von Till Raether (20/2)
Zäune sind ein Missverständnis. In jede Richtung. Zum Beispiel, wenn man denkt: Wir wollen keine. Es fing gleich mit diesem Missverständnis an, als wir vor zwölf Jahren in eine Neubausiedlung zogen. Später zu seiner Siedlung befragt, sagte der Architekt: Es sei ihm, wie in Skandinavien oder den Niederlanden üblich, darum gegangen, die Grenzen zwischen dem Privaten und dem öffentlichen Raum verschwimmen zu lassen. Daher sind die kleinen Betonterrassen zum Hof hin offen, an ihrem Rand sind Betonbänke, die Nachbarn sitzen also bei einem vielleicht nicht direkt im, aber sehr nah am Vorgarten. Dort, wo hinter den Gebäuden den einzelnen Wohnungen Sondernutzungsflächen zugeordnet sind, gibt es keine Trennung, sie sind eine einzige durchgehende Grünfläche. Wie schön das im Modell aussah, offen und frei, man konnte sich gleich Kinder vorstellen, wie sie dort von Haus zu Haus liefen, gemeinsame Abende auf einer Fläche.
Aber, wie gesagt: ein Missverständnis. Alle, die Terrassen zum Hof hatten, ließen bald zusätzlich Hecken wachsen oder stellten hohe Topfpflanzen auf, im Bedürfnis, sich abzugrenzen. Die durchgehende Sondernutzungsfläche hinter den anderen Wohnungen teilte sich im ersten Frühling nach dem allgemeinen Einzug in abgezäunte Bereiche ab: Es sei, so waren sich alle einig, doch ruhiger so, und man hockte sich hier doch sowieso schon so dicht auf der Pelle.
New York, Freiheitsstatue (Bild: PD, via pixabay.com)
“Don’t fence me”
Die Idee, keine Zäune zu haben, schien also erstmal allen gut, aber niemand wollte auf Zäune verzichten in dem Moment, als sich die Idee hätte umsetzen lassen. Dieses Ja-Nein-Vielleicht-Verhältnis scheint fast historisch, etwa in der führenden Nation der Zaun-Ambivalenz, den USA. Die nordamerikanische Landmasse ließ sich ab dem frühen 17. Jahrhundert womöglich von europäischen Einwanderern leichter besiedeln beziehungsweise überrennen, weil es keine Zäune, Mauern und Grenzen gab: Die Territorien der Ureinwohner waren fließend, was sie erstens physisch und zweitens juristisch schutzlos machte.
Kaum aber hatte man das Land der ausdrücklich unbegrenzten Möglichkeiten denen entwunden, die eigentlich dort lebten, wandelte sich der Zaun zum US-amerikanischen Alptraum: „Don’t fence me in“, Zäun’ mich nicht ein, heißt das berühmte Cowboy-Gedicht von Robert Fletcher, in dem der Autor, vor hundert Jahren ein Straßenarbeiter in Montana, von einer mystischen Wild-West-Vergangenheit schwärmte, in der man unbegrenzt unter dem Nachthimmel durch die Prärie reitet: „Ich mag mir keine Hindernisse anschauen, und Zäune kann ich nicht ausstehen.“
Nach Western-Lesart ist eingezäuntes Land das Gegenteil von Freiheit. Das Land, „wo der Westen beginnt“, soll dem Individuum gehören, das es sich erschließt, und nicht den Farmern, Grundbesitzern und Firmen, die es für sich abtrennen (ausgenommen vom diesem kollektiven Traum des Uneingezäunten: die ursprünglichen Bewohner des Landes, die nun paradoxerweise in abgetrennten Restgebieten lebten und leben). Und egal, wie sehr Cole Porter etwas später versuchte, aus diesem Text eine Metapher für einengendes Beziehungsleben zu machen: „Don’t Fence Me In“ bleibt die Hymne von Menschen, welche die Abwesenheit von Zäunen feiern, aber dann, wenn sie selber Land haben, einen guten Zaun darum haben möchten.
Einmauern, ausmauern
Ein anderer US-amerikanischer Dichter hat dieses Missverständnis poetisch beschrieben und analysiert, wurde dabei aber naheliegernderweise gleich wieder missverstanden. Aus Robert Frosts schönem und berühmten Gedicht „Mending Wall“ ist in erster Linie das Sprichwort „Good fences make good neighbours“ aber nun auch wirklich jedem vertraut: Gute Zäune sorgen für gute Nachbarn. Frosts Gedicht aber handelt genau davon, wie hilflos diese Spruchweisheit ist, und die Sympathie des Erzählers gehört einer ganz anderen Instanz. In einer sehr gelungenen deutschen Youtube-Nachdichtung von Christian Ebbertz lautet der erste Vers: „Da ist etwas und mag Mauern nicht“ – nämlich die Natur, die die im Wald verlaufende Begrenzung zwischen zwei Besitzungen korrodiert und verschleißt.
Vorsichtig versucht der Erzähler seinem Nachbarn, mit dem er die Mauer ausbessert, zu erklären, dass doch hier, wo niemand es sähe und wo nie jemand herkäme, eine Mauer gar nicht so wichtig sei. Der andere aber antwortet ihm: „Gute Zäune, gute Nachbarn.“ Darauf der Erzähler: „Brauchen gute Nachbarn Zäune? Gilt doch/Nur wo Kühe sind. Und hier sind keine./Bevor ich bau die Mauer, will ich wissen: Was maur’ ich ein, was maur’ ich aus,/Empfindet einer sie vielleicht als Kränkung? …“ Der Nachbar aber will nichts davon wissen: „Er schwört noch auf das Sprichwort seines Vaters/Und freut sich, dass er es so gut behalten,/Und sagt noch einmal: ‚Gute Zäune, gute Nachbarn.’“ Schon in diesem Gedicht von 1914, aus der gleichen Epoche wie „Don’t Fence Me In“, wendet Frost die uns heute noch vertraute Weisheit also gegen die, die an ihr festhalten, weil sie eben einfach so vertraut ist: Stolz kann man nur darauf sein, dass man sie behalten hat, aber nicht darauf, was sie bedeutet.
Algadones-Dünen, Grenze (Bild: US Border Patrol/PD)
Mauern töten
Von dieser mauer- und zaunkritischen Haltung aber ist nicht viel geblieben, erst recht nicht, wenn es um die ikonographische Bedeutung der Mauer und des Zauns in der kollektiven Vorstellung gerade der USA geht. Donald Trump hat gut hundert Jahre nach Frosts Gedicht seine Wahl vor allem mit dem Versprechen gewonnen, eine Mauer zu Mexiko zu bauen, die aus dem Land südlich der USA endlich einen aus seiner Sicht besseren Nachbarn machen würde. Seitdem kann man sich vage damit trösten, wie sinnlos und unpraktikabel diese Mauer vielerorts ist, weil sie entweder dem Wind oder dem Wetter nicht standhält oder leicht zu überwinden ist.
Man kann aber noch viel eher daran verzweifeln, dass etwa gerade erst im März 2020 eine junge Frau aus Guatemala beim Sturz von dieser Mauer gestorben ist: nicht auf dem furchtbar beschwerlichen und gefährlichen Weg aus ihrem Heimatland zu dieser Grenze, nicht jenseits der Grenze in Armut oder in einem Käfig, sondern durch das an sich scheinbar so hohle und lächerliche Symbol selbst. Mauern und Zäune töten, das sagt nicht nur der lyrische Instinkt in Robert Frosts Gedicht und die Erfahrung an den Grenzen der reicheren Welt – es ist im ganz Kleinen auch der erste Impuls derer, die sich über ein Architekturmodell beugen und sich fragen, was ihnen hier so besonders gut gefällt, und dann merken sie es: Ach, schau mal, diese Offenheit, diese Freiheit, da zäunt sich keiner ein, da bedroht keiner die Nähe und die Gemeinsamkeit.
Spatz im Zaun (Bild: PD, via pixabay.com)
Das Gute jenseits des Zauns
Was aber, wenn gerade die Abgrenzung überhaupt erst Gemeinsamkeit ermöglicht? Zum Refrain der Land- oder Vorstadtleben-Verklärung gehört das Bild von Nachbarn, die sich hier „am Gartenzaun“ oder „über den Gartenzaun“ unterhalten würden. Dieses Bild ist zu einem Symbol geworden für Hilfsbereitschaft, Austausch und Gemeinschaftlichkeit auf kleinster Ebene, in unmittelbarer Nähe von Menschen, die nichts zueinander gebracht hat als die Zufälligkeit ortsidentischer Geburt oder benachbarter Immobiliennutzung. Das Bild, wie sie miteinander reden und sich unterstützen, ist nicht so richtig denk- und aussprechbar ohne den Gartenzaun, der einerseits garantiert, dass jede und jeder immer noch seins, ihrs hat, man im winzigen Niemandsland „am“ oder „über dem“ Gartenzaun aber eine Nähe finden kann, die ohne den Zaun womöglich verlegen machen würde oder unangenehm, weil unstrukturiert wäre.
Das perfekte Bild hierfür hat in den 1990er Jahre eine wiederum US-amerikanische Fernsehserie gefunden, „Home Improvements – Hör mal, wer da hämmert“, wo in neun Staffeln nie das Gesicht des weisen und freundlichen Nachbarn Wilson zu sehen war, dem sich die Hauptfigur Tim stets nur am und über den Gartenzaun anvertrauen konnte, während dieser Gartenzaun das Gesicht Wilsons größtenteils verdeckte. Ohne den Zaun, verstand man sofort, hätten die beiden einander nie so nahe kommen können, obwohl der Zaun doch eigentlich dafür gedacht war, sie voneinander fernzuhalten: der Zaun also nicht als Kontaktsperre, sondern vielmehr als paradoxer Kontaktstifter.
Gabionen (Bild: PD, via piqsels.com)
Freiheit hinter Gabionen
So widersprüchlich und paradox im Übrigen, wie Mauern und Zäune zu Zeiten der Ausgangssperre, des lockdowns, der sozialen und physischen Distanziertheit: Wo das alltägliche Leben von einer Woche auf die nächste plötzlich von Begrenzungen bestimmt wird, haben nur noch jene ein gewisses Maß an Freiheit, die sich rechtzeitig abgezäunt haben. Die Wände der Etagenwohnung um- und verschließen eine auf Dauer enge Welt, während alle, die ihren Jägerzaun, ihre Gabionen oder ihre Mäuerchen um Gärten, Terrassen und Sondernutzungsflächen gezogen habe, hier wenigstens noch ins Freie treten und für Momente die Illusion genießen können, es gäbe keine Sperren.
Titelmotiv: Wilson aus “Hör mal, wer da hämmert” (Bild: Screenshot, via newkidandtheblog.de)
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Inhalt
LEITARTIKEL: Machen Zäune gute Nachbarn?
Till Raether über ein grenzenloses Leben.
FACHBEITRAG: Der PO-2, eine russische Legende
Jiří Hönes über ein Beton-Zaun-System.
FACHBEITRAG: Mythos Mauer
Johannes Medebach über zwei Seiten einer Grenze.
FACHBEITRAG: Der Jägerzaun
Peter Liptau über die deutscheste aller Einfriedungen.
PORTRÄT: Schallschutz mit Dackel
Karin Berkemann über Gestaltungsruhe für alle.
INTERVIEW: “Ein pervertierter Ordnungswahn”
Ulf Soltau über die “Gärten des Grauens”.
FOTOSTRECKE: Zaunzeuge
Walter Schütz über die Schönheiten der Vorstadt-Einfriedungen.