abgewichen, um Luftqualität, Akustik, Beleuchtung mit verschiedenen bzw. mit unserer in Europa einzigartigen verfahrbaren LED-Lichtdecke unzählig vielen möglichen Stimmungen zu erzeugen. Mit Hilfe der vielen möglichen Einstellungen der Decken-Elemente bezüglich Höhe, Neigungswinkel und Lichteinstellungen sind wir dem Ziel des „Alleskönner-Saals“ sehr nahe gekommen. Das ist eine neue und gute Voraussetzung für die verschiedensten Veranstaltungsarten, die der Saal in Zukunft gleichermaßen meistern soll: das klassische Konzert, die Konferenz, die Messe, Konzerte für Pop, Rock und Jazz sowie viele weitere Nutzungsarten. Die Innenverkleidungen und die Haustechnik wurden komplett erneuert. Nutzungsqualität und Energieeffizienz verkörperten wichtige Gebäudeziele.Insgesamt stand im Zentrum unserer Überlegungen, möglichst viel von der Bausubstanz zu erhalten. Durch diese Vorgehensweise wurde der CO2-Fußabdruck des Gebäudes klein gehalten. Das unterstützten auch unser Auftraggeber und die das Projekt begleitende Politik.

Göttingen, Stadthalle, Südwest-Ansicht 2023 (Bild: Eberhard Sasse, Schwerte)

mR: Rainer Schell, der ursprüngliche Architekt der Stadthalle, hat in seiner Karriere noch das Wilhelm-Morgner-Museum in Soest, etliche Kirchen im Rhein-Main-Gebiet und 1974 in Dillenburg noch einmal eine Stadthalle entworfen (die derzeit ebenfalls auf Sanierung wartet). Ist es eine besondere Herausforderung, das Werk eines hochrangigen Kollegen zu restaurieren oder spielt dieser Gedanke an den Ursprungsplaner eine untergeordnete Rolle?

soll sasse: Grundsätzlich macht es für uns keinen Unterschied, ob der Ursprungsarchitekt bekannt oder unbekannt ist. Wir beschäftigen uns immer mit dem Vorgefundenen. Je bekannter der Urheber ist, desto leichter kommen wir allerdings z. B. an Sekundärliteratur und können uns tiefer mit dem Werk beschäftigen. Bei Herrn Schell war uns das eine helle Freude, insbesondere durch den Kontakt zu den Erben. Für unseren Entwurf war das Studium von Rainer Schells Oeuvre insofern sehr wichtig, als dass wir die beabsichtigte Ästhetik des Ursprungsentwurfs erkennen, bewahren und weiterführen konnten.

SSP: Wir denken, dass Qualität von Bestandsgebäuden immer zu erkennen ist, wenn sich um eine „gute“ Architektur handelt. So war es auch hier. Wie schon erwähnt, ist die Beschäftigung mit dem Bestand bzw. die Reflexion darüber das Wichtigste. Eine gute Ergänzung ist eine fundierte baugeschichtliche Kenntnis, Erfahrung mit dem Umgang mit Bestandsgebäuden sowie das Wissen um Baustoffe und deren Verhalten im Laufe der Zeit. Es belebte unsere Arbeit, sich auch mit dem Entwurfsverfasser zu beschäftigen. Insgesamt kann gesagt werden, gerade in der Zeit, in der wir leben und vermehrt über „Bauwende“ und „Nachhaltigkeit“ sprechen, dass es als Architekt und Ingenieur ungeheuren Spaß macht, Bestandsgebäude zu transformieren und in eine neue Zukunft zu begleiten.

Das Interview führte Daniel Bartetzko.

Göttingen, Stadthalle, Probekonzert 2023 (Bild: SSP AG)

Göttingen, Stadthalle (Visualisierung: SSP Architekten Ingenieure)

Titelbild: Göttingen, Stadthalle nach Sanierung (Visualisierung: soll sasse architekten )


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