von Till Schauen (23/3)

Kürzlich ist meine Tante Cordula gestorben, was mich stärker berührt als vermutet. Cordula war mir entfernt, räumlich ebenso wie in ihrem Leben und ihrem Blick auf die Welt. Sie war das, was Ignoranten eine „Höhere Tochter“ nennen: von exquisiter Allgemeinbildung, von präziser Ausdrucksweise, höflich, kunstsinnig, betucht und sozial engagiert. Als Schüler wurde ich manchmal zu ihr nach Braunschweig abgeschoben, was ich hasste, weil ich dann mit ihr Kultur machen und mich insgesamt benehmen musste. Sie hat mir später von ihren Reisen stichelnde Postkarten geschickt, über die ich mich pflichtschuldig ärgerte. Denn erstens: Postkarten! Stoffeliger gings nicht? Und dann waren durchgängig Stadthallen und Kongressbauten abgebildet, also genau die Häuser, die ich furchtbar biedermeierisch fand. Tante Cordulas Postkarten aus seltsamen Ecken der Altrepublik sind ihr Vermächtnis an mich, und ein vielschichtiges, wie mir aufgeht.

Braunschweig, Stadthalle (Bild: historische Postkarte)

Braunschweig, Stadthalle (Bild: historische Postkarte)

Ein Lebensentwurf für eine ganze Generation steht dahinter, eine vergessene Ära der Republik, nichts weniger. Denn was sind Stadthallen heute? Klobige Innenstadt-Bauten von schwierigem Geschmack, eskalierenden Unterhaltskosten und gerne mit einer Asbest-Problematik behaftet. Sie blockieren wertvolle Grundstücke, und die Hauptfrage ist oft: Wie kriegen wir das Ding an einen Investor losgeschlagen oder am besten ganz weg? Wir plattformgestützten Internetbewohner verlieren rapide an Dimensionen. Zukunft? Lieber nicht hingucken. Vergangenheit? Überflüssig. Andere Standpunkte? Nerven nur. So wie Cordulas bizarre Postkarten damals mich genervt haben … Ulkigerweise sind sie jetzt zu Ankern geworden. Sie ziehen ein dünnes Seil an einen obskuren Punkt auf dem Zeitstrahl, als man sich mangels Whattsapp per Bundespost mitteilte, durch ein sorgfältig ausgewähltes Stückchen Karton mit Vierfarb-Glanzdruck und handschriftlichem Gruß. Das Bild zeigte stets ein sehens- und erinnernswertes Objekt. Jedoch – die Kongresshalle Böblingen, ein bedeutender Ort? Die Stadthallen Kleve und Osnabrück, eine Reise wert? Tante Cordula war dieser Ansicht, ihre A6-Kärtchen sagten: Erblicke, mein Bub, die Paläste der Feierlichkeit, des feinsinnigen Genusses und gemeinsamen Erlebens. Ich verstand nichts.

Nachrichten aus einer vergangenen Republik

Diese Ignoranz ist endemisch geworden, sie beherrscht Etatdiskussionen in Stadtratssitzungen, sie durchdringt Konzepte von „Urbanität“. Cordulas Botschaften stecken voll altertümlicher Werte: Gemeinsamkeit, Feierlichkeit, Bürgerlichkeit. Es sind Nachrichten aus einer vergangenen Republik. Wenn ich vorsichtig in meinen Erinnerungen grabe, kann ich sie entschlüsseln. In den goldenen Zeiten der Alt-BRD (die Sechziger bis Achtziger) fanden Wohlstand und Optimismus in großer Innigkeit zusammen. Kommunen pflegten satte Haushalte, die Bürgerschaft hatte Geld, geregelte Freizeit und kulturelles Interesse, und diese Triebkräfte kombinierten sich zu einer Blüte der Stadthallen. Man war modern und wollte das auch zeigen, weshalb. Tante Cordulas Ansichtskarten verweisen vor allem darauf, wie ein solch zentraler Bau ursprünglich gedacht war: Würde und Festlichkeit innen wie außen, jeder Besuch ein Anlass. Deshalb waren Stadthallen oft in ein gehobenes Ambiente eingebunden, Parks und kunstreiche Vorplätze gehörten dazu. Und erstmals galten Parkplätze als Errungenschaft.

Kleve, Stadthalle und Schwanenburg (Bild: historische Postkarte)

Das Gemeinschaftserlebnis der arbeitenden Masse

Natürlich sind Bürger- und Stadthallen keine westdeutsche Erfindung. Parallel bildete die DDR eine Blüte der Kulturpaläste aus, die vielleicht mit anderen Begriffen besetzt war, aber in ihren Grundlagen verblüffend ähnlich. Das allerdings drang erst in meine Westlerblase, als der Palast der Republik unbedingt weg musste. Bürgerhäuser sind Produkt des Bürgertums, gesamtdeutsch also im 19. Jahrhundert verwurzelt, auch wenn im Sozialismus vordergründig das Gemeinschaftserlebnis der arbeitenden Masse zelebriert wurde. Die Ära des Mondflug-Projekts verbreitete eine Hinwendung zur Zukunft, ein „Ihr werdet es noch viel besser haben“, das sich ohne Verlustängste einlösen ließ. So erhielten die Tempel gehobener, wahrlich guter Bürgerlichkeit große Glasfassaden. Alles war offen, innen lebte man dieselben Werte wie außen. Man präsentierte sich, schritt gemessen einher und freute sich auf ein wenig geistig-seelische Veredelung. Ein Besuch in der Stadthalle verlangte gehobene Garderobe, gutes Benehmen, Höflichkeit. Daran kann ich mich erinnern. Tante Cordula, zeitlebens Braunschweigerin, war ein begeisterter Fan der Stadthalle, die ihr besser gefiel als das pompöse Staatstheater. Sie war Anhängerin der Moderne, fällt mir auf: Ich wurde mitgenommen zu Messiaens „Turangalîla“, die ich langweilig fand. „Sacre de printemps“ fuhr mir in die Glieder – und weckte eine lebenslange Leidenschaft für die Musik von Can und Motörhead. Den „Zigeunerbaron“ (konzertant) hat sie mir glaube ich als Abhärtung verabreicht.

Bremen, Stadthalle um 1965 (Bild: historische Postkarte)

Cordula wusste die Architekten des Braunschweiger Hauses zu nennen (Heido Stumpf und Peter Voigtländer), erzählte gern von der feierlichen Einweihung (1965) und konnte mir ein gestalterisches Konzept erläutern, wo ich nur Waschbeton und harte Kanten sah. Ich erinnere mich an gemeinsames Schreiten durch die Dämmerung auf das große Haus zu, dessen Fensterflächen und Eingangsbereich freundlich-warm leuchteten, gemeinsam mit anderen, ebenso festlich hergerichteten Personen. Ich fühlte mich verkleidet, bei Cordula wars umgekehrt, sie schwamm durch die Gesellschaft in verhaltener Freude, grüßte hier, wechselte ein paar Worte dort, stellte mich vor. „Stätte der Begegnung“ nannte sie ihre Stadthalle, und das hatte nichts von Altenheim, sie lebte das genau so. Wir reichten unsere Mäntel in der Garderobenhalle ein und stiegen hinauf ins Foyer, wo man eine Erfrischung einnahm – Cola für mich, Sektchen für Cordula – ah die Frau Direktor, heute ohne Gatte? Auf Geschäftsreise, bestellen Sie Grüße und schönen Abend, ein Lächeln an die Person hinterm Tresen, wir erstiegen ein weiteres Treppenhaus zur Empore, Karten zeigen, ah … der Moment des Eintretens war ein großer, selbst für mich damals, die Akustik verhalten-erfreuten Gesprächs, die Holztafeln, die geheimnisvoll gestaffelte Decke, das festliche Licht …

Von innen nach außen gedacht

Was war die Entstehungsgeschichte der Stadthalle? Braunschweig war verwüstet vom Bombenkrieg, danach der bewusste, folgerichtige Entschluss: „Sie haben uns abgeräumt, jetzt nutzen wir die Freiheit und machen alles neu“. Andere Städte machten es ähnlich, was wir heute – wo wir Historie gern mit Nostalgie verwechseln – sträflich finden. Das Sechseck-Leitmotiv, mein Lieber, erwächst aus der Funktion der Säle. Optimale Akustik, sehr gute Sicht, maximale Variabilität, all das leistet das Sechseck. Das Haus ist von innen nach außen gedacht, die Technik topmodern, mit Dolmetscher- und Pressekabinen (für Kongresse), ein Bedarfs-Postamt, sogar ein Landeplatz für Hubschrauber auf dem Parkdeck ist vorhanden – falls der Herr Ministerpräsident vorbeischauen möchte – und dazu kommt nicht zuletzt das Restaurant, versorgt von topmoderner Küchentechnik. In der Stadthalle speist man zu besonderen Anlässen, Familienfeiern oder Geburtstagen. Oh, die Türen schließen sich, es wird dunkel, ein Atemzug und – das Fagott …

Gernsheim, Stadthalle (Bild: Daniel Bartetzko)

All das trug ein Verfallsdatum. Nicht das Fagott, Strawinsky wird noch gespielt, aber die einstigen Paläste sind heute vor allem Etatfresser. Waschbeton hat man überhaupt nicht mehr, der altert auch schlecht in der Stadtluft. Parks haben Funktion und Gestalt geändert, weshalb die ursprüngliche Komposition als Ensemble – Natur- und Kunstgenuss gemeinsam – heute eher als Kollision rüberkommt. Das öffentliche Hinaufschreiten über mächtige Außentreppen, einst ein Teil der Choreographie ins Allerheiligste (Stadthallen Osnabrück und Bremerhaven als Beispiel), ist heute verdächtig. Die Bürgerhaus- und Stadthallen-Hochkultur währte nur eine Generation; Tante Cordulas zelebrierter Anlass ist zum Event geschwunden. Die letzten Häuser dieser Machart, wie die Stadthalle Gernsheim, wurden in den frühen Neunzigern auf den Weg gebracht, leugnen ihre bürgerliche Herkunft und folgen dem Ideal postmoderner Verspieltheit. Danach dauerte es nicht lang, bis die Phrase „in Zeiten knapper Kassen“ ihren Amoklauf durch Feuilletons und Kulturradios begann. Geld war irgendwie keins mehr da, die große Umverteilung von unten nach oben hatte eingesetzt. Banken mussten gerettet werden. Die Stadthalle Braunschweig wurde, wie viele andere, zum Problemfall.

„Potentiale aktivieren“

Was ist geblieben? Von den tragenden Werten, die dem Haus einzementiert wurden, besteht nur mehr die Mobilität: Parkplätze! Bürgerlich will niemand mehr sein, Streetfood-Festivals sind das Maximum an Feierlichkeit, Gemeinschaftlichkeit wurde von Facebook gefressen. Ja, gewiss, all die Anstands-Bürgerlichkeit hatte knallharte Kehrseiten: Stoffeligkeit und Kehrwoche, die Diktatur des Was-sollen-die-Leute-denken und nicht zuletzt ein verbissen bemäntelter Nazihintergrund. Aber es gab echte Debatten, es gab Zurückhaltung, und Weltzugewandtheit war noch nicht zur Traum-Destination geschrumpft. Meine Tante blieb sich treu und fiel deshalb allmählich aus der Zeit. Niemand verstand ihre Konzepte von kollektivem Wohlstand, von Zurückhaltung und bürgerlicher Gemeinschaft. Sie pflegte ihre seltsame Sprechweise und verweigerte den Führerschein, später das Smartphone.

Braunschweig, Stadthalle (Bild: KerstinBLange, CC BY SA 4.0, 2015)

Braunschweig, Stadthalle 2015 (Bild: KerstinBLange, CC BY SA 4.0)

In ihre geliebte Stadthalle ging Tante Cordula nicht mehr, nachdem 1999 eine garstige post-postmoderne Spitze über den Haupteingang gehängt wurde, die Harmonie des Grundentwurfs negierend! Von Events wollte sie nichts wissen, andere schlossen sich an, und heute berichtet die Lokalpresse: „Eigentlich sollte die Stadthalle bereits saniert sein.“ (In Klammern: keinen Investor gefunden, darum ist die Bude nicht mehr nutzbar). Tante Cordula haben wir im März beerdigt. Die Braunschweiger Stadthallen-Betreibergesellschaft verspricht derweil Flexibilität, Professionalität und Vollausstattung, Potentiale seien zu aktivieren, der Wandel gemeinsam zu gestalten … Man möchte in Tränen ausbrechen.


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Bonusbeitrag

Inhalt

LEITARTIKEL: Kultur als Vermächtnis

LEITARTIKEL: Kultur als Vermächtnis

Till Schauen über seine Tante, eine ganz bestimmte Stadthalle – und darüber, wieso beide stellvertretend für eine ganze Epoche stehen.

FACHBEITRAG: Avantgarde, volkstümlich

FACHBEITRAG: Avantgarde, volkstümlich

Zwischen Totaltheater und Totalsanierung: Daniel Bartetzko über die denkmalgeschützte Stadthalle Hattersheim.

FACHBEITRAG: Die Akropolis von Rüdersdorf

FACHBEITRAG: Die Akropolis von Rüdersdorf

Danuta Schmidt über eine neo-neoklassizistische Zeitkapsel – das Kulturhaus Rüdersdorf.

FACHBEITRAG: Eine Vergangenheit, eine Zukunft?

FACHBEITRAG: Eine Vergangenheit, eine Zukunft?

Polina Gundarina über die Geschichte russischer Kulturhäuser und ihrer DDR-Pendants nach 1990/91.

PORTRÄT: Feste Feiern in Freiburgs Festhalle

PORTRÄT: Feste Feiern in Freiburgs Festhalle

Maximilian Kraemer über die gesperrte Stadthalle Freiburg.

FOTOSTRECKE: Die Topmodels unter den Kulturhäusern

FOTOSTRECKE: Die Topmodels unter den Kulturhäusern

Wir zeigen unsere liebsten Stadthallen – in einer natürlich völlig objektiven Auswahl!

INTERVIEW: "Denkmalwürdig, aber nicht denkmalgeschützt"

INTERVIEW: „Denkmalwürdig, aber nicht denkmalgeschützt“

Inga Soll, Heiko Sasse und Matthias Kraemer im Gespräch über die Sanierung der 1964 eröffneten Stadthalle Göttingen.

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